Glas Forum

Hegel hissen

Glas lesen

Peter Krapp



Jacques Derrida, Glas. Paris: Galilée 1974



Wie jetzt? Glas lesen? Die prinzipielle Schwierigkeit, so steht in Glas selbst bereits zu lesen, ist die Uneinheitlichkeit seiner Form, der Mangel an identifizierbaren Themen, oder als solcher bestimmbarer Elemente. Wenn aber die Maschine, so Derrida wörtlich, nur Worte und Themen in Glas auswählen würde, könnte sie wohl alles auf drei, dreieinhalb Seiten zusammenfassen; einen solchen - ironischen - Versuch stellt mein Glasweb dar, das sich zudem als die beste Form der Dokumentation einer kurzlebigen Konstanzer Glas-Lesegruppe erwies und sich u.a. aus email-Kontakt zur Derrida-Liste (Tampa/Florida) ergeben hatte. Seit 1994 hat sich nun viel getan, Glas war damals 20 Jahre alt und schien in Deutschland vergessen. Zwar ist eine deutsche Übersetzung immer noch nicht in Arbeit, aber während wir uns dem 25jährigen Jubiläum nähern, hat sich wenigstens die Möglichkeit des Austauschs mit anderen interessierten Gruppen ergeben - via Internet, email, und Hypertext.

George Landow ist nicht der erste, aber wohl der bekannteste Propagandist einer Konvergenz von Hypertextualität und den literaturtheoretischen Mikrologien der letzten drei Jahrzehnte. Eines der merkwürdigsten und zugleich beliebtesten Beispiele für diese These ist Jacques Derridas Glas. Seit seinem Erscheinen beinahe zeitgleich mit dem Personalcomputer gilt Glas als gleichermaßen hypertextuell wie unlesbar. Seine zwei Kolumnen beginnen und enden mitten im Satz, sind durchlöchert von Einsprengseln, zitieren eine große Zahl von philosophischen und literarischen Texten, manchmal satztechnisch abgesetzt, manchmal nur in Anspielungen. Der Balanceakt zwischen Hegel auf der linken und Genet auf der rechten Seite bleibt unreduzierbar auf Themen, Kontraste, oder Thesen.

"Was, nach alldem, vom Rest, heute, für uns, hier, jetzt, von einem Hegel?", so beginnt es, und zugleich, in Anspielung auf einen Text ähnlichen Layouts von Jean Genet: "Was blieb von einem in kleine, sehr gleichmässige Quadrate zerrissenen und ins Klo gestopften Rembrandt  ist zweigeteilt. Als Rest." Was bleibt zu lesen von Glas, beinahe ein Vierteljahrhundert später, hier und jetzt? Das rigorose Denken des Restes zwischen Hegels Aufhebung und Genets exkrementaler Zerschreibung assimiliert, speichert, aber fällt hinter den Rest zurück - und läßt fallen. (1b und 150b) Im selben Moment, in dem man es zu dechiffrieren, zu kommentieren, zu lesen glaubt, wird man selber gewissermaßen vom Rest her beobachtet, heißt es. Wie wäre denn Glas zu lesen, ohne die Resistenz des Restes zu überdecken? "Es gibt immer bereits mehr als ein Glas, oder kein Glas" (170bi), heißt es da; und "die Klinge, die die Texte zerschneidet, ist zugleich die Klammer, die sie hält". Man müsse Glas demnach als "singularen Plural" lesen - es berge seinen eigenen Ruin in sich.

Das Projekt einer Glas-Lesegruppe, wie es verschiedenenorts immer wieder neu ansetzt, scheint per se eine Unmöglichkeit - doch gilt die Unmöglichkeit ja bereits als das erklärte Anliegen der Dekonstruktion (vgl. Derrida, Résistances, Paris: Galilée 1996, 66). Daß Glas eine Textmaschine ist, bleibt jedenfalls ein ernstzunehmener Lektüre-Vorschlag; ob Glas zu Recht oder zu Unrecht von den Medientheoretikern unter die Ahnen des Hypertext eingereiht wird, bleibt noch zu klären. Lassen wir diese Vorbemerkungen, hier und jetzt, zerfallen in einer letzten Drehung: wenn dieser Text als solcher auf dem Netz verfügbar ist, wie auch so manch andere (man vergleiche meinen Bericht im Verstärker 1/1996, "Lesegruppe - Glasreste", sowie meine Bibliographie hier), dann vor allem deshalb, weil wir hoffen, daß das Interesse an Glas weiterhin wächst.



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