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Brigitte Weingart interviewt Laurence Rickels

TEENAGE WERWOLF

Eine Kurzversion dieses Interviews erschien in SPEX 10/1997


"Theorist/Therapist" steht auf der Visitenkarte von LAURENCE A. RICKELS, Professor für German und Film Studies an der University of California Santa Barbara. Ein Ergebnis dieses Double feature ist The Case of California, wo nicht nur Kalifornien auf der Couch liegt (Kurzdiagnose: outside happy face, inside suicide). Nach Rickels' Doppelküstenlogik liegt der 'heiße Ofen' (Caliente fornalla: Brockhaus' Etymologie) nämlich am anderen Ende von Deutschland. BRIGITTE WEINGART sprach mit Rickels über seine Schwäche für die Jugend, über Career Studies und sein neuestes Projekt Nazi Psychoanalysis.

"High-Low There!" - Laurence Rickels mit einem, diesem, Zitat zu begrüßen, wäre ein doppelt raffinierter Wink gewesen: Einerseits ist ich-hab's-gelesen-Komplizenschaft sowieso fast unvermeidlich. Das hängt vor allem mit Rickels' Versuch zusammen, den psychoanalytischen Diskurs und das Dabeisein "wenn nicht bei der Psychoanalyse, dann bei irgendeiner Therapie, support group etc., was in Kalifornien gängig ist", in seine Texte hineinzunehmen. Idealerweise entspricht also die Lektüre der Situation in session.

Was anderseits den Hoch-Tief-Aspekt angeht, ist Rickels ein virtuoser Verknüpfer von Popkultur, Mediengeschichte und dem, was klassischerweise als 'Hochkultur' figuriert - allerdings in Absetzung von gängiger Cultural-Studies-Manier. Ein Hauptthema ist die Trauer bzw. Untrauer, als das, was Massen und Medien so gespenstisch macht: Freud, der in Totem und Tabu wiederkehrende Untote als unbetrauerte Tote identifizierte, hat wegen seiner Vorstellung vom Psychischen als Apparat häufig mit technischen Analogien gearbeitet. In Aberrations of Mourning: Writing on German Crypts (1988) schreibt Rickels die Verbindung von Medien mit dem Unbewußten weiter: Wie Gespenster sind sie recycelte Todeswünsche, die den Empfänger fernsteuern. Diese Übertragung verläuft so wenig störungsfrei wie die Trauerarbeit oder die Sitzung - Erfahrungen von disconnection, die Freud zu seinen Einsichten über Technologisierung gebracht haben.

In The Case of California (1991) wird die Verbindung von (Un-)Trauer und Technologie auf Massenbeziehungen hin erweitert. Adornos Pathologisierung der Masse als Untrauer-Symptom läuft hier auf ambivalente Weise mit - wie man sich überhaupt nie ganz sicher ist, ob bei Rickels kulturpessimistische Topoi weitergeführt oder auseinandergenommen werden. Der unfreiwillige kalifornische Todeskult tarnt sich als Technikfetischismus, Körperkult oder Obsession für das Thema Kindesmißbrauch. Als Medien- und HighTech-Standort muß sich Kalifornien unaufhörlich mit der Produktion von "liveness" beschäftigen, um sich seiner Lebendigkeit zu vergewissern.

Für die deutsch-kalifornische Connection ist zum Beispiel der Registerwechsel der Frankfurter Schule-Exilanten symptomatisch. Mit 'Hollywood' vor der Tür setzt für die vom nazistischen Medien-Blitz traumatisierten Exil-Kalifornier Adorno und Horkheimer eine Übertragung ein, die den Abstand zwischen Deutschland und Kalifornien zusammenschnurren läßt: Kulturindustrie vorgespult wird zum Schauplatz des totalen Kriegs, den sie verlassen mußten - "tech-no-future".

Die "totalen Kalifornier" Kafka und Thomas Mann unterhalten eine andere Beziehung zur Westküste; sie sind beteiligt am Experiment der "ewigen Jugend". Mit body buildung, gadget love, hysterischem Groupietum und Gruppentherapie liefern Kaliforniens Symptome Rickels massig Anschauungsmaterial für eine Theorie der Jugend, die an den Rändern oder Küsten des Freudschen Korpus bereits angelegt ist: "Es gibt in der Psychoanalyse keine wirkliche Theorie zur Teenager-Zeit; ich habe eben freudianisch gedacht, daß das deshalb als Verdrängtes überall da sein muß. Und über die späten Essays über weibliche Sexualität, Perversion und Massenpsychologie habe ich versucht, das 'rauszuholen." Seine Lektüre von Freuds Gruppen- als Jugendgruppen-Psychologie relativiert die in der Psychoanalyse vorherrschende Fixierung auf das ödipale Dreieck Vater-Mutter-Kind, die unterschlägt, daß der Teenager von der Clique ferngesteuert wird: Er/sie ist ziemlich hin- und hergerissen zwischen Paar und peer group und muß daraus so etwas wie eine Identität mixen. Die Clique zettelt die Paarbildung zwar an; Paare sind die 'Genitalien der Gruppe', die sich nur vervielfältigen, aber nicht reproduzieren kann. Weil sie den Kupplifizierten gleichzeitig aber äußerst skeptisch gegenübersteht und sie in ihre Reihen zurückbewegen will, entsteht eine Spannung zwischen Gruppe und Paar, und the teen steht entsprechend unter Strom. Und das hört nie mehr so richtig auf... Ewig Jugendliche arbeiten sich dann an dem Paradox ab, so individuell zu sein wie die anderen. "The adolescent likes to be different - like everybody onLoad="if (self != top) top.location = self.location;" he likes (to be like)."

Q: Du bearbeitest das Terrain "adolescence" eigentlich doppelt: einerseits eher diskursanalytisch, was das Reden über und die Konzeptualisierung von Jugend angeht, andererseits gibt es darin ja auch eine Referenz auf das Phänomen...

A: Auf die Sprache der Jugend. Ich habe versucht, eine Sprache aufzubauen, die zwischen Diagnostik und Performativität schwebt. Und die auch eine Verbindung hat, wenn man das analogisieren möchte, mit dem Fall eines sogenannten borderline psychotics (Anm. 1), der zwischen Neurose und Psychose steht, und zu allem Rauschen und Überhörten, was aus den Medien kommt, also Popsongs, Reklame, Headlines. In all unseren Leben ist dieser Stoffwechselversuch zuerst sichtbar oder hörbar in unseren Teenage-Sprachen, wo man ja Sprachen erfindet. Diese ganze Idiomatik interessiert mich, hauptsächlich als der erste Versuch, zu verarbeiten, daß man in einer technischen oder massenpsychologischen Welt lebt.

Q: Hierzulande geht die Aneignung von Jugend und ihren Bewegtheiten mit einer Obsession für Popkultur und ihre Ausdrucksweisen zusammen. Nachdem ein bestimmter Fanjournalismus sich daran abgearbeitet hat, eine Art von Instantantranszendenz beschreibbar zu machen und gleichzeitig als Geheimwissen zu behandeln, halten emphatisch als 'Off' codierte Sprechweisen Einzug in academia und sogenannte Mainstream-Medien: Pop-Kolumnen in den Feuilletons. Eine Variante von Berufsjugendlichkeit hast du Midlife Criticism genannt...

A: Pop wird wiedereingeführt gerade von den Midlife-Leuten. Wir waren Teenager, als Pop zum ersten Mal erwähnt wurde. Es ist die typische Kolonialisierung und der Versuch, die eigene Vergangenheit auf dem Körper des jetzigen Teenagers zu verstehen. 'Jugend' ist die Institution ihrer Wiederherstellung und ohne midlife crisis nicht zu denken. Mit 40 ist man entweder Philosoph, weil man den Körper irgendwie gesund gehalten hat, oder man ist im Vergehen.

Q: Hat dieses Phantasma eine 'reelle' Entsprechung?

A: Ja, midlife wird mehr und mehr die Zeit des Überlebens. Ich habe 'mal, noch in meinen Dreißigern, eine Lebensversicherung angeboten bekommen: Je älter man wird, je billiger werden die Prämien, weil dann gerechnet wird, daß man soundso viel Katastrophen überlebt hat und irgendwie länger leben wird. Adoleszenz ist wirklich ein Laborexperiment für die Leute, die es bis zum midlife geschafft haben. In Frankreich oder in Amerika z.B. - ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist - ist man als Midlife-Patient eher berechtigt, neue Organe zu bekommen: Man rechnet nicht mehr mit Katastrophen wie einem Autounfall oder was auch immer, wie bei jungen Leuten, und deshalb bekommt der Überlebende dann eine neue Leber oder Lunge. Die Jugend wird, mehr und mehr, streng auf Gesundheit ideologisiert, damit die Organe frisch bleiben (lacht). Das gab's eigentlich noch nie, daß Leute mit 18 daran denken mußten, ob das, was sie einnehmen, giftig ist oder nicht. Es gehörte doch zu diesem Konzept, daß man in der Jugend irgendwie immun war. Doch jetzt ist man immer im Training. Und wenn man Glück hat und das Jahr 40 erreicht, setzt sofort recovery, die Wiederherstellung, ein.

Q: Kannst du das Ressentiment konkretisieren, daß in deinem simulierten Versprecher "career, I mean queer studies" manifest wird?

A: In Cultural Studies, und verschiedenen Arten von Feminismen, Queer Studies oder Multicultural Studies, konzentriert man sich sehr schnell auf das Neue und distanziert sich von der Psychoanalyse, obwohl diese Unternehmungen ohne Psychoanalyse immer undenkbar sind. Ich halte diese Art von Verleugnung für pathogen, gerade in dieser Zeit des Umbruchs, wo der Marxismus angeblich verschwindet, und eigentlich nur die Psychoanalyse als Institution und Diskurs weiterbesteht. Die Verbindung mit Freud wird jetzt betontermaßen mehr und mehr verschrieen, oder verneint oder verleugnet, und darin sehe ich das Spuken von Marxens Verschwinden: in Cultural Studies und all diesen Studies, die angeblich das Soziologische oder Marxistische mit dem Psychoanalytischen verbinden wollen. Das war ja früher die unmögliche Ehe zwischen den zwei Diskursen, an deren Couples Therapy wir alle so lange gekaut haben.

Das Riesen-Wachstum der Multi/Cultural Studies soll die Theorie - das heißt auch die Institution, mit der man es in der Psychoanalyse zu tun hat - ersetzen. Aber man könnte es historisch vielleicht so verstehen, wenn man etwas positiver sein will, daß man jetzt erst phänomenologisch oder akribisch, in Amerika zumindest, die unterschiedlichen Subjekte und Personen einmal wahrnimmt, bevor man die Theorie startet. Der Positivismus ist ja immer eingebracht worden, wo man noch keine Tradition oder keinen Kanon hat. Obwohl ich nicht davon überzeugt bin, daß man erst positivistisch oder dumm oder häßlich sein muß, um nachher denken zu können.

Q: Hier werden Cultural Studies nicht als theoriefern wahrgenommen, im Gegenteil: Wir beneiden die amerikanische Uniszene gelegentlich um die Verbindung von Popkultur und Theorie. Apropos Psychoanalyse-Rezeption finde ich es auffällig, daß hierzulande gerade jemand wie Theweleit den Grenzgang zwischen academia und ihrem Anderen schafft.Was privilegiert Psychoanalyse für den Diskurs über Popkultur?

A: Zusammen mit der Dialektik der Aufklärung habe ich immer wieder behaupten wollen, daß, wenn es so etwas wie eine Geschichte des Unbewußten gibt, sie mit den Texten aus dem 18. Jh. anfängt, die Freud so gründlich gelesen hat. Das ist hauptsächlich Goethe; die Goethe-Freud-Verbindung ist sehr interessant. Werther ist so etwas wie eine Erfindung von Teen Age, zusammen mit den Suizidtendenzen, die nur als Massenphänomen weitergegeben werden können. Und gleichzeitig hatte dieser Text so eine bestimmte Tablettendynamik: Ob in Frankenstein oder Triumph der Empfindsamkeit [auch von Goethe] - dieser Text kam immer in Roboter hinein. Einerseits Suizid, andererseits Vervielfältigung (replication) : der erste Klartext über adolescence. Das war der Anfang einer bestimmten Kultur, die wir nur von der Psychoanalyse her angehen können.

Theweleit ist eigentlich selber nicht unbedingt analytisch; er arbeitet mit analytischen Konzepten. In den letzten Büchern hat er ja seine Situation eigentlich dargestellt: Er hat eine Analytikerin geheiratet (lacht). Das ist seine Paarstrategie. Er zeigt eben, daß man früher gute Cutterinnen heiratete oder was auch immer, und heute heiratet der Denker irgendwie die Analyse. Derridas Frau ist auch Analytikerin - das ist die neue Techno-Vibe, ein techno-outlet, das man unbedingt dabei haben muß... Und ich hab' das einfach als group-of-one gemacht.

Q: Worum geht es in deinem neuen Buch über Nazi Psychoanalysis?

A: Die letzte Arbeit ist wirklich ein Versuch über das, was Freud die "Unterwelt der Psychoanalyse" nannte. Ich will verstehen, wo die unheimliche Kontinuität ist, was das war: Psychoanalyse in der Nazizeit. Ich riskiere da vieles, was tendenziös erscheinen könnte; Theoretiker haben nicht darüber schreiben wollen, weil es so aussieht, als müsse man der Psychoanalyse irgend etwas vorwerfen. Mich interessiert, wie der Einfluß von Freud weiter wirkte, der in den 20er Jahren sehr, sehr stark war. In der Vor-Nazizeit war die Psychoanalyse so ein Mediending, wie das heutzutage in den Staaten der Fall ist. Ich habe mir verschiedene Psychotherapie-Zeitschriften angeschaut: Die Therapeuten, die darin schrieben, waren alle auch in großen Zeitungen zu lesen: über Hysterie, über Probleme beim Kinderkriegen - all diese Themen, die sich bei den Nazis dann potenziert haben. Sie wurden immer psychoanalyse-kompatibel erklärt und erzählt. Die Psychoanalyse hatte ganz einfach den den 1. Weltkrieg gewonnen: 1918 wurde Freuds Wissenschaft als die erfolgreichste Therapie für die Behandlung von Kriegsneurotikern anerkannt. Erst damit breitete sich der Einfluß der Analyse entschieden durch alle Institutionen des psychologischen Eingriffes aus. Und dieser Einfluß hörte nicht auf in der Nazi-Zeit -

Q: - entgegen der gängigeren Auffassung, daß die Psychoanalyse ins Exil gedrängt wurde, und die nazistische Psycho-Forschung sich anderer Methoden bediente.

A: Ja. Und darum beschränke ich mich nicht auf diese komische, erbärmliche und später merkwürdig verdrängte Kontinuität der paar Analytiker von der Arbeitsgruppe A (Anm. 2), sondern betone die existierenden Einflüsse, vor allem in der Militärpsychologie und in der Psychotechnik. Da finde ich z.B. Aufsätze über psychotechnische Verhältnisse zwischen dem Piloten und seiner Maschine, die alles Postmoderne über Technik vorwegnehmen. Wie der Narzißmus auf die Maschine verlegt wird, wie die Traumen gerade in dieses Verhältnis einschneiden, usw. - das ist eine Erweiterung von Freuds Prothesentheorie (Anm. 3), aber durchaus auf dessen Wellenlänge. Was man von Freud über Kriegsneurosen wußte, wurde zwischen den beiden Kriegen weiterverwendet und für die psychologische Kriegsführung eingesetzt. Eine bestimmte deutsche oder nazideutsche Art, die Technik zu verstehen, und gleichzeitig diesen psychoanalytischen Rahmen zu verdrängen, gehört zur Tradition der Psychoanalyse in Deutschland. Ohne Psychoanalyse wären auch Leute wie Virilio usw. nicht auf ihre Thesen gekommen. Und sie verdrängen - eigentlich noch mehr, als es die Nazis tun mußten - diesen Bezug zur Psychoanalyse.

Eine andere Sache, die Nazi-Deutschland betrifft und innerhalb der Geschichte der Psychoanalyse so komisch verstellt rezipiert wird, ist die Eklektisierung: Es wird häufig angenommen - ich weiß nicht, wie das in Deutschland heute ist, aber jedenfalls bei uns -, daß die Versuche verschiedener Psychotherapien und Schulen, sich von der Psychoanalyse zu distanzieren, tatsächlich eine Distanz bedeuten. Für mich ist das eine evidente Entwicklung der Analyse selber: Jede Psychotherapie, die sich psychodynamisch weiterentwickeln will, gehört immer schon zur Psychoanalyse. Die Analyse ist nichts, was nur von wenigen Orthodoxen gemacht wird. In jeder Reklamepsychologie, würde ich sagen, vor allem aber in jeder Psychotherapie, ist Freuds 'Revolution' immer wieder mitzulesen.

Q: Hast du in deinen historischen Analysen etwas über den deutschen Widerstand gegen Psychoanalyse (auch in den sogenannten Geisteswissenschaften) herausgefunden?

A: Mitscherlich wäre für mich die Fallgeschichte der deutschen Rezeption. Er selber kam aus der Psychosomatik, und das heißt eigentlich aus der Nazi-Psychoanalyse, also aus dieser eklektischen Mischung zwischen den verschiedenen Psychotherapien, Medizin, Psychatrie usw., und Analyse. Psychosomatik wurde in der Nazizeit von Victor von Weizsäcker u.a. zum ersten Mal groß formuliert, und Mitscherlich ist wirklich Erbe davon. Aber statt sich daran zu erinnern, hat er sich hingestellt als jemand, der Freud wiedereinführt. Noch als er [1959] das Frankfurter Sigmund-Freud-Institut gründete, war Mitscherlich nicht Analytiker. Er wollte einfach dafür stehen, daß er Freud sei, aber es war diese sehr projizierte, idealisierte Auffassung von Freud, die er nötig hatte, weil er mit dieser Nazi-Vergangenheit der psychoanalytischen Therapie nicht klar kam. Es ist häufiger festgestellt worden, daß Ost-West-Deutschland kein Zufall war: Diese faschistische Art von Spaltung, die man Deutschland nach dem 2. Weltkrieg schenkte, entsprach ja der Weise, wie alles aufgefaßt wurde. Vieles konnte einfach über die Spaltung verschwinden, als ob man nicht drin war im Diskurs.

Q: Später hatte Mitscherlich doch, zusammen mit Margarete Mitscherlich, seinen großen Take Off mit der These, die Deutschen hätten nach 45 die Trauerarbeit verweigert - und zwar vor allem die um das verlorene Ich-Ideal 'Hitler'. Die Verdrängung des NS-Regimes, mit der eine Massenmelancholie verhindert wurde, wäre ein solcher Energieaufwand, daß für die Trauer um die Opfer nichts übrig bliebe.

A: Genau. Da hat er wirklich etwas sehr Pathogenes eingeführt, denn das setzt absolut voraus, daß man sich über eine bestimmte Spaltung nie mit dem Opfer identifizieren könne. Ich sag's auch in dem Buch: Gerade Hitler ist nie ein Objekt im psychoanalytischen Sinne, er ist höchstens ein Medien- oder Massengeist, ein Gespenst. Mitscherlichs Behauptung, daß es keine innerweltliche Beziehung zu den Opfern gab, ist selber Symptom einer Spaltung. Und wer die Trauer so einführt: 'Hitler war Ich-Ideal, man muß um ihn trauern...', verdrängt oder pathologisiert den Widerstand, der bei dieser Vorstellung bei jedem Teenager aufkommen muß!

Q: Wenn die Diagnose stimmt, daß Psychoanalyse überall war und ist, eben auch in Nazi-Praktiken, wie kann man dann damit arbeiten?

A: Ich tue in diesem letzten Buch so, als ob "the healing can begin" - als könnte endlich etwas zu Ruhe gelegt werden, weil es jetzt innerhalb der Analyse stattfindet: verschiedene Aspekte der Nazi-Problematik, Science Fiction, etc. Freud hat schon in die Richtung gewiesen, als er in den 30er Jahren meinte, Antisemitismus sei in erster Linie Widerstand gegenüber der Psychoanalyse. Indem ich das wieder in die Psychoanalyse hineindränge, hoffe ich, daß sich so etwas wie eine Übertragungsneurose bilden könnte, die klein genug ist, um kurierbar zu sein. Freud hat die Leistung der Übertragungsneurose zuerst als eine Art Impfung beschrieben: eine kleinere Version von dem wirklich großen Problem, das man nie behandeln kann. In der Sitzung entsteht in der Übertragung etwas, was man behandeln kann, was schon in der Behandlung ist, und das impft einen gegen das andere große Problem, das außerhalb liegt und nie zu bearbeiten ist. Das ist das sogenannte Positive daran, daß die Psychoanalyse gottseidank überall war: Es bleibt unsere einzige Hoffnung für eine Impfung in Zukunft.



1. Borderline psychotic bezeichnet den Grenzfall, der zwischen Psychose und Neurose oszilliert: Eine psychotische Struktur wird abgewehrt, indem die ihr zugrundeliegende Störung abgespalten und an einem anderen Schauplatz ausgetragen wird, ohne daþ es notwendig zu 'Realitätverlust' kommt (z.B. durch Acting out). Mittels des psychoökonomisch kleineren Übels neurotischer Symptome wird der psychotische Zusammenbruch in Schach gehalten. - Zurück zum Text.
2. Die "Arbeitsgruppe A" war die Psychoanalyse-Fraktion am Deutschen Institut f¸r Psychologische Forschung und Psychotherapie (unter Göring, Cousin des Reichfeldmarschalls), in das 1936 das Berliner Psychoanalytische Institut verwandelt wurde. - Zurück zum Text.
3. Als "eine Art Prothesengott" bezeichnet Freud 1930 in Das Unbehagen in der Kultur den 'zeitgenössischen' Menschen, der mit Hilfe einer kompletten medientechnischen Apparatur versucht, gottähnlich zu werden. - Zurück zum Text.



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