Der Rechtsanspruch auf die Philosophie

in weltbürgerlicher Absicht

Jacques Derrida

(Einleitungsvortrag anläßlich einer von M. Sinaceur
im Rahmen der UNESCO organisierten Konferenz am 23. Mai 1991)
Vendome (Editions UNESCO Verdier PUF) 1997

[ en français - in English ]

Hinsichtlich der Grundsatzerklärung unseres internationalen Kolloquiums ergibt sich eine Problematik, die uns exemplarisch zumindest zweierlei Zugangsweisen aufzwingt: Der inter-institutionelle Zugang, der einerseits von den Universitäten oder den Forschungsinstituten und andererseits von den internationalen kulturellen Institutionen (Regierungs- oder Nicht-Regierungsorganisationen) ausgeht, der interdisziplinäre Zugang, der ausschliesslich zwischen der Philosophie, den Künsten, den Naturwissenschaften und den Humanwissenschaften besteht, wobei mit Philosophie hier zugleich eine Disziplin gemeint ist, die Anteil an den Humanwissenschaften hat und eine Disziplin ist, die sich anmaßt, die Axiomatik der Humanwissenschaften, besonders das Problem ihres Humanismus oder ihres vorgeblichen Universalismus, zu denken, zu erarbeiten, zu kritisieren. Die Fragestellungen dieser beiden Zugänge oder Verhältnisse bildet den Hintergrund der bescheidenen vorläufigen Überlegungen, die ich Ihnen heute vorlegen möchte.

Ich beginne mit der Frage nach dem Wo?

Nicht direkt mit der Frage nach dem Wo sind wir? oder An welchem Punkt stehen wir?, sondern Wo hat der Rechtsanspruch auf die Philosophie seine Stelle?, was sich sodann in die Frage übersetzen läßt: Wo muß sie ihre Stelle haben?

Wo hat sie heute ihre ureigenste Stelle? Gerade die Form der Fragestellung gegenüber einem Subjekt, einem Thema, das in Frage steht, also: Wo?, An welcher Stelle kann eine solche Frage ihre Stelle haben? unterstellt, daß es zwischen der Frage und der Stelle, zwischen der Frage nach der Frage und der Frage nach ihrer Stelle eine Art impliziten Kontrakt gibt, eine mutmaßliche Affinität, gemäß der eine Frage immer im voraus von einer Stelle aus autorisiert, zuvor schon legitimiert werden müßte durch einen bestimmbaren Raum, der ihr zugleich Recht und Sinn verleiht, sie dadurch allererst möglich und im selben Moment notwendig, zugleich legitim und unausweichlich macht. Im französischen Sprachgebrauch - und schon der Gebrauch dieses Idioms, die faktische Autorität dieses Idioms, bringt uns die Frage nach der Weltbürgerlichkeit in Erinnerung und sie allein würde uns schon diese Frage gebieten - würde man sagen, es gibt Stellen, wo diese Frage zu stellen eine Statt hat, d.h. daß diese Frage dort nicht bloß rechtlich möglich und autorisiert, sondern notwendig, ja sogar zwingend vorgeschrieben ist. An solchen Stellen oder Stätten kann und muß eine solche Frage, z.B. diejenige nach dem Rechtsanspruch auf die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht, statthaft sein.

Die UNESCO zum Beispiel wäre demnach die bevorzugte Stelle, vielleicht im Grunde sogar, ich sage es nicht aus Konvention und keineswegs bloß aus Höflichkeit gegenüber unseren Gastgebern, die einzig mögliche Stelle, an der die Frage, die uns heute versammelt und deren Autorität in gewisser Weise in ihrer Form selbst das Siegel dieser Institution trägt, wirklich zu entfalten wäre; sie erhält durch sie aus prinzipiellen Gründen sowohl ihre Antwort wie auch ihre Verantwortung, als ob die UNESCO mit ihrer Abteilung Philosophie, um es mit in einem Wort zu sagen, die singuläre, wenn ich so sagen darf, Emanation dieses Etwas von der Philosophie wäre, als ein Rechtsanspruch auf die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht, eine einzigartige Emanation, um mich hier zu wiederholen, als ob eine Quelle - und die Emanation ist immer diejenige einer Quelle - zur Quelle zurückfände. Die UNESCO ist vielleicht aus einer Haltung eines Rechtsanspruchs auf die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht heraus geboren worden. Ihr geziemte es eigentlich, auf diese Frage nach diesem Recht zu antworten, indem sie auf diese Frage antwortet. Die UNESCO trüge somit zugleich die Antwort auf und die Verantwortung für diese Frage. Warum? Warum sollte also die UNESCO gemäß ihrer eigenen Bestimmung, gemäß der Mission, der sie sich verpflichtet hat, diejenige Institution sein, die heute im wahrsten Sinne des Wortes berufen wäre, diese Frage zu stellen, ihr gleichfalls zu ihrem Recht zu verhelfen, aus einer solchen Erarbeitung die praktischen Lehren zu erarbeiten und zu ziehen? Der Titel meines Vortrags spielt offen auf den berühmten Titel eines großen kleinen Textes von Kant an, der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), im Französischen: Idée [en vue] d'une histoire universelle au point de vue cosmopolitique. Dieser kurze Text gehört, wie wir alle wissen, zu der Gesamtheit der Schriften Kants, die, so kann man sagen, eine gewisse Zahl von internationalen Institutionen ankündigen, d.h. zugleich vorhersagen, andeuten und vorschreiben, die erst in unserem Jahrhundert das Licht der Welt erblickt haben - die meisten davon erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Institutionen, wie etwa die Idee des internationalen Rechts, die sie ins Werk zu setzen beabsichtigen, sind schon Philosopheme. Es sind philosophische Akte und Archive, philosophische Produktionen und Produkte, nicht nur weil die Konzepte, die sie legitimieren, eine ausweisbare Philosophiegeschichte und demnach eine philosophische Geschichte besitzen, die sich in der Charta oder in der Konstitution der UNESCO eingeschrieben findet; sondern weil im selben Moment und gerade von daher solche Institutionen die Teilhabe an einer philosophischen Kultur und Sprache implizieren, die davonausgehend durch die Erziehung den Zugang zu dieser Sprache und zu dieser Kultur allererst möglich macht. All die Staaten, die Mitglieder der Chartas dieser internationalen Institutionen sind, haben sich im Prinzip philosophisch verpflichtet so etwas wie Philosophie und so etwas wie eine gewisse Rechtsphilosophie, Menschenrechte, Universalgeschichte etc. anzuerkennen und wirksam umzusetzen. Die Unterzeichnung dieser Chartas ist ein philosophischer Akt, der philosophisch zur Philosophie verpflichtet. Dementsprechend gehen diese Staaten und Völker, ausgesprochen oder unausgesprochen, wissentlich oder nicht, sich konsequent oder inkonsequent verhalten, kraft ihrer Mitgliedschaft zu diesen Chartas oder kraft ihrer Teilnahme an diesen Institutionen, eine philosophischen Verpflichtung ein und haben sich verpflichtet, die Kultur und das Bildungswesen zu gewährleisten, die philosophisch unerläßlich sind für die Vernunft und für die wirksame Umsetzung dieser Verpflichtungen gegenüber den internationalen Institutionen, die, ich wiederhole es, ihrem Wesen nach philosophisch sind (was manche, ich erwähne dies nur am Rande, als eine unvollendete Ouvertüre interpretieren, andere als eine Schranke der Universalität selbst, wenn man beispielsweise in Betracht zieht, daß ein bestimmter Begriff von Philosophie und selbst der des philosophischen Weltbürgertums, des internationalen Rechts also, eine allzu europäische Sache sei - doch das ist eine Problem, das zweifellos im Laufe der Diskussionen auftauchen wird). Was ist die konkrete Spieleinlage in der heutigen Situation? Weshalb müssen sich mehr denn je die großen Fragen des Bildungswesens und der philosophischen Forschung, weshalb der Imperativ des Anrechts auf die Philosophie auf internationaler Ebene entfalten? Weshalb bleiben die Verantwortlichkeiten, die im XXI. Jahrhundert zu übernehmen sind, nicht länger, und das weniger denn je, heute und auch morgen weniger denn je einfach bloß national? Was bedeutet hier "national", "international", "weltbürgerlich", "universal" für und bezüglich Philosophie, der philosophischen Forschung, der philosophischen Erziehung und Ausbildung, d.h. hinsichtlich einer philosophischen Frage oder Praxis, die nicht von ihrem Wesen aus an die Forschung oder an die Erziehung anknüpfte? Ein Philosoph ist immer einer, für die die Philosophie nicht selbstverständlich, nicht geschenkt ist, jemand, der sich im wesentlichen über das Wesen und die Bestimmung der Philosophie befragen muß. Und sie wieder-erfinden muß. Man muß sich diese Tatsache ins Gedächtnis rufen, selbst wenn sie trivial oder allzu evident erscheinen mag; denn darin liegt ein Umstand und eine Aufgabe, die einzigartiger sind, als sie scheinen; und das kann zu furchtbaren praktischen Konsequenzen führen. Die Existenz solcher Institutionen wie die der UNESCO, d.h. internationaler Institutionen, die nicht nur eine Philosophie, d.h. die Philosophie als Diskurs, und ich würde sogar sagen, die Sprache ihrer Charta implizieren, die es aber für notwendig erachtet haben, sich mit einer Spezialabteilung für Philosophie auszustatten (was sich nicht von selbst versteht und insgesamt an die durch Kants Der Streit der Fakultäten eröffnete Debatte erinnert: Warum hätte eine vom Wesen her philosophische Institution eine Abteilung für Philosophie nötig? Schelling dachte, gegen Kant, daß allein schon die Universität eine große philosophische Institution sei, durch und durch philosophisch, daß die Philosophie überall sein müßte, daß es keine Stelle gäbe, die sie in eine Abteilung einzuschließen vermöge), die Existenz also einer im eigentlichen Sinne philosophischen Stelle wie die der UNESCO, die Tatsache, daß der Seinsmodus der UNESCO ein a priori philosophischer Seinsmodus ist, das [alles] begründet, so scheint mir, eine Art Axiomatik, ein Werte-, Normensystem, ein System regulativer Prinzipien, kraft deren wir uns sicherlich hier befinden, die aber auch jedem Philosophen vorschreiben, sich konkret auf einen solchen Umstand hin zu befragen und ihn nicht als evidentes und ohne größere Folgen hinzunehmendes Faktum zu betrachten.

Bevor ich einige vorläufige und weniger abstrakte Folgerungen aus diesen ersten Axiomen ziehe, erlauben Sie mir, daran zu erinnern, daß Kants Text, wenn er einen "allgemeinen weltbürgerlichen Zustand" ankündigt und vorschreibt (*Zustand im Sinne des Stands der Dinge, der Lage, der wirklichen Verfassung, nicht im Sinne eines Etat mit großem E [also eines Staates]), wenn Kant wenigstens die Hoffnung näher beschreibt, daß dieses Weltbürgertum durch vielerlei Revolutionen und Transformationen hindurch "endlich" zu einer Tatsache werde, und wenn Kant diese Hoffnung (die eine Hoffnung bleibt) auf eine "höchste Absicht der Natur" gründet ( was die Natur zur höchsten Absicht hat), so ist diese Hoffnung alles andere als der Ausdruck eines vertrauensseligen Optimismus oder gar eines abstrakten Universalismus. Wenn ich kurz einige Grenzen hervorhebe, die dem kantschen Diskurs selbst Gestalt verleihen und dieser Gestalt zugleich die positivste, modernste, reichhaltigste, aber auch die problematischste Form der Unterweisung, und wenn ich mehr auf den Schwierigkeiten beharre, so möchte ich eher in die folgenden Vorträge und Diskussionen einführen, einführen und nicht sie offenkundig antizipieren, sie vorwegnehmen und - weniger noch - sie programmieren.

Welches sind diese Schwierigkeiten? Welche Aufgaben und Probleme unserer Zeit deuten sie an? Aber auch: was deuten sie nicht an? Und wer in unserer Zeit könnte, ja müßte über einen Diskurs wie den von Kant hinausgehen? Die Idee (im kantischen Sinne), die uns hier mit dem Bewußtsein versammelt, daß die Definition einer philosophischen Aufgabe und eines Rechtsanspruchs auf die Philosophie in weltbürgerlicher Dimension, also inter-national oder zwischen-staatlich, inter-etatistisch, zu stellen ist (und es ist schon eine ernste Frage zu wissen, ob das Weltbürgerliche einen Bindestrich zwischen den citÈs, den poleis der Welt als Nationen, als Völkern oder als Staaten zieht), diese Idee unterstellt, Kant sagt es selbst, eine philosophische Annäherung an die Universalgeschichte, die untrennbar von einer Art Plan der Natur ist, der auf eine totale politische, perfekte Vereinigung der Menschengattung hinzielt ( die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung). Wer auch immer an einer solchen Vereinigung und vor allem an einem Plan der Natur zweifelte, hätte keinerlei Grund zur Subskription, und wäre es nur um der allgemeinen Offenlegung einer philosophischen Problematik willen. Für denjenigen, der an diesem Plan der Natur zweifelte, wäre das ganze Projekt des Schreibens einer Universalgeschichte - also einer Philosophiegeschichte - und auch die Schaffung von Institutionen, die von einem internationalen Recht geleitet sind - also einem philosophischen Recht - nur ein Roman. "Roman", das ist das kantsche Wort. Dieser bleibt sich des Risikos so sehr bewußt, daß er zu wiederholtem Male sich genötigt sieht, sich in dieser Hypothese oder zu diesen Anklagepunkt zu explizieren und deswegen aufs Neue zu bestätigen, daß die se philosophische Idee, als welches Hirngespinst sie auch erscheinen mag, weder eine Fiktion noch eine romanhafte Geschichte sei. Die Philosophie, in der leibhaftigen Bildung ihrer Institution begriffen, ist am wenigsten Literatur, so insistiert er, noch auch allgemein eine Fiktion und keinesfalls eine Fiktion der Einbildungskraft.. Doch die Gefahr, die von der Literatur, vom Literarisch-Werden der Philosophie droht, ist so bedrängend und für Kant so gegenwärtig, daß dieser zu mehreren Malen sie beim Namen nennt und verwirft. Doch damit er solches tun kann, muß er zugleich den Leitfaden eines Plans der Natur anrufen (den Leitfaden, d.h. ein bequemes Werkzeug der Darstellung, und das ist keineswegs das sicherste Mittel, dem Roman zu entkommen) und andererseits, um diesem Leitfaden zu folgen, als sichersten Leitfaden sogar die Geschichte der europäischen Nationen aufzunehmen, und hier vor allem ihre griechischen, danach römischen Anfänge, im Gegensatz zu den sogenannten barbarischen Nationen. Das hat zur Folge, daß dieser Text in weltbürgerlichem Geiste gemäß einer Gesetzmäßigkeit, die sich bis weit jenseits von Kant verfolgen läßt, der am stärksten eurozentrische Text ist, sicherlich nicht nur hinsichtlich seiner philosophischen Axiomatik, sondern sowohl hinsichtlich seines retrospektiven Bezugs auf die griechisch-römische Geschichte wie auch hinsichtlich seines prospektiven Bezugs auf die künftige Hegemonie Europas, das, so Kant, "wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben wird". Da diese schwierige und durchdringende Frage nach dem europäischen, also dem kontinentalen Modell von Philosophie unausweichlich immer wieder, so vermute ich (und ich hoffe das tatsächlich), in der zu erwartenden Debatte auftauchen wird, möchte ich gerne einige Zeilen Kants in Erinnerung rufen. Sie machen offenkundig, daß das einzige Mittel, um die philosophische Vernunft dem Roman oder der Fiktion als Hirngespinst gegenüberzustellen, zumindest in den Augen Kants das ist, sich der europäischen Geschichte der Vernunft, und dabei vor allem der griechisch-römischen Geschichte anzuvertrauen. Im Siebten Satz erinnert Kant daran, daß die Natur sich auf natürliche und paradoxale Weise die natürliche Ungeselligkeit der Menschen zunutze gemacht hat (und Kant ist Pessimist darin, daß er an diese natürliche Ungeselligkeit des Menschen und an den natürlichen oder ursprünglichen Kriegszustand zwischen den Menschen glaubt), um sie dahin zu bringen, künstliche und institutionelle Bande zu knüpfen und sie veranlaßt, in eine Nationengemeinschaft einzutreten: "Die Natur hat also die Unvertragsamkeit der Menschen, selbst der großen Gesellschaften und Staatskörper dieser Art Geschöpfe, wieder zu einem Mittel gebraucht, um in dem unvermeidlichen Antagonism derselben einen Zustand der Ruhe und Sicherheit auszufinden; d.i. sie treibt, durch die Kriege, durch die überspannte und niemals nachlassende Zurüstung zu denselben, durch die Not, die dadurch endlich aber, nach vielen Verwüstungen, Umkippungen, und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte, zu dem, was ihnen die Vernunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können, nämlich: aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen, und in einen Völkerbund zu treten; wo jeder, auch der kleinste, Staat seine Sicherheit und Rechte, nicht von eigener Macht, oder eigener rechtlichen Beurteilung, sondern allein von diesem großen Völkerbunde (Foedus Amphictyonum), von einer vereinigten Macht, und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens, erwarten könnte. So schwärmerisch diese Idee auch zu sein scheint, und als eine solche an einem AbbÈ von St. Pierre oder Rousseau verlacht worden (vielleicht, weil sie solche in der Ausführung zu nahe glaubten): so ist es doch der unvermeidliche Ausgang der Not, worein sich Menschen einander versetzen, die die Staaten zu eben der Entschließung (so schwer es ihnen auch eingeht) zwingen muß, usw." (Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltürgerlicher Absicht, zitiert nach: I. Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Werkausgabe Band XI, Frankfurt am Main (Suhrkamp), 1977, S. 42.; in der Erstauflage bei Kant S.390f.) Nach der Logik dieser Teleologie müssen wir der Natur dankbar sein dafür - und Kant sagt dies wörtlich -, daß sie uns natürlich, ursprünglich und auch ungesellig und wenig philosophisch erschaffen hat, um uns zur Kultur, zur Kunst und zum Künstlichen, ebenso wie auch zur Vernunft zu drängen, um die Keime der Natur aufblühen zu lassen.

Was an eine romanhafte Geschichte erinnert und dennoch keine ist, was in Wahrheit nur Geschichtlichkeit sogar der Geschichte selbst ist, ist diese List der Natur. Die Natur nutzt den Umweg über die Gewalt und über die primitive, also natürliche Ungeselligkeit, um der Vernunft zu dienen und damit die Philosophie über die den Völkerbund ins Werk zu setzen. Folglich, und das würden wir in der heutigen Debatte als eine paradoxe Provokation empfinden, spielen bei dieser teleologischen List der Natur das griechisch-römische Europa, die abendländische, ich wage sogar zu sagen: kontinentale Philosophie und Geschichte eine treibende, herausragende, exemplarische Rolle, als ob die Natur in ihrer vernünftigen List Europa folgende besondere Mission auferlegt hätte: nicht nur, die Geschichte als solche, und dies zuvörderst als Wissenschaft zu begründen, nicht nur die Philosophie als solche, und dies zuvörderst als Wissenschaft zu begründen, sondern auch, eine Philosophiegeschichte der Vernunft (und nicht des Romans) zu begründen und " allen anderen [Weltteilen] dereinst Gesetze [zu] geben".

Kant gestand zum zweiten Male im Neunten Satz zu, daß der philosophische Versuch, die allgemeine Geschichte als einen verborgenen Plan der Natur, bezogen auf eine totale politische Vereinigung der Menschheit, zu begreifen, einem Roman ähnele (und hierbei nennt er den Roman bei seinem Namen als Roman). Doch, um dieser romanhaften Hypothese zu widersprechen und die menschliche Geschichte, jenseits des Romanhaften, als ein System und nicht als plan- und programm- und bestimmungloses Aggregat zu denken, bezieht er sich auf das, was er den Leitfaden der griechischen Geschichte nennt; "als derjenigen," wie er sagt, "wodurch uns jede andere ältere oder gleichzeitige [Geschichte] aufbehalten worden, wenigstens beglaubigt werden muß."

Mit anderen Worten gesagt, wäre die griechische Geschichtlichkeit und Geschichtsschreibung das Zeichen, der Hinweis und sogar der beständige Leitfaden dafür, zu denken, daß eine Geschichte möglich ist, die alles, was an die Allgemeinheit des Menschengeschlechts rührte, versammeln würde. Den Einfluß dieser griechischen Geschichte (im Sinne zugleich von Geschichte und Historie, der Geschichte im Sinne des Ereignisses und der Erzählung, einer beglaubigten Beziehung, der Geschichtswissenschaft) könne man, sagt Kant, verfolgen in der Bildung und Mißbildung des Staatskörpers des römischen Volks, insoweit es die griechische polis "verschlungen" habe und danach die cosmopolis entworfen habe, indem sie die Barbaren beeinflußt oder kolonisiert hat, die ihrerseits wiederum Rom zerstört haben. Und Kant fügt hinzu: "Dabei aber die Staatengeschichte anderer Völker, so wie deren Kenntnis durch eben diese aufgeklärten Nationen allmählich zu uns gelanget ist, episodisch hinzutut: so wird man einen regelmäßigen Gang der Verbesserung der Staatsverfassung in unserem Weltteile (der wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben wird) entdecken."

Die teleologische Richtung dieses Diskurses ist zur Tradition der europäischen Modernität geworden. Man findet sie unbeschädigt und unverändert durch die noch so ernsten Varianten hindurch, die Hegel, Husserl, Heidegger, ValÈry voneinander unterscheiden mögen. Man findet sie auch in der Praxis und manchmal selbst in ihrer Verleugnung bei vielen politisch-institutionellen, europäischen oder globalen Diskursen. Doch dieser eurozentrische Diskurs drängt uns zu fragen - und ich sage es vereinfacht, um nicht das Wort allzulange in Anspruch zu nehmen -, ob nicht unsere Überlegungen über die grenzenlose Ausdehnung und die Neubestätigung eines Rechtsanspruchs auf die Philosophie die Zuordnung der Philosophie an ihren Ursprung oder an ihr griechisch-europäisches Gedächtnis zugleich in Rechnung stellen und beschränken muß. Nicht daß man sich damit begnügte, eine bestimmte Historie, ein bestimmtes Gedächtnis über die Ursprünge oder der abendländischen Geschichte (mediterran oder mitteleuropäisch, griechisch-römisch-arabisch oder germanisch) zu affirmieren, auch nicht, sich der Verleugnung dieses Gedächtnisses und dieser Sprachen zu widersetzen oder ihr zu widersprechen, sondern zu versuchen, das grundlegende Schema dieser Problematik zu verschieben, indem man sich jenseits der alten, ermüdenden, abgenutzten und abnützenden Opposition zwischen Eurozentrismus und Anti-Eurozentrismus aufhält. Um dahin zu gelangen, ist eine der Bedingungen - und man gelangt nicht mit einem Schlag dorthin, es wird die Wirkung einer langen und langsamen historischen Arbeit, die im Gange ist, sein - die tätige Bewußtwerdung der Tatsache, daß die Philosophie nicht mehr durch ein Programm, eine ursprüngliche Sprachstruktur [langage] oder eine Sprache bestimmt wird, deren Gedächtnis man bloß wiederfinden müßte, um ihr Ziel zu enthüllen, noch an ihrem oder auch durch ihren Ursprung aufgerufen werden kann, sie demnach also nicht einfach, von selbst, abstrakt weltbürgerlich oder allgemein ist. Was wir immer mehr erfahren, sind die Aneignungs- und Transformationsweisen des Philosophischen in den nicht-europäischen Sprachen und Kulturen, die weder der klassischen Aneignung - die darin besteht, das zum Seinigen zu machen, was dem anderen zugehört (hierbei also das abendländische Gedächtnis der Philosophie zu internalisieren und es in seiner eigenen Sprache zu assimilieren) - zugehören, noch der Erfindung neuer Denkweisen, die, fern jeglicher Aneignung, überhaupt keinen Bezug haben zu dem, was man unter den Namen der Philosophie zu erkennen glaubt. Was heute, und ich glaube seit langem schon, geschieht, sind philosophische Entwicklungen, die sich nicht in diese im Grunde kulturelle, kolonialistische oder neo-kolonialistische Dialektik der Aneignung oder der Entfremdung einschließen lassen. Es gibt andere Wege der Philosophie als die der Aneignung als Expropriation (sein Gedächtnis zu verlieren, indem man das Gedächtnis des anderen aufsaugt, der eine gegen den anderen, als ob eine Ex-Appropriation als einzige Chance nicht möglich wäre). Nicht nur, daß es andere Wege für die Philosophie gibt, sondern die Philosophie selbst ist der andere Weg, wenn es ihn gibt. Das war schon immer der andere Weg gewesen: die Philosophie war niemals verantwortlich für die Entfaltung einer einzigen ursprünglichen Zuordnung, sei es an eine einzige Sprache oder an der Stelle eines einzigen Volkes. Die Philosophie hat nicht nur ein einziges Gedächtnis. Von ihrer griechischen Benennung und von ihrer europäischen Erinnerung her war sie immer schon bastardisiert, hybride, aufgepfopft, vielseitig, vielsprachig, und wir müssen unsere historische Praxis der Philosophie, der Geschichte und der Philosophie nach dieser Realität neu ausrichten, die ebensosehr eine Chance ist und die mehr denn je eine Chance bleibt. Was ich hier von der Philosophie sage, läßt sich ebensosehr und aus denselben Gründen vom Recht und von der Demokratie sagen.

In der Philosophie, wie überall sonst, bilden der Eurozentrismus und der Anti-Eurozentrismus Symptome der missionarischen und kolonialistischen Kultur. Ein Begriff des Kosmopolitismus, der immer noch bestimmt wäre durch diese Opposition, würde faktisch nicht nur die Entwicklung des Rechtsanspruchs auf die Philosophie beschränken, sondern auch sich selbst nicht Rechenschaft ablegen darüber, was in der Philosophie geschieht. Wir müssen, um in die Richtung dessen zu denken, was geschieht und was noch unter dem Namen Philosophie geschehen könnte (und dieser Name ist, je nachdem, was man daraus macht, gleichzeitig sehr schwerwiegend oder ohne Bedeutung), darüber nachdenken, was die konkreten Bedingungen der Achtung und der Verbreitung des Rechtsanspruchs auf die Philosophie sein können. Ich werde hier noch schnell die Überschriften der Probleme aneinanderreihen, die in Wirklichkeit systematisch und strukturell miteinander verbunden sind.

Jeder, der in weltbürgerlicher Absicht den Rechtsanspruch auf die Philosophie glaubt achten, zumessen, ausbreiten zu müssen, müßte berücksichtigen, daß das die Konkurrenz zwischen mehreren philosophischen Modellen, Stilen, Traditionen, die mit National- und Sprachgeschichten verkoppelt sind und das schon immer gewesen sind, selbst wenn sie sich niemals auf nationale oder sprachliche Wirkungen beschränken. Um das ehrwürdigste Beispiel zu nennen, das weit entfernt davon ist, das einzige zu sein, und das sich selbst in vielerlei Abarten darstellt: der Gegensatz zwischen der sogenannten kontinentalen Philosophietradition und der sogenannten analytischen oder angelsächsischen Philosophie beschränkt sich weder auf nationale Grenzen noch auf sprachliche Gegebenheiten. Das bedeutet für die europäischen oder anglo-amerikanischen Philosophen, die darin ausgebildet sind, nicht nur ein enormes Problem und ein Rätsel. Eine bestimmte Geschichte, besonders - aber nicht allein eine Kolonialgeschichte - hat diese beiden Modelle mit hegemonialen Bezügen für die ganze Welt ausgestattet. Der Rechtsanspruch auf die Philosophie vollzieht sich nicht nur durch die Aneignung dieser beiden Konkurrenzmodelle und an der Grenze jedes Modells durch alle Männer und alle Frauen (wenn ich tous et toutes, sage, so geschieht das nicht bloß aus formaler Vorsicht hinsichtlich der grammatikalischen Kategorie, ich komme darauf zurück), das Recht aller Männer und aller Frauen auf die Philosophie führt auch über die Reflexion, die Verschiebung und die Dekonstitution dieser Hegemonien, über den Zugang zu philosophischen Stellen und Ereignissen, die sich weder in diesen beiden vorherrschenden Traditionen noch in diesen Sprachen erschöpfen. Diese Spieleinsätze sind schon intra-europäisch. (Diese Themen sind in den durch das GREPH, das Collège International de Philosophie (besonders in seinem Gründungsbericht) und in bestimmten meiner Essays entwickelt, darunter z.B. Vom Rechtsanspruch auf die Philosophie, Galilée, 1990, und Das andere Kap, Die aufgeschobene Demokratie, Minuit, 1991; letzteres auch in deutsch, bei Suhrkamp.) Die Achtung und Ausbreitung des Rechts aller Männer und aller Frauen auf die Philosophie setzt auch, ich sage es vorschnell, die Aneignung, aber auch die Überschreitung von Sprachen voraus, denen man gemäß des Schemas, das ich soeben in Frage gestellt habe, Begründung und Ursprung der Philosophie nachsagt, nämlich der griechischen, lateinischen, germanischen oder arabischen Sprachen. Die Philosophie muß sich gemäß der nicht nur anamnetischen Wege in den Sprachen ausüben [lassen], die ohne Verwandtschaftsbeziehung mit diesen [sprachlichen] Wurzeln sind. Wenn die zumeist hegemoniale Ausbreitung dieser oder jener Sprache sowie die gleichsam allmächtige Weise - ich meine das Englische - als Vehikel zur universellen Durchdringung des Philosophischen dienen kann, so fordert die Philosophie zugleich und gerade deshalb, daß man sich der Phänomene des Dogmatismus und der Autorität entledigt, die die Sprache hervorbringen kann. Es handelt sich nicht darum, die Philosophie der Sprache und dem, was sie schon immer ans Idiom bindet, zu unterwerfen; es handelt sich nicht darum, ein philosophisches, abstrakt allgemeines Denken hervorzubefördern, das dem Körper des Idioms nicht inhärent ist, sondern im Gegenteil darum, [die Philosophie] jedesmal auf originelle Weise in einer unabschließenden Vielheit von Idiomen ins Werk zu setzen und philosophische Ereignisse zu erzeugen, die im Grundzug einer abstrakten Allgemeinheit weder partikularistisch noch unübersetzbar, weder abstrakt durchsichtig noch eindeutig sind. Mit einer einzigen Sprache zwingt sich immer eine Philosophie, eine Axiomatik philosophischen Diskurses und philosophischer Kommunikation ohne weitere Diskussion auf. Ich würde etwas Ÿhnliches, jedenfalls derselben Logik Zugehöriges, für die Naturwissenschaften und die Technikwissenschaften sagen. Es versteht sich von selbst, daß die Entwicklung der Natur- und der Technikwissenschaften (handele es sich nun um theoretische Physik, Astrophysik oder Genetik, um Informatik oder Medizin, sei es nun im Dienste der ÷konomie oder auch der Militärstrategie) zum Guten oder Schlechte den Weg einer weltbürgerlichen Kommunikation bereitet und unter diesem Namen über den Umweg der wissenschaftlichen Forschung, aber auch der Erkenntnistheorie oder der Wissenschaftsgeschichte, die Bahn eröffnet für das, was in der Philosophie gemäß verschiedener Modi, und das von alters her, gemeinsam für drn Gang der Wissenschaft gewesen ist. Die Hypothese oder der Wunsch, den ich versucht wäre, zur Diskussion zu stellen, ist der, daß - bei aller Anerkennung und Berücksichtigung des Fortschritts der Wissenschaften im Geiste eines neuen Zeitalters der Aufklärung für dieses neue Jahrtausend (und hier bleibe ich Kantianer) - eine Politik des Rechtsanspruchs auf die Philosophie für alle Männer und Frauen, pour tous et pour toutes, nicht bloß eine Wissenschafts- und Technikpolitik des Denkens sein möge, die weder vor dem Positivismus oder vor dem Szientismus noch vor dem Epistemologismus zurückweicht und im Maße neuer Einsätze in ihrem Verhältnis zur Naturwissenschaft, aber auch zu den Religionen, und auch zum Recht und der Ethik, zu einer Erfahrung zurückfindet, die zugleich eine gegenseitige Provokation oder Achtung beinhaltet, aber auch eine unbeugsame Autonomie. In dieser Hinsicht sind die Probleme immer überliefert und immer neu, handele es sich nun um ÷kologie, Bioethik, künstliche Befruchtung, Organverpflanzung, internationales Recht etc. Sie rühren alle an den Begriff des eigenen, des Eigentums, des Verhältnisses zu sich selbst oder zum anderen in der Bedeutung von Subjekt und Objekt, der Subjektivität, der Identität, der Person, d.h. auf der Ebene aller grundlegender Begrifflichkeiten der Chartas, die die internationalen Beziehungen und Institutionen beherrschen, wie auf der Ebene des internationalen Rechts, das man dazu ausersehen hat, sie zu regeln. Unter Berücksichtigung dessen, was die Wissenschaft mit der Technik, mit der Ökonomie, den politisch-ökonomischen, den politisch-militärischen Interessen verbindet, ist die Autonomie der Philosophie hinsichtlich der Wissenschaften wesentlich für die Praxis eines Rechtsanspruchs auf die Philosophie, so wie die Autonomie hinsichtlich der Religionen wesentlich ist für jeden und jede, die wollen, daß der Zugang zur Philosophie keinem und keiner untersagt wird. Ich spiele hier auf das an, was auf jeder kulturellen, sprachlichen, nationalen, religiösen Ebene den Rechtsanspruch auf die Philosophie einschränken kann - aus gesellschaftlichen, politischen oder religiösen Gründen, aus Gründen der Zugehörigkeit zu einer Klasse, einem Alter, eines Geschlechts oder all dem zusammen. Hier riskiere ich festzustellen, daß jenseits dessen, was die Philosophie mit ihrem griechisch-europäischen Gedächtnis oder ihren europäischen Sprachen verbinden würde, ja jenseits dessen, was sie mit einem schon konstituierten abendländischen Modell verbinden würde, das man im Griechischen die Demokratie nennt, es mir unmöglich erscheint, den Leitgedanken vom Rechtsanspruch auf die Philosophie "in weltbürgerlicher Absicht" vom Leitgedanken einer kommenden Demokratie abzutrennen. Ohne den Begriff der Demokratie mit seinen geschichtlichen Gegebenheiten, und noch weniger mit den Tatsachen, die man unter diesem Namen zusammengefaßt hat, zu verbinden - und alle tragen in sich die Spur der Hegemonien, die ich mehr oder weniger direkt angesprochen habe -, glaube ich nicht, daß der Rechtsanspruch auf die Philosophie (so wie ihm eine internationale Institution wie diese hier Achtung zu verschaffen und dessen Wirkung zu vergrößern hat) von einer wirkungsvollen Demokratisierungsbewegung abzutrennen ist.

Sie können sich vorstellen, daß das, was ich hier sage, alles andere als ein abstrakter Wunsch und ein konventionelles Zugeständnis hinsichtlich eines demokratischen Konsens ist. Die Spieleinsätze waren noch niemals so ernst wie in unserer heutigen Welt, die nach einer neuen philosophischen Reflexion über dem, was Demokratie, und ich hebe hervor: die kommende Demokratie, heißen und sein kann. Da ich in dieser Einführung nicht zu ausführlich werden möchte, behalte ich mir vor, in der Diskussion darüber mehr zu sagen.

Obwohl sich die Philosophie nicht durch ihre institutionellen oder pädagogischen Momente erschöpft, versteht es sich von selbst, daß all die Verschiedenheiten von Tradition, Stil, Sprache, philosophischer Nationalität in institutionellen oder pädagogischen Modellen übersetzt oder einverleibt sind, manchmal sogar durch diese Strukturen [erst] geschaffen werden (die Schule, das Kolleg, das Gymnasium, die Universität, die Forschungsinstitute). Dort befindet sich der Ort der Debatten, der Konkurrenz, des Krieges oder der Kommunikation, von denen wir soeben sprachen; doch ich möchte gerne, um mit diesem Thema zum Schluß zu kommen, mich ein letztes Mal Kant zuwenden, um das zu verorten, was heute die Schranke oder die allgemeinste Krise aller Gesellschaften, abendländischen oder nicht, bildet, die einen Rechtsanspruch auf Philosophie durchsetzen möchten. Das heißt, daß - über die politischen oder religiösen Motive hinaus und hinaus über die augenscheinlich philosophischen Motive, die dazu führen können, den Rechtsanspruch auf Philosophie einzuschränken, ja sogar die Philosophie (einer bestimmten Klasse, den Frauen, den Jugendlichen bis zu einem bestimmten Alter usw., den Spezialisten dieser oder jener Disziplin oder den Mitgliedern dieser oder jener Gruppe) zu verbieten, ja jenseits aller Anlässe für Diskriminierung in diesem Zusammenhange - die Philosophie, in Europa oder anderswo, bei ihrer Unterweisung und in ihrer Forschung unter einer Einschränkung leidet, die nichtsdestoweniger immer wieder auftaucht, auch wenn sie nicht immer die ausdrückliche Gestalt des Verbots oder der Zensur annimmt, allein schon aus Gründen der Beschränkung der Mittel, die nötig sind, um den Philosophieunterricht und die philosophische Forschung aufrechtzuerhalten. Diese Beschränkung wird ebensosehr in Gesellschaften vom Typus des liberalen Kapitalismus, der sozialistischen oder sozialdemokratischen, ganz zu schweigen von autoritären oder totalitären Gesellschaften begründet, ich sage nicht gerechtfertigt, und zwar durch staatlichen Haushaltsausgleich, die Prioritäten auf sogenannte, meist auch mit Recht, nützliche, rentable, dringlichere Forschungen und Forschungsausbildungen, auf techno-ökonomische, ja sogar auf wissenschaftlich-militärische Zwänge legen. Für mich geht es nicht darum, all diese Zwänge unterschiedslos anzufechten. Doch je mehr sich diese Zwänge auferlegen, und das manchmal aus den besten Gründen der Welt und manchmal hinsichtlich von Entwicklungen, ohne die die Entwicklung der Philosophie selbst in der Welt keine Chance hätte, desto mehr erweist sich der Rechtsanspruch auf die Philosophie und der Appell an die Philosophie als vordringlich, unverzichtbar, eben genau um nachzudenken und Unterscheidungen zu treffen, zu werten, die Philosophen zu kritisieren, denn es sind ebenso die Philosophen, die - auf unterschiedliche Weisen - im Namen eines techno-ökonomisch-militärischen Positivismus, ja eines Pragmatismus oder eines Realismus, das Feld und die Chancen für eine offene und uneingeschränkte Philosophie sowohl bei ihrer Unterrichtung als auch bei ihrer Forschung, wie auch bei ihrem wirkungsvollen internationalen Austausch zu vermindern trachten.

Das sind also die Bedenken - und ich schließe für jetzt -, die ich anzumerken für nötig fand hinsichtlich des kantschen Konzepts der cosmopolis (das zugleich zu naturalistisch und zu teleologisch-europäisch ist), und ich zitierte zum Schluß noch einmal Kant. Ich zitiere das, was er exemplarisch ein Beispiel nennt. Sein kurzer Traktat über die Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht ist offensichtlich auch, und es kann nicht anders sein, ein Traktat über Erziehung. Und im Achten Satz, nachdem Kant das "Jahrhundert der Aufklärung" und die "allgemeine Freiheit der Religion" begrüßt hat, schreibt er das, was heute fast ohne Umstellung immer noch zu bedenken ist.

Hätte ich diesem Abschnitt einen Titel zu geben, so wäre dies vielleicht: "Von der Philosophie - die Schuld und die Pflicht". "Diese Aufklärung aber, und mit ihr auch ein gewisser Herzensanteil, den der aufgeklärte Mensch am Guten, das er vollkommen begreift, zu nehmen nicht vermeiden kann, muß nach und nach bis zu den Thronen hinauf gehen und selbst auf ihre Regierungsgrundsätze Einfluß haben. Obgleich z.B. unsere Weltregierer zu öffentlichen Erziehungsanstalten, und überhaupt zu allem was das Weltbeste betrifft, vor jetzt kein Geld übrig haben, weil alles auf den künftigen Krieg schon zum voraus verrechnet ist: so werden sie doch ihren eigenen Vorteil darin finden, die obzwar schwachen und langsamen eigenen Bemühungen ihres Volks in diesem Stücke wenigstens nicht zu hindern Endlich: wird selbst der Krieg allmählich nicht allein ein so künstliches, im Ausgange von beiden Seiten so unsicheres, sondern auch durch die Nachwehen, die der Staat in einer immer anwachsenden Schuldenlast (einer neuen Erfindung) fühlt, deren Tilgung unabsehlich wird, ein so bedenkliches Unternehmen, dabei der Einfluß, den jede Staatserschütterung in unserem durch seine Gewerbe so sehr verketteten Weltteil auf alle andere Staaten tut, so merklich: daß sich diese durch ihre eigene Gefahr gedrungen, obgleich ohne gesetzliches Ansehen, zu Schiedsrichtern anbieten, und so alles von weitem zu einem künftigen großen Staatskörper anschicken, wovon die Vorwelt kein Beispiel aufzuzeigen hat. Obgleich dieser Staatskörper für itzt nur noch sehr im rohen Entwurfe dasteht, so fängt sich dennoch gleichsam schon ein Gefühl in allen Gliedern, deren jedem an der Erhaltung des Ganzen gelegen ist, an zu regen; und dieses gibt Hoffnung, daß, nach manchen Revolutionen der Umbildung, endlich das, was die Natur zur höchsten Absicht hat, ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand, als der Schoß, worin alle ursprüngliche Anlagen der Menschengattung entwickelt werden, dereinst einmal zu Stande kommen werde." Der Rechtsanspruch auf die Philosophie verläuft vielleicht von nun an über die Unterscheidung zwischen mehreren Ordnungen der Schuld, zwischen eine endlichen Schuld und einer unendlichen Schuld, einer inneren Schuld und der Pflicht, einer bestimmten Auslöschung und einer bestimmten Wiedereinsetzung der Schuld - und manchmal einer bestimmten Auslöschung im Namen der Wiedereinsetzung.

(Aus dem Französischen übersetzt von Hans-Peter Jäck, April 1998)

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