Jacques Derrida

Niemand ist unschuldig

Wie denken Sie über die Terroranschläge vom 11. September?

Derrida: Die Anschläge konfrontieren uns erneut und in grausamster Weise mit der Problematik der Globalisierung, aber auch mit dem überkommenen Begriff des Krieges. Was ist das für ein Krieg, der keinem Nationalstaat erklärt wird, keinem identifizierbaren Gegner? Ein "Krieg", der von enormen Kapitalbewegungen begleitet wurde - man weiß mittlerweile, dass es unmittelbar vor den Anschlägen große Spekulationsgewinne an der Börse gab. All das zwingt uns, die Globalisierung neu zu denken, den Kapitalismus und den Krieg.

Wie haben Sie selbst diese Anschläge erfahren? Was bedeutet diese Katastrophe für Sie?

Derrida: Wie jedermann war ich völlig bestürzt. Außerdem fühle ich mich New York sehr verbunden, ich habe mich oft und gern dort aufgehalten. Ich empfinde tiefes Mitleid mit den Opfern. Aber dieses Mitleid darf einen nicht blind machen für die Verantwortlichkeiten.

Wer sind in Ihren Augen die Verantwortlichen?

Derrida: Natürlich in erster Linie die Attentäter und ihre Hintermänner. Verantwortlich ist aber auch eine bestimmte, seit langem betriebene amerikanische und europäische Politik gegenüber diesem Teil der Welt.

Welche Verantwortung, welche Aufgabe hat jetzt der Philosoph?

Derrida: Es ist die allgemeine Verantwortung des politischen Staatsbürgers. Aber er hat auch die Aufgabe, die Begriffe zu überprüfen, von denen ich gesprochen habe. Er darf nicht nachlassen in seiner kritischen Befragung, auch wenn er sich seinem Empfinden nach auf Seiten der Opfer, der unschuldig Getroffenen befindet.
Ich glaube, dass alle Menschen des Westens gegenwärtig direkt oder indirekt Opfer sind dessen, was geschehen ist - und gleichzeitig nicht unschuldig. Ich bin weit davon entfernt, Partei zu ergreifen für diejenigen, die diese barbarischen Anschläge verübt haben. Ich frage mich nur, ob jemand wie Osama bin Laden, wenn er es denn war - denn das ist ein Name, eine Metonymie - nicht auf derselben Seite steht wie das, was er bekämpft. Er ist Großkapitalist, er ist Teil eines Netzes von Macht- und Geldströmen.

Wie soll man ihn oder dieses Netz bekämpfen? Mit Militärschlägen?

Derrida: Es mag sein, dass es solcher Schläge, also einer militärischen und polizeilichen Antwort bedarf. Aber eine solche Antwort wird nicht ausreichen, wenn nicht eine veränderte Politik dem Terror den Boden entzieht. Sonst kann man sicher sein, dass bald wieder alles von neuem beginnt. Man muss den Angreifern das Terrain in der öffentlichen Meinung entziehen. Und dazu muss man die amerikanische und europäische Politik gegenüber den arabischen oder moslemischen Ländern ändern.

Worin besteht der Zusammenhang zu der "Politik des Traums", von der Sie in Ihrer Dankesrede sprechen? Träumt nicht die gesamte westliche Welt zurzeit einzig und allein den Traum von der Sicherheit?

Derrida: Wohlgemerkt, "Politik des Traums", das ist keine Politik von Träumern oder für Träumer. Der Traum, von dem ich spreche, ist der Traum des Denkens, nicht das gegenwärtige kollektive Phantasma von Sicherheit, Patriotismus oder Rache. Mit diesem Albtraum muss man brechen, ihm muss man eine Politik des Aufweckens entgegensetzen. Aus diesem Traum müssen wir erwachen.

Können wir denn in der jetzigen Situation überhaupt auf Sicherheit verzichten?

Derrida: Keineswegs. Es wäre vollständig unverantwortlich zu sagen, man sollte auf die Sicherheit verzichten. Ich glaube an die Notwendigkeit der Polizei, an die Notwendigkeit der Armee. Ich glaube an die Notwendigkeit des Gebrauchs von Gewalt im Dienst der Gerechtigkeit. Ich sage nicht: Legen wir die Waffen weg. Aber das allein ist nicht wirksam und reicht nicht aus, weder für die Sicherheit noch für die Gerechtigkeit. Ein Krieg, wie er jetzt vorbereitet wird, kann nicht allein die Antwort sein. Der Traum wäre zu sagen: Erfinden wir etwas anderes.

Was könnte das sein?

Derrida: Das lässt sich nicht in einem Wort zusammenfassen. Das ist Sache nicht allein des Militärs und der Polizei, sondern aller Bürger, in Amerika wie in Europa, und ich habe keine Lektionen zu erteilen, was zu tun wäre.

Sind die "Politiken der Freundschaft", von denen Sie in einem Ihrer jüngsten Bücher sprechen, heute noch möglich? Wenn ja, wie?

Derrida: Die Freundschaft, die ich meine, ist ebenso unmöglich wie der Traum, von dem ich in meiner Dankesrede spreche. Eine Unmöglichkeit, die nicht das Gegenteil, das Negative des Möglichen ist. Man muss dieses Unmögliche tun, man muss das Unmögliche denken und tun. Wenn nur das geschähe, was möglich ist, geschähe gar nichts mehr. Wenn ich nur das täte, was ich tun kann, würde ich gar nichts tun.

Aber sind nicht die Ereignisse vom 11. September aus demselben Unvorhersehbaren, demselben Unmöglichen entsprungen?

Derrida: Nein, es handelte sich um einen Ausbruch von Hass, der trotz aller Entsetzlichkeit der Dimension nicht unvorhersehbar war. Das hat alle Welt überrascht, aber vollkommen unvorhersehbar war der Ausbruch nicht. Der Widerstand in der arabischen Welt wuchs seit langem.
Das Netzwerk des Terrors wurde ebenfallls seit langem militärisch und finanziell immer enger geknüpft. Zwei oder drei Tage vorher wurde an der Börse spekuliert. Das war nicht absolut unvorhersehbar. Es war ein Programm, eine Verkettung von Elementen, die bereits möglich waren.

Interview: Ulrich Raulff





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