Jacques Derrida

Gespräch über Kino

Cahiers de cinéma: Wie sind Sie mit Kino in Berührung gekommen?

Jacques Derrida: Sehr früh. In Algier, ich war ungefähr 10 oder 12 Jahre alt, es war am Ende des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Es war ein vitaler Beginn. Ich wohnte in einer Banlieue, El Biar. Ins Kino zu gehen war eine Emanzipation, eine Entfernung von der Familie. Ich erinnere mich sehr gut an die Namen der Kinos in Algier, ich sehe sie alle vor mir: das Vox, Caméo, Midi-Minuit, Olympia.. ich ging wahrscheinlich hin, ohne grosse Unterschiede zu machen. Ich sah mir alles an, die während der Besatzung gedrehten französischen Filme und vor allem die amerikanischen Filme, die nach 1942 wiedergekommen sind.
Ich könnte die Titel nicht mehr nennen, aber ich erinnere mich an die Genres der Filme, die ich sah. Ein Tom Sawyer zum Beispiel, von dem mir einige Szenen dieser Tage wieder in den Sinn gekommen sind: eine Grotte in der Tom mit einem kleinen Mädchen eingesperrt ist. Die sexuelle Bewegtheit: ich wurde gewahr, dass ein Junge von 12 Jahren ein Mädchen streicheln kann. Ich war fast im selben Alter. Ein guter Teil der sinnlichen und erotischen Kultur kommt, wie man weiss, aus dem Kino. Man lernt im Kino, was ein Kuss ist, bevor man es im Leben lernt. Ich erinnere mich an das erotische Beben des kleinen Jungen. Ich kann aber nichts anderes mehr erinnern. Für das Kino besass ich eine Leidenschaft, eine Art hypnotischer Faszination, ich konnte stundenlang im Saal sitzen bleiben, selbst um mittelmässige Filme zu sehen. Aber ich habe keine Kino-Erinnerung. Das ist eine Kultur, die in mir keine Spuren hinterlässt. Es ist virtuell gespeichert, ich habe nichts vergessen, ich habe auch Hefte, in denen ich mir Titel notiert habe von Filmen, an deren Bilder ich mir überhaupt nicht erinnere.
Ich bin überhaupt kein Cinephiler im klassischen Sinne des Wortes. Eher ein pathologischer Fall. In Phasen, in denen ich viel ins Kino gehe -- vor allem im Ausland, wenn ich in den USA bin, verbringe ich meine Zeit im Kino -- dann wischt eine konstante Repression jede Erinnerung an die Bilder weg, die mich dennoch faszinierten. 1949 bin ich nach Paris gekommen, ins Khagne (eine Art Gymnasium) und bin weiterhin manchmal in mehrere Vorführungen pro Tag gegangen, in unzählige Kinos im Quartier Latin, vor allem dem Champo.

Was ist für Sie das Entscheidende am Kino während der Kindheit? Sie sprechen von seiner erotischen Dimension, die sicherlich entscheidend ist für den Prozess des Bildererlernens. Aber gibt es auch einen Bezug zu Gesten, zur Zeit, zum Körper, zum Raum?

Da es nicht die Titel der Filme sind, nicht die Geschichten, die Akteure, die in mir einen Eindruck hinterlassen haben, ist es wohl eine andere Art der Emotion, die ihren Ursprung in der Projektion nimmt, in der Zuständigkeit der Projektion. Es ist eine Emotion, die ganz anders ist als die der Lektüre, die in mir eine viel präsentere und aktivere Erinnerung hinterlässt. Sagen wir, dass ich in der Situation des 'Voyeurs', im Dunkeln, eine unvergleichbare Befreiung geniesse, eine Herausforderung an alle Verbote. Vor der Leinwand ist man ein unsichtbarer Voyeur, zu allen möglichen Projektionen berechtigt, allen Identifikationen, ohne die geringste Sanktion und ohne die geringste Arbeit. Das ist es vielleicht, was mir das Kino bringt: eine Form, die Verbote zu überschreiten und vor allem die Arbeit zu vergessen. Ohne Zweifel ist das auch der Grund, warum die kinematografische Emotion keine Form des Wissens sein kann, nicht mal einer wirksamen Erinnerung. Da diese Emotion zu einem grundsätzlich anderen Register gehört, kann sie nicht Arbeit oder Wissen sein, nicht mal eine Erinnerung. Für das, was das Kino in mir hinterlässt, komme ich auf einen zugleich mehr soziologischen und mehr historischen Aspekt: für einen kleinen häuslichen Algerier war das Kino die Gnade einer aussergewöhnlichen Reise. Mit dem Kino reiste man wie verrückt. Mal abgesehen von den amerikanischen Filmen, die gleichzeitig exotisch und nah waren, sprachen die französischen Filme mit einer sehr besonderen Stimme, sie bewegten sich zusammen mit den wiedererkennbaren Körpern, sie zeigten einem jungen Heranwachsenden wie mir, der niemals das Mittelmeer überquert hatte, beeindruckende Landschaften und Innenräume. Das Kino war in diesem Moment also der Ort einer intensiven Lehre. Bücher haben mir nicht dasselbe gebracht: diesen direkten und sofortigen Transport in ein Frankreich, das mir unbekannt war. Ins Kino zu gehen, war eine organisierte unmittelbare Reise. Was das amerikanische Kino angeht, repräsentierte es für mich, der 1930 geboren wurde, eine sinnliche, freie, begierige Expedition in zu erobernde Zeiten und Räume. 1942 ist das amerikanische Kino nach Algier gekommen, zusammen mit dem, was gleich sehr schnell seine Macht (Träume eingeschlossen) wurde, Musik, Tanz, Zigaretten... Das Kino wollte in erster Linie sagen 'Amerika'. Kino hat mich dann während meiner gesamten Studienzeit begleitet, die schwierig war, verängstigt, angespannt. In diesem Sinne wirkte es auf mich oft wie eine Droge, war Unterhaltung par excellence, pures Ausweichen, das Recht auf Wildheit.

Ermöglicht das Kino nicht einen 'unkultivierten' Bezug zwischen Betrachter/in und Bild -- genauer und mehr als andere Künste?

Ohne Zweifel. Man kann sagen, dass Kino eine populär bleibende Kunst ist, auch wenn das ungerecht ist gegenüber Produzenten, Filmemacher/innen, Kritiker/innen, die es mit viel Raffinement und Experimentierbereitschaft betreiben. Es ist die einzige grosse populäre Kunst. Ich, der ich als Betrachter eher gierig bin, bleibe oder campiere sogar auf der Seite des Populären: das Kino ist die wichtigste Unterhaltungskunst. Man muss ihm das wirklich lassen. Von der grossen Anzahl der Filme, die ich als Student im Lyceum Louis-le-Grand sah, erinnere ich mich nur an L'Espoir von Malraux im Cine-Club des Lyceum Montaigne. Sie sehen, das ist etwas 'kultivierterer' Bezug als im Kino üblich. Seitdem hat sich mein Leben etwas vom Kino entfernt, abgesehen von den wertvollen Momenten, wo es nachwievor die Rolle der reinen Emotion des Ausweichens spielt. Wenn ich in New York oder Californien bin, sehe ich unzählige amerikanische Filme, oft wahllos aber auch die Filme, von denen man spricht, (car je suis tres bon public). Das ist der Moment, wo ich die Freiheit und die Möglichkeit habe, diesen mir so wichtigen populären Bezug zum Kino zu finden.

Man stellt sich jetzt vor, wie Sie in einem New Yorker oder kalifornischen Kino sitzen, in einem weit von Ihrem universitären Leben entfernten Raum, und die Leinwand sie nachwievor mit Bildern beeindruckt, die direkt aus Ihrer Kindheit oder Adoleszenz kommen...

Durch das Kino kann ich so einen privilegierte und originale Verbindung mit den Bildern bewahren. In mir existiert ein an die Bilder gebundener Typ Emotionen, der von weither kommt. Er drückt sich nicht in der Wissenskultur oder der Philosophie aus. Das Kino bleibt für mich ein grosser verdeckter, geheimer, begieriger, gefrässiger und also kindlicher Genuss. Das muss es auch bleiben, aber es geniert mich ein wenig, mit Ihnen darüber zu sprechen, denn die Cahiers de Cinema stehen für einen kultivierten, theoretischen Bezug zum Kino.

Interessanterweise basiert dieser Bezug zum Kino, wenn er auch unterschiedlich ist, dennoch oft auf dem gleichen Typ Film. Traditionell ist der Hintergrund der Cahiers das amerikanische Kino, und weniger die prestigereichsten, sondern die B-Serien, die kleinen Filme, die die im Hollywoodsystem arbeitenden Autor/innen...

Ich könnte sagen, dass sich die Cahiers einer Reihe von Filmen angeschlossen hat, auf die ich mich mit einem sehr viel kindlicheren Genuss beziehe. Im Kino ist alles erlaubt, inklusive der Annäherung zwischen heterogenen Figuren im Publikum und Bezügen auf der Leinwand. Im übrigen auch im Inneren der selben Person. In einem Film -- oder sogar vor dem Fernseher -- gibt es in mir eine Konkurrenz zwischen mindestens zwei Blickweisen. Eine kommt aus der Kindheit, reiner emotionaler Genuss; die andere ist wissender, ernster, sie entziffert die von den Bildern emittierten Zeichen in Abhängigkeit von meinen Interessen oder 'philosophischeren' Fragen.

In ihrem Buch "Echographies de la Télévision" sprechen Sie direkt vom Kino, von Bildern allgemein, spezieller vom Fernsehen, aber auch vom Kino, wie es sich durch den Film vermittelt, den Sie gerade gedreht haben. Sie machen also das Kino an einer besonderen Erfahrung fest, die der Fantomhaftigkeit (Fantomalité)...

Die cinematografische Erfahrung gehört ganz zu einer Spektralität, die ich mit all dem verbinde, was man über das Gespenst (spectre) in der Psychoanalyse sagen könnte -- oder über die Natur der Spur. Das Gespenst -- weder lebendig noch tot -- steht im Zentrum einiger meiner Texte und ein Denken über das Kino wäre vielleicht von dort aus möglich. Im übrigen sind die Verbindungen zwischen Spektralität und Cinematografie heute Anlass vieler Texte. Das Kino kann die Spektralität fast frontal inszenieren, wie in der Tradition fantastischer Filme, von Vampir- oder Wiedergängerfilmen, einiger Werke von Hitchcock ... Man muss das von der Struktur des cinematografischen Bildes unterscheiden, die gänzlich spektral ist. Jeder Betrachter setzt sich während einer Vorführung mit dem Unbewussten in Verbindung, die nach Freud per definitionem einer Arbeit der Heimsuchung ähnelt. Er nennt dies eine Erfahrung, die 'unheimlich familiär' ist.
Die Psychoanalyse, die psychoanalytische Lektüre, ist im Kino zuhause. Im übrigen sind Psychoanalyse und Kino wahrhaft Zeitgenossen; die zahllosen an die Projektion, ans Spektakel, an die Wahrnehmung des Spektakels gebundenen Phänomene, besitzen psychoanalytische Äquivalente. Walter Benjamin hat das sehr schnell erfasst, er hatte auf Anhieb die beiden Prozesse einander angenähert, die cinematografische und die psychoanalytischen Analyse. Selbst der Blick und die Wahrnehmung des Details in einem Film stehen in direkter Verbindung zur psychoanalytischen Prozedur. Die Vergrösserung vergrössert nicht nur, das Detail ermöglicht den Zugang zu einer anderen Szene, einer heterogenen Szene. Die cinematografische Wahrnehmung ist einzigartig, aber nur durch sie lässt sich die psychoanalytische Praxis durch eine Erfahrung verstehen: Hypnose, Faszination, Identifikation, alle diese Begriffe und diese Prozeduren haben Kino und Psychoanalyse gemein und es ist das Zeichen eines 'gemeinsam Denkens', das mir primär erscheint. Im übrigen dauert eine Vorführung nur wenig länger als eine analytische Sitzung. Man lässt sich im Kino analysieren, indem man alle Gespenster erscheinen und sprechen lässt. Man kann die Gespenster (im Vergleich zur Analyse) auf der Leinwand sehr ökonomisch wiederkehren lassen.

Sie sagten, dass Sie über einen speziellen Aspekt des Kinos schreiben könnten, d.h...

Wenn ich über das Kino schreiben würde, würde mich sein Regime des Glaubens am meisten interessieren. Es gibt im Kino eine Modalität des Glaubens, die ganz einzigartig ist: man hat vor einem Jahrhundert eine einzigartige Form des Glaubens erfunden. Es wäre spannend, in allem Künsten das Regime des Kredits zu untersuchen: wie man an einen Roman glaubt, an einige Momente einer theatralen Darbietung, an das was in die Malerei eingeschrieben ist, und an eine ganz andere Sache, nämlich was uns das Kino zeigt und erzählt. Im Kino glaubt man ohne zu glauben, aber dieser Glauben ohne Glauben bleibt ein Glauben. Man hat auf der Leinwand, im Stumm- oder Tonfilm, mit Erscheinungen zu tun, an die der Betrachter glaubt, wie in Platons Höhle, Erscheinungen, die man machmal idolisiert. Daher ist die spektrale Dimension nicht die des Lebendigen und nicht die des Toten, noch die der Halluzination, noch die der Perzeption. Die Modalität des Glaubens, die sich dort ereignet, muss auf gänzlich originale Weise analysiert werden. Diese Phänomenologie war vor der Cinematografie nicht möglich, denn diese Erfahrung des Glaubens ist an eine besondere Technik gebunden, der des Kinos, sie ist durch und durch historisch. Mit dieser zusätzlichen Aura, dieser besonderen Erinnerung, die es uns erlaubt, sich in frühere Filme zu projezieren. Deshalb ist die Vision des Kinos derart reich. Sie erlaubt, neue Gespenster erscheinen zu sehen, während sie die Fantome im Gedächtnis hält (und sie wiederum auf die Leinwand projiziert), die die bereits gesehenen Filme (deja vu) heimsuchen.

Als wenn es mehrere Schichten an Fantomalität gäbe...

Ja. Und manche Cineasten versuchen, mit diesen verschiedenen Zeitlichkeiten der Gespenster zu spielen, wie Ken McMullen, der Autor des Films "Ghost Dance", in dem ich mitgespielt habe. Es gibt die elementare Spektralität/Gespensterhaftigkeit, die an die technische Definition des Kinos gebunden ist; und im Inneren der Fiktion inszeniert McMullen Personen, die von der Geschichte der Revolutionen heimgesucht werden, von den Fantomen, die aus der Geschichte und den Texten hervorgehen (die Kommunarden, Marx, etc.). Das Kino ermöglicht es so, zu kultivieren, was man die 'Transplantation' der Spektralität nennen könnte, es schreibt die Spuren der Fantome ein in eine generelle Verkettung, das projizierte Zelluloid, das selbst ein Fantom ist. Das ist ein beeindruckendes Phänomen und das, was mich theoretisch am Kino als Objekt der Analyse interessiert. Eine spektrale Erinnerung, das Kino ist eine riesige Trauer, eine riesige Trauerarbeit. Und es ist bereit, sich von allen betrauerten Erinnerungen beeindrucken zu lassen, d.h. durch die tragischen oder epischen Momente der Geschichte. Es sind also diese sukszessiven Traueranlässe, die an die Geschichte und an das Kino gebunden sind, die heute die interessantesten Figuren 'in Bewegung versetzt'. Die transplantierten Körper dieser Fantome sind selbst die Verwicklungen des Kinos. Aber was oft in diesen Filmen wiederkommt, seien sie europäisch oder amerikanisch, das ist die spektrale Erinnerung einer Epoche, in der es noch kein Kino gab. Diese Filme sind 'fasziniert' z.B. vom 19. Jahrhundert, von der Legende vom Westen in den Western von Eastwood, der Erfindung des Kinos bei Coppola, oder von der Kommune im Film von Ken McMullen. ƒhnlich arbeitet das Kino zunehmend in Referenz auf ein Buch, auf eine Malerei oder ein Foto. Keine Kunst, keine Erzählung kann heute das Kino ignorieren. Die Philosophie im übrigen auch nicht. Sagen wir, dass sein Fantomgewicht überall wiegt. Und diese Fantome werden auf sehr unterschiedliche Weise und oft sehr erfinderisch von den 'Konkurrenten' des Kinos inkorporiert.

Warum ist das Kino die populärste Kunst und bleibt es auch?

Um auf diese Frage zu antworten -- die grosse Frage -- muss man verschiedene Analysetypen vermischen. Zuerst eine 'interne' Analyse des cinematografischen Mediums, des der Unmittelbarkeit der Emotionen und der Erscheinungen Rechnung trägt, wie sie sich auf der Leinwand und in den Vorstellungen der Betrachter/innen, in ihren Erinnerungen, ihren Körpern, in ihren Wünschen einschreiben. Danach eine 'ideologische' Analyse, die dazu führt, dass diese spektrale Technik der Erscheinungen sich sehr schnell an einen Weltmarkt der Blicke bindet, die jeder belichteten Filmspule erlaubt, in tausenden Kopien reproduziert zu werden, Millionen an Zuschauer/innen in der ganzen Welt zu berühren, und das fast simultan, kollektiv, denn das Kino kann keine Form des strikt individuellen oder sogar häuslichen Konsums sein. Diese Kreuzung ist noch neu, denn sie vereint in kurzer Zeit die Unmittelbarkeit der Erscheinungen und der Emotionen (wie keine andere Darstellung sie vorschlagen könnte) und eine finanzielles Engagement, wie es keine andere Kunst leisten könnte. Um das Kino verstehen zu können, muss man das Fantom und das Kapital zusammendenken, letzteres selbst eine spektrale Sache.

Warum 'schreitet' das Kino nur aufgrund der Gemeinschaft der Vision im Vorführraum vorwärts? Warum erscheinen die Gespenster eher den Gruppen als den Individuen?

Beginnen wir, das vom Gesichtspunkt der Betrachter/in, der Perzeption und der Projektion zu verstehen. Jede/r projiziert etwas Intimes auf die Leinwand, aber alle persönlichen 'Fantome' kreuzen sich in einer kollektiven Darstellung. Mit dieser Idee der Visionsgemeinschaft oder der Repräsentation muss man also vorsichtig fortfahren. Kino -- und das ist seine Definition selbst, die der Projektion in einem Saal -- ruft das Kollektiv auf, das Spektakel und die gemeinschaftliche Interpretation. Aber zur gleichen Zeit existiert eine fundamentale Loslösung: im Saal ist jede Betrachter/in alleine. Das ist der grosse Unterschied zum Theater, in dem die Form des Spektakels und die innere Architektur der Einsamkeit des Betrachters einander entgegenlaufen. Das ist der tiefgreifend politische Aspekt des Theaters: das Publikum ist eines und drückt eine kollektive aktivistische Präsenz aus, und wenn sie sich teilt, dann um einen Kampf herum, einen Konflikt, des Eindringens eines Anderen ins Herz der Publikums/der ÷ffentlichkeit. Was mich im Theater oft unglücklich macht und glücklich im Kino: angesichts des Spektakels allein sein zu können, die von der cinematografischen Vorstellung angebotene Ablösung.

Ist das Ihr Problem, die Bindung?

Ich mag es nicht, wenn ich weiss, dass eine Zuschauer/in neben mir existiert, und ich träume davon, mehr oder weniger alleine im Saal zu sein. Deshalb benutze ich das Wort 'Gemeinschaft' für den Kinosaal nicht. Ich benutze auch das Wort 'Individualität' nicht mehr, es ist zu solitär. Der Ausdruck, der hier passt, ist der der 'Singularität', der das soziale Band ersetzt, auflöst und es anders wieder ins Spiel bringt. Insofern existiert im Kinosaal eine Neutralisierung psychoanalytischen Typs: ich bin alleine mit mir, aber auch dem Spiel aller Transferts ausgeliefert. Und zweifellos liebe ich daher das Kino derart und ist es mir in gewisser Weise selbst dann unverzichtbar, wenn ich wenig hingehe. Auf der Basis des Glaubens an das Kino besteht eine aussergewöhnliche Verbindung zwischen den Massen -- Kino ist eine Massenkunst, die sich an das Kollektiv wendet und kollektive Repräsentationen aufnimmt -- und den Einzelnen: die Masse ist dissoziiert, aufgelöst, neutralisiert. Im Kino reagiere ich 'kollektiv', aber ich lerne auch, alleine zu sein: die Erfahrung der sozialen Dissoziation -- die im übrigen der Existenzweise Amerikas viel verdankt. Diese Einsamkeit angesichts des Fantoms ist eine wesentliche Prüfung der cinematografischen Erfahrung. Diese Erfahrung wurde von anderen Künsten, Literatur, Malerei, Theater, Poesie, Philosophie schon vor der technischen Erfindung des Kinos antizipiert worden. Sagen wir, dass das Kino erfunden werden musste, um ein bestimmtes Begehren des Bezugs zu den Fantomen zu erfüllen. Der Traum ist darin der Erfindung vorausgegangen.

In einem neueren Buch über Blanchot kommen Sie auf eine Ihnen sehr wichtige Frage zurück, die Sie in Bezug auf das Bild in Echographies de la télévision bereits angeschnitten hatten: dem Status des Zeugen. Das ist gleichermassen eine zentrale Frage des Kinos: wozu dient das Kino, woran kann es glauben? Das Kino bezeugt, versucht darin zu beweisen...

Im okzidentalen Recht hat das gefilmte Dokument keinen Beweiswert. In unserer okzidentalen Vorstellung existiert ein irreduzibles Misstrauen gegenüber dem Bild allgemein und dem gefilmten Bild im Besonderen. Das kann als eine Art Archaik gedeutet werden, die Vorstellung, dass nur die Wahrnehmung, das Wort oder das Geschriebene in seiner reellen Präsenz Anspruch auf Glaubwürdigkeit haben, glaubwürdig sind. Man hat dieses Recht niemals angepasst an die Möglichkeiten des filmischen Zeugnisses. Umgekehrt könnte man sagen, dass dieses juristische Misstrauen gegenüber dem filmischen Bild die Modernität des cinematografischen Bildes bereits berücksichtigte, seine unendliche Reproduzierbarkeit und den Schnitt der Repräsentationen: eine Synthese ist immer möglich und macht die Glaubwürdigkeit zur Illusion. Ein Bild, vor allem im Kino, erleidet immer eine Interpretation: das Gespenst ist ein Rätsel und die Fantasmen, die in den Bildern auftreten, sind Mysterien. Man kann, man muss ihnen glauben, auch wenn es keine Beweiskraft hat. Wie zum Beispiel die Affaire Rodney King in Los Angeles, wo das ganze System der Anklage auf einem Videotape basiert, auf dem ein Zeuge zufällig aufnahm, wie die Polizei einen Schwarzen verprügelte. Der Zeuge konnte nichts als diese Bilder zur Verfügung stellen, er hatte es nur durch das Kameraauge gesehen. Das Band fand sich im Zentrum nicht endender Diskussionen und wuchernden Interpretationen. Hätte der Zeuge gesehen und die Tatsachen berichtet, wäre seine Rede beweiskräftiger gewesen. Das Bild der Tatsachen, obwohl es einem Zustand der Gesellschaft entsprach und vor allem in der schwarzen Community eine Art Revolte hervorgerufen hat, ist paradoxerweise für die Justiz und die weisse Autorität weniger glaubwürdig. Fundamentaler noch stellt diese Herausforderung eine Frage an das Gedruckte: der genetische Fingerabdruck ist glaubwürdiger, besser akkreditiert als der cinematografische Abdruck.

A propos: Film als Abdruck, was denken Sie über einen Film wie Shoah von Claude Lanzmann?

Das ist ein Film-Zeugnis. Aber es gibt den Zeugnissen eine wahrhaft zentrale Rolle, denn es weist die Archivbilder systematisch zurück, um den Zeugen in Präsenz begegnen zu können, in ihrer Sprache, ihren Körpern, ihren Gesten. Es ist auch ein grosser Film über die Erinnerung, der die Erinnerung gegen die Repräsentation restituiert und sicherlich auch gegen die Wiederherstellung. Die Gegenwart verhindert die Repräsentation und ich glaube, dass Lanzmann in diesem Sinne am besten illustriert, was eine Spur im Kino sein könnte. Shoah hört nicht auf, die Abdrücke zu verstehen, die Spuren -- alle Kraft und alle Emotion des Films hält an den repräsentationslosen Fantomspuren fest. Die Spur ist das 'da hat das stattgefunden' des Films, sein Uuml;berleben. Denn alle Zeug/innen sind Überlebende: sie haben es überlebt und sagen es. Das Kino ist das absolute Simulakrum des absoluten Überlebens. Sie sprechen das aus, wovon man nicht mehr zurückkommt, sie erzählen uns den Tod. Durch sein eigenes spektrales Wunder, zeigt es uns das, was keine Spur lassen darf. Es ist also zweifach Spur: Spur des Zeugnisses selbst, Spur des Vergessens, Spur des absoluten Todes, Spur des Spurlosen, Spur der Auslöschung. Das ist die Rettung, durch den Film, die ohne Heil bleibt, das Heil der heillosen, Erlebnis des reinen Überlebens, das bezeugt. Ich denke, dass der Betrachter ergriffen wird angesichts dieses 'das'. Diese im Überleben gefundene Form ist unwiderlegbar. Sie ist auf jeden Fall eine illustre Illustration des sprechenden Cinematografen.

Was erscheint Ihnen in Shoah spezifisch cinematografisch?

Diese Präsentation ohne Repräsentation der bezeugenden Sprache ist deshalb ergreifend, weil sie 'Film' ist. Shoah wäre als Audio-Dokumentation weniger stark und glaubwürdig. Die Präsentation der Spur ist weder eine einfache Präsentation, noch eine Repräsentation, noch ein Bild: sie wird Körper, gibt der Rede diese Geste, erzählt und schreibt sich in eine Landschaft ein. Die Fantome haben überlebt, sie sind re-präsentativ, sie erscheinen in ihrer ganzen phänomenalen, fantastischen, d.h. spektralen (der ‹berlebenden-Wiedergänger) Rede. Die Kraft von Shoah, bevor sie historisch, politisch, archivierend ist, ist wesentlich cinematografisch. Denn das cinematografische Bild erlaubt der Sache selbst (ein Zeuge, der an einem bestimmten Tag und Ort gesprochen hat) nicht nur reproduziert zu werden, sondern 'dort selbst' neu produziert zu werden. Diese Sofortigkeit des 'dort selbst', das aber ohne repräsentierbare Präsenz bei jeder Vision produziert wird, ist die Essenz des Kinos wie des Films von Lanzmann.

Diese Form, in der in Shoah das Nichtrepräsentierbare präsentiert wird, hat alle Restitutionen und alle Repräsentation der Auslöschung suspekt gemacht. Wie erklären Sie das?

Was in Shoah erscheint, indem es verschwindet, diese Absenz der direkten, bzw. der Bilder, die durch das was 'es' mal gewesen ist, rekonstituiert werden, durch das, wovon man spricht, das setzt uns in Bezug zu den Ereignissen der Shoah, d.h. zum Unrepräsentierbaren selbst. Denn alle Filme, die die Auslöschung dargestellt haben -- was ihre Qualitäten oder Mängel auch immer sein mögen -- können uns nur zu etwas Reproduzierbarem, Rekonstuierbarem in Beziehung setzen, also etwas, das nicht die Shoah ist. Diese Reproduzierbarkeit ist eine furchtbare Schwächung der Erinnerungsintensität. Die Shoah muss gleichermassen in dem 'das hat stattgefunden' und in der Unmögtlichkeit bleiben, dass dieses 'das' stattgefunden habe und reproduzierbar sei.

Die Kraft von Shoah liegt wesentlich in der Aufzeichnung der Stimme. Darauf sind Sie sehr genau eingegangen. Sie haben zum Beispiel eine Lesung des Textes Feu la cendre und der Circonfessions aufzeichnen lassen und hier lag Ihre Intervention gänzlich in Ihrer Stimme...

Shoah ist wesentlich mehr als nur eine Aufzeichnung der Rede... Aber um auf Ihre Frage zu antworten: ja, die Aufzeichnung der Rede ist eine der wesentlichen Phänomene des 20. Jahrhunderts. Es fügt der lebendigen Gegenwart eine einzigartige Möglichkeit hinzu, von neuem 'da zu sein'. Die Grösse des Kinos bestand darin, zu einem bestimmten Moment in seiner Geschichte, das Wort zu integrieren. Das war kein Zusatz, kein supplementäres Element, sondern eher eine Rückkehr zu den Ursprüngen des Kinos, das es weiter zu vervollständigen half. Die Stimme addiert im Kino nicht etwas: sie ist das Kino in gleicher Weise wie die Aufzeichnungen der Bewegung der Welt. Ich glaube keineswegs an die Idee, dass man die Bilder -- das reine Kino -- von der Sprache trennen müsste: sie haben dasselbe Wesen, das einer 'Quasi-Repräsentation' eines 'selbst da sein' der Welt, deren Vergangenheit auf immer radikal abwesend ist, unrepräsentierbar in seiner lebhaften Präsenz.

Eine andere Spezifität des Kinos betrifft den Schnitt. Was denken Sie über diese Technik, mit der sich montieren, remontieren, demontieren lässt? Das Kino hat, in seiner ureigensten Materialität sogar, den Gebrauch der Reflexion auf die Narrativität am weitesten entwickelt. Lässt sich eine Verbindung herstellen zwischen dem von Ihnen geformten Konzept der 'Dekonstruktion' und der Montage?

Es gibt keine wirkliche Synchronität, aber dennoch spielt diese Annäherung für mich eine grosse Rolle. Es gibt zwischen der mich interessierenden Schrift dekonstruktiven Typs und dem Kino eine wesentliche Beziehung. Dabei handelt es sich um die Ausnutzung aller Montagemöglichkeiten in der Schrift, sei es bei Platon, Dante oder Blanchot, also der Spiele mit den Rhythmen, den Zitattransplantationen, der Einschübe, der Tonlagenwechsel, den Wechseln der Sprachen, den Kreuzungen zwischen den 'Disziplinen' und den Regeln der Kunst, der Künste. Das Kino ist in diesem Bereich einzigartig, abgesehen vielleicht von der Musik. Aber die Schrift ist durch diese 'Idee' der Montage gleichsam inspiriert und aspiriert. Ausserdem ist die Schrift, oder sagen wir die Diskursivität, in die gleiche technische, also ästhetische Entwicklung verwickelt wie das Kino: nämlich der zunehmend verfeinerten, schnellen, beschleunigten Möglichkeiten, die durch die neuen Technologien (Computer, Internet, Bildsynthesen) eröffnet werden. Von nun an besteht in der Schrift wie im Kino auf bestimmte Weise ein Angebot und eine Nachfrage der ungleichen Dekonstruktion. Wichtig ist, was damit tun. Das Schneiden-Kleben, die Neufügung des Textes, die immer schnellere Einfügung von Zitaten, alles was der Computer ermöglicht, nähert die Schrift zunehmend an den Filmschnitt an und umgekehrt. Wie auch das Kino -- da die Technizität weiterhin zunimmt ñparadoxerweise eine immer 'literarischere' Disziplin wird und umgekehrt: evidenterweise partizipiert die Schrift seit einiger Zeit an einigen cinematografischen Visionen der Welt. Dekonstruktion oder nicht, ein Schriftsteller war immer ein Monteur. Heute ist er es noch mehr.

Fühlen Sie sich selbst als Cineast während Sie schreiben?

Ich glaube, dass ich nicht zu weit gehe, wenn ich sage, dass ich beim Schreiben bewusst eine Art 'Film' projiziere. Ich habe davon ein Projekt und ich projiziere es. Was mich am meisten am schreiben interessiert, das ist weniger der 'Inhalt', sozusagen, als die 'Form': die Komposition, der Rhythmus, der Entwurf einer bestimmten Narrativität. Ein Laufsteg der spektralen Kräfte, die bestimmte, einem Film vergleichbare Effekte produziert. Das wird von einer Rede begleitet, die ich bearbeite wie auf einem eigenständigen Band -- so paradox wie das auch klingen mag. Das ist Kino, unbestreitbar. Wenn und falls ich es geniesse, zu schreiben, dann ist es das, was ich geniesse. Mein Genuss besteht nicht in erster Linie darin 'die' Wahrheit zu sagen oder den 'Sinn' der 'Wahrheit', sie hält sich in der Inszenierung, der Schrift bei den Büchern oder der Rede im Unterrichten. Und ich bin sehr neidisch auf diese Cineasten, die heute mit ultrasensiblen Maschinen schneiden, mit denen man extrem präzise komponieren lassen. Das ist es was ich immer in der Schrift oder der Rede suche, selbst wenn -- wie in meinem Fall -- die Arbeit sehr viel handwerklicher ist; und ich habe die Schwäche, mir einzubilden, dass der 'Effekt' des Sinns oder der 'Effekt' der Wahrheit das noch bessere Kino ist...

Ich würde gerne beim Film "D'ailleurs Derrida" von Safaa Fathy anfangen, dort sind sie gleichermassen der Gegenstand und der Akteur. Es scheint mir, dass diese Erfahrung Sie dazu gebracht hat, entlang des Funktionierens der Kino-Maschine (in Begriffen des Filmens und der Montage) und des Kinos im Allgemeinen zu denken.

Es gab in dieser Erfahrung einige Momente, die ich 'Lehrfilm' nennen wollte, wie man von einem 'Lehrroman' spricht oder 'Ausbildungsroman'. Jenseits all dessen, was ich indirekt vom Kino lernen, verstehen oder was ich annähern konnte, nichts entspricht dieser rigiden, dem Körper wenig Rückzug lassenden Erfahrung. Ich konnte Vieles über das Kino im Allgemeinen lernen, über seine Technologie, seinen Markt (denn es gab Produktionsprobleme zwischen Arte und der Firma Gloria). In diesem Sinne war es ein 'Lehrfilm'. Andererseits haben Sie eine Anspielung gemacht auf den Umstand, dass ich mich in "Tourner les mots" als Akteur bezeichnet habe. Ich habe beim Schreiben dieses Textes damit gespielt, die Majuskel auf die Worte Akteur und Autor zu setzen; das war ein Spiel, aber ein ernstes Spiel, ich musste etwas spielen, was angenommener Weise meine eigene Person war, die selbst nur eine Rolle ist (jeder von uns hat viele soziale Rollen). Es handelte sich also für mich darum, mehrere meiner vom Autor ausgesuchten Rollen zu spielen, der eine Menge vorgefasster Meinungen hatte, die ich berücksichtigen musste. Zum Beispiel hat Saafa Fathy die Entscheidung getroffen, mich dem französischen Raum zu entziehen, sie hat sich willkürlich entschlossen, mich woanders zu zeigen und hat mehr oder weniger fantastische Genelaogien rekonstituiert, in Algerien, in Spanien, in den USA. Ich musste lernen, meine eigenen Hindernisse in Hinblick auf die Exhibition vor der Kamera zu überwinden und mich den Entscheidungen der Autorin zu fügen. Ganz am Schluss, nach den Dreharbeiten und der Montage (an der ich nicht partizipierte) haben wir beide von unserer Seite aus Texte geschrieben, die in Tourner les mots zusammen abgedruckt wurden. Da konnte ich bestimmte Dinge sagen, die den Film nicht ersetzen, aber mit ihm spielen.

Durch den Text wird der Film in einer anderen Dimension und nach anderen Regeln distribuiert; es gibt in dem Mass eine Verbindung, in dem die beiden sich betrachten und ergänzen.

Film und Buch sind gleichzeitig aneinander gebunden und radikal unabhängig. Ich wollte zeigen, wie der Film in einer bestimmten Anzahl dieser Bilderverkettungen in einem französischen Idiom gehalten ist, einem unübersetzbaren Idiom, wie beispielsweise das Wort 'd'ailleurs' (übrigens). Ich habe in diesem Text die Frage der französischen Sprache gestellt insofern sie von innen her die Wege der Bilder determiniert, aber auch insofern sie die Grenze überschreiten müssen, denn es handelt sich um einen von Arte korpoduzierten Film, der so konzipiert ist, dass er sofort in europäischen Ländern nicht französischer Sprache gezeigt werden kann. Was könnte man mit der ‹bersetzung machen? Im Prinzip sind Wörter übersetzbar (noch dass die Erfahrung hier in jedem Fall erschreckend sei), aber was die Bilder und die Worte verbindet, das ist es nicht und bringt also eigene Einsätze mit sich. Man muss akzeptieren, dass ein Film in seiner cinematografischen Spezifität an unübersetzbare Idiome gebunden ist und dass daher die ‹bersetzung verhindern muss, das cinematografische Idiom zu verlieren, das das Wort an das Bild bindet.

Gibt es nicht ein anderes Problem, das Sie im Inneren der Disjunktion zwischen dem Sehen und dem Sprechen erleiden mussten?

Ja, das ist eine der interessantesten Risiken des Films. Das unterstreicht der Titel des Buches. 'Tourner les mots' (die Worte zu filmen/drehen) bedeutet, die Worte zu meiden, sie zu umgehen, das Cinematografische der Autorität des Diskurses entgehen lassen; gleichzeitig handelt es sich darum, die Worte zu filmen/drehen, d.h. Sätze zu finden, die keine Interview-, Unterricht-, Konferenzsätze sind, Sätze, die sich für einen cinematografischen Blickwinkel eignen; am Ende muss man filmen/drehen können, sich darauf verstehen, zu drehen, im Sinne von: Worte filmen zu können. Und wie kann man die Worte filmen, die Bilder werden, die vom Körper untrennbar sind, nicht nur von der Person, die sie sagt, sondern vom Körper, dem ikonischen Ensemble und die dennoch Worte bleiben, mit ihrer Akustik, dem Ton, der Zeit der Worte? Diese Worte können manchmal einer Improvisation oder einer guten Lesung entnommen werden, denn es gibt einige vom Autor gelesene Passagen oder Lesbares auf einem Strassenschild. Die Orte sind niemals identifizierbar, sie gehen einer mit dem anderen auf, sie teilen die charakteristischen Züge, die Südkalifornien, Spanien, Algerien oder die medidianen Küstengebiete miteinander gemeinsam haben; und nur, wenn man sie still auf einem Strassenschild lesen kann, lassen sie sich durch einen Eigennamen identifizieren. Das ist eine eigentlich cinematografische Erfahrung, die dennoch den Diskurs, der dem filmischen Gesetz unterworfen ist, nicht opfert.
In diesem Film stellt sich oft die Frage der Adresse, der Bestimmung, der Unbestimmtheit dessen, an den er gerichtet ist. Wer adressiert was an wen? Was im Bild zählt, das ist nicht das, was unmittelbar sichtbar ist, sondern auch die Worte, die die Bilder bewohnen, die Unsichtbarkeit, die die Logik der Bilder bestimmt, also die Unterbrechung, die Ellipse, die ganze Zone der Unsichtbarkeit, die die Sichtbarkeit drängt/beschleunigt. In diesem Film ist die Technik der Unterbrechung sehr gekonnt eingesetzt -- wie Safaa Fathy auch spreche in diesem Zusammenhang oft von Anakoluth. Diese Unterbrechung des Bildes unterbricht nicht die Wirkung des Bildes, sie trägt die Kraft weiter, mit der die Sichtbarkeit in Schwung hält. Die unterbrechende Sequenz findet sich in einem anderen Moment des Films oder findet sich nicht, und es ist am Adressaten, den man den Zuschauer nennt, ob er sich dort findet oder nicht, dem Faden folgt oder nicht. Also wird das Bild auf dem Körper durch die Unsichtbarkeit als Bild bearbeitet. Nicht notwendigerweise die tönerne Unsichtbarkeit der Worte, sondern eine andere Unsichtbarkeit, von der ich glaube, dass das Anakoluth, die Ellipse, die Unterbrechung das Eigene des Films formt. Das was man im Film sehen kann, ist ohne Zweifel weniger wichtig als das Nichtgesagte, das Unsichtbare, das wie ein Würfelwurf lanciert wird, von anderen Texten, anderen Filmen abgelöst oder nicht (und es ist am Adressaten, zu antworten).
Es ist ein Film über Trauer (der Tod von Katzen, der Tod meiner Mutter) und ein Film, der selbst in Trauer versetzt. In jedem Werk gibt es ein solches Opfer; gleichwohl in der Schrift eines Textes oder eines Buches, und obschon es sich auch werfen, opfern, ausschliessen muss, sind die Zwänge geringer, sie liegen weniger ausserhalb. Wenn man ein Buch schreibt, ist man nicht ebenso stark, ebenso starr einem kommerziellen oder medialen Gesetz unterworfen. Deshalb war das Buch eine Art Aufatmen.

Was Sie über Ihre Erfahrung des Films gesagt haben, kommt wieder zurück auf die allgemeineren Konzepte über das Kino und das Fernsehen, wie die Frage des Gespenstes.

Das Thema der Spektralität ist als solches im Film ausgestellt. Mit gleichem Recht wie die Trauer, der Geschlchtsunterschied, die Bestimmung, das Erbe. Die Spektralität kommt regelmässig zurück, selbst wie ein Bild, denn man sieht das Gespenst meiner Mutter, eine Fantomkatze, eine siamesische Katze, die der toten Katze wie ein Bruder ähnelt. Das Thema ist in gleichermassen diskursiver und ikonischer Weise behandelt. Und andererseits hatte ich in Echographies de la télévision bereits die Frage der spektralen Dimension des Fernseh- oder Kinobildes angeschnitten, der Frage der Virtualisation. Das ist ein politischer Einsatz, der auch in Marx Gespenster erscheint. Das alles bildet ein unauflösbares Netz an Motiven, die gefilmt werden wie man das Kino selbst filmt: das Kino dient hier als ein Beispiel für die Frage. Anders gesagt: als wenn die spektralen Bilder kämen, um uns zu sagen: wir sind die spektralen Bilder (aber ohne auf die Autorität des Akademismus zu spekulieren, der spekularen Selbst- Referentialität). Wie lässt sich ein Gespenst filmen, das sagt: ich bin ein Gespenst. Mit einer natürlich verwirrenden, sogar dunklen Seite des ‹berlebens. Man weiss, dass ein Bild oder ein Text überleben kann. Diese Bilder können nicht nur nach dem Tod meines kleinen Bruders, meiner Katze, meiner Mutter etc. gesehen werden, sondern sogar nach meinem eigenen Tod. Das würde genauso funktionieren. Das kommt von einem Effekt intrinsischer Virtualisation, die alle technische Reproduzierbarkeit betrifft, wie Benjamin sagte. Es ist ein Film über die technische Reproduzierbarkeit: man sieht die wildeste Natur, den Fluss und den Rückfluss der Wellen in Kalifornien, in Spanien oder Algerien ebenso wie die Reproduktions-, Aufzeichnungs, Archivmaschinen.

Das Fantom wurde in der Theorie des Kinos einmal gedacht, aber heute widerspricht diese Idee eher dem dominanten Konzept des Bildes, nachdem es eine Konsistenz des Sichtbaren gäbe, an die man glauben müsste.

In einer spontanen Ideologie des Bildes vergisst man oft zwei Dinge: die Technik und den Glauben. Die Technik, d.h. dass da, wo das Bild (die Reportage oder der Film) uns ohne Tricks und Artefakte vor die Sache selbst setzen soll, man Lust hat zu vergessen, dass die Technik die Sache absolut transformieren, neuzusammensetzen, artifizieren kann. Und dann gibt es das sehr merkwürdige Phänomen des Glaubens. Selbst in einem fiktionalen Film behält ein Phänomen des Glaubens, des 'so tun als ob', eine sehr schwer zu analysiernde Spezifität: man 'glaubt' mehr an einen Film. Man glaubt weniger oder auf andere Weise an einen Roman. Was die Musik angeht, das ist eine andere Sache, die impliziert kein Glauben. Seit es eine romaneske Repräsentation oder eine cinematografische Fiktion gibt, ist ein Phänomen des Glaubens von der Repräsentation getragen. Die Spektralität ist ein Element, in dem der Glauben nicht beruhigt und nicht herausgefordert wird. Deshalb glaube ich, dass man die Frage der Technik an die des Glaubens binden muss, im religiösen und fiskalen Sinne, nämlich als Kredit, der den Bildern gegeben wird. Und dem Fantasma. Im Griechischen, und nicht nur im Griechischen bezeichnet Fantasma Bild und Wiedergänger. Das Fantasma, das ist ein Gespenst.

Was denken Sie über die Filmbilder von der Befreiung der Lager im Verhältnis zu geschriebenen Texten?

Shoah ist ebenso ein sprachlicher Text als ein Korpus an Bildern. Das sind in bestimmter Weise die 'gefilmten Worte'. Eine gefilmte Rede ist nicht eine Rede, die durch Zelloloid als solches eingefangen wurde, es ist eine interpretierte Rede, die beispielsweise unterbrochen, wieder in Gang gebracht, wiederholt oder in eine Situation gestellt wurde. Ein Werk zugänglich machen (denn ein Archiv ist auch ein Werk), bedeutet, eine Interpretation einer Interpretation zu unterwerfen.

War die Kraft des Bildes stärker als die der Texte von Antelme -- L'espèce humain -- die zu ihrer Zeit keinen besonders grossen Einfluss hatten?

Auch heute nicht. Es ist ein wichtiges Zeugnis, aber es hat nicht die Distributionskraft eines cinematografischen Werkes. Ich möchte nicht zwischen beiden entscheiden müssen. Ich glaube nicht, dass das eine das andere ersetzen könnte. Im ‹brigen gibt es in EspËce humain viele Bilder. Es ist in bestimmter Weise auch ein Film-Buch. Shoah ist ein Film-Text, ein Korpus an Rede, eine unverkörperte Rede. Die Zeit der Entdeckung des Zeugnisses, der zum Archiv führende Weg des Unbewussten sollten reflektiert werden. Es gibt eine (technisch und psychische) Zeit für die politische Aufhebung der Verdrängung. Ich habe kürzlich die Réflexions sur la question juive von Sartre wiedergelesen (um woanders darüber zu reden), die nach dem Krieg geschrieben wurden und von denen einige Passagen bereits 1944 geschrieben worden waren. So wie er vom Lager spricht, sehr kurz, ist ziemlich merkwürdig. Wusste er von ihnen oder nicht? Nach dem Krieg war es dann keine Frage mehr, was im Lager geschehen war. Der Name von Auschwitz (ganz zu schweigen vom Namen der Shoah) war unhörbar, unbekannt, ging unter Schweigen vorbei. Notwendige Psychoanalyse des politischen Feldes: von der unmöglichen Trauer, der Verdrängung. Benjamin ist hier eine nachwievor notwendige Referenz: er hat die technische Frage des Kinos und die Frage der Psychoanalyse miteinander verbunden. Ein Detail zu vergrössern ist eine Eigenheit der Kamera, aber auch der Psychoanalyse. Indem man ein Detail vergrössert, tut man etwas anderes als vergrössern, man verändert die Wahrnehmung der Sache selbst. Man betritt einen anderen Raum, eine heterogene Zeit. Diese Wahrheit gilt für die Zeit der Archive und des Zeugnisses.

Glauben Sie, dass das Bild eine Einschreibung in die Erinnerung ist oder ein Konfiszieren der Ernnerung?

Beides. Es ist unmittelbar eine Einschreibung, eine Bewahrung, sei es des Bildes selbst, von dem Moment an, wo es genommen wurde, sei es des Aktes der Erinnerung, von der das Bild spricht. Im Film D'ailleurs Derrida evoziere ich die Vergangenheit. Es gibt gleichzeitig den Moment, in dem ich spreche und den Moment, von dem ich spreche. Das macht schon zwei Erinnerungen, die sich gegenseitig bedingen. Aber wie diese Einschreibung dem Schnitt ausgesetzt ist, der Selektion, der interpretierenden Auswahl, ist sie gleichzeitig nur eine Möglichkeit, eine Konfiszierung, eine gewalttätige Aneignung und zwar durch den Autor und durch mich. Wenn ich von meiner Vergangenheit rede, freiwillig oder nicht, schreibe ich ein und schliesse ich aus. Ich konserviere und ich konfisziere. Ich glaube nicht, dass es ausschliesslich bewahrende Archive gibt, das ist es was ich in einem kleinen Buch beschreiben wollte, Mal d'archives. Das Archiv ist eine gewalttätige Initiative der Autorität, der Macht, also eine Machtnahme für die Zukunft, sie vor-beschäftigt die Zukunft; sie konfisziert die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Man weiss sehr gut, dass es keine unschuldigen Archive gibt.




"Jacques Derrida et les fantomes du cinema."
(Chacun projette quelque chose d'intime sur l'ecran, mais ces "fantomes" personnels se croisent en une representation collective, dit Jacques Derrida. Rencontre avec un philosophe, qui evoque aussi ses premieres emotions de spectateur, a 12 ans a Alger).
Cahiers du Cinema (no. 556, 2001), 74-85


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