(Fortsetzung:)

Man könnte dieser Frage bei Derrida wie bei vielen anderen zeitgenössischen Denkern und Schriftstellern nachgehen. Ich möchte aber heute auf den Denker kommen, der dieser Frage ihre mächtigste Artikulation verliehen hat: Friedrich Nietzsche. Und zwar auf das, was er zwar nicht immer, aber manchmal, "ewige Wiederkehr" genannt hat. Ich habe absichtlich diesen Titel nicht weiter qualifiziert, weil das, worauf er hinweist, mir aus prinzipiellen Gründen fast unmöglich zu qualifizieren oder zu identifizieren scheint. Ist "Die ewige Wiederkehr" eine Lehre? Ein Gedanke? Eine Phantasie? Ein Begriff? Sie hat von allen diesen etwas, ohne Zweifel. Doch was sie ist, läßt sich deswegen nicht eindeutig angeben, weil ihr Was von ihr Wie sich nicht trennen läßt. Was "die ewige Wiederkehr" bedeutet, ist von der Art, wie sie beschrieben wird, nicht zu trennen.

Diese Untrennbarkeit von Was und Wie, ja die Abhängigkeit jenes von diesem, ist ein Tatbestand, der vor allem jene Sprachart charakterisiert, die wir zumeist als "Literatur" bezeichnen. Versucht man das semantische Was von dem Wie seiner Artikulation bei einem Gedicht oder einem Roman zu trennen, so erhält man zumeist etwas sehr Verarmtes als Resultat. Von ernsthaften Denkern dagegen scheint man zu erwarten, diese Trennung von Was und Wie aufrechtzuerhalten. Hier liegt einer der Gründe, warum Denker wie Nietzsche, aber auch Kierkegaard, Freud, Heidegger, Derrida, Lacan, mit großem Mißtrauen betrachtet werden. Denn das, was sie zu sagen haben, läßt sich nur schwer von der Art, wie es geschrieben wird, trennen. Und die Art, wie sie schreiben, gestattet es wiederum nicht, die Herstellung positiver Kenntnisse als die Haupttendenz ihres Denkens erscheinen zu lassen. Etwas Anderes tritt hinzu, etwas "Performatives" oder "Praktisches", das ich hier als Theatralik bezeichnet habe und die nie ganz in theoretische Erkenntnisse aufgeht. Daher das Skandalon, die Unruhe, aber auch: die Aufregung, die Faszination. Es geschieht etwas, was sich nicht allein in Kenntnisse übersetzen läßt. Was aber nicht heißt, daß dabei Kenntnisse und Erkennen nicht im Spiele wären. Es geschieht etwas, das sich am Rande des Erkennens abspielt. Um aber an diesen Rand zu gelangen, muß man schon einiges erkannt haben.

Dieses Spiel am Rande der Erkenntnis läßt sich zurückverfolgen zu Nietzsche, und vielleicht nirgendwohin mehr denn zu seinen Auseinandersetzungen mit der Ewigen Wiederkehr. Ich verwende dieses Wort, Auseinandersetzung, trotz seiner Abgenütztheit, weil es die Erfahrung ziemlich genau zu beschreiben scheint, die Nietzsche durchmachen mußte, als er von diesem Gedanken erfaßt wurde. Um uns dieser Bewegung erstmals kontrastiv zu nähern, möchte ich zunächst eine Deutung anführen, die einer der meistbeachteten Nietzsche-Studien der letzten Jahre entstammt: aus dem Buch des griechisch-amerikanischen Philosophen, Alexander Nehamas, das den Titel trägt: Nietzsche: Leben als Dichtung.4 Für das Rahmenproblem, das uns in diesen Tagen beschäftigt, "Die Herausforderung des Poststrukturalismus an die Literaturwissenschaft", ist Nehamas' Buch besonders aufschlußreich. Denn obwohl er an einer entscheidenden Stelle seiner Argumentation auf de Saussure zurückgreift, ist Nehamas weder Strukturalist noch Poststrukturalist. Gerade deswegen aber hebt sich der sachlich ausgeglichene Ton seines Buches wohltuend von der Polemik vieler ab, für die der Poststrukturalismus nur die Alternative zwischen bedingloser Bejahung und absoluter Verneinung offenzulassen scheint. Ohne das Alibi der Polemik also stellt sich Nehamas der Herausforderung Nietzsches und versucht ihr mit einem Rekurs auf die Dichtung zu begegnen, natürlich so wie er sie versteht und wie sie ohne Zweifel lange verstanden worden ist. Versuchen wir also die Argumentation Nehamas' zusammenzufassen, ohne zu verkennen, daß jede solche Zusammenfassung notwendigerweise die Komplexität einer Argumentation zwangsläufig reduzieren muß.

Nehamas' Einsicht ist kaum ganz neu, obwohl sie in den Kreisen der angelsächsischen Philosophie, aus denen er kommt, ebenso kontrovers bleiben dürfte wie Nietzsche selbst. Nietzsche, stellt Nehamas fest, betrachtet die Welt "wie einen Text", und zwar im de Saussureschen Sinne:

Nietzsche behauptet, daß nichts in der Welt irgendwelche ihm innewohnende eigentümliche Züge besitzt und daß jedes Ding allein durch seine Beziehungen zu und Differenzen von allen anderen konstituiert wird. Wir können also sagen, daß Nietzsche die Welt so betrachtet, als ob sie eine ungeheure Sammlung [...] von Zeichen wäre; und nochmals erscheint es kaum als Zufall, wenn er die Welt als einen Text denkt. (82)
Wo aber, fragt Nehamas weiter, findet man eine derartige Einstellung eher verwirklicht, als in der Literatur, wo in der Tat alles mit allem semiotisch und differentiell, d.h. textuell, zusammenhängt; wo alles erst aus seinen Beziehungen seine eigentliche Bedeutung bezieht. Im Zusammenhang dieser Argumentation aber scheint für Nehamas nur eine Art von Dichtung in Frage zu kommen: die erzählerische, vor allem die romanhafte. Warum diese Einschränkung? Weil nur der Roman jenes Ziel erreichen kann, die Nehamas als bestimmend für Nietzsches Denken erachtet: die Herstellung einer selbständigen, zusammenhängenden Erfahrungseinheit, anders gesagt, eines einheitlichen Subjekts:
Wenn wir annehmen, daß Nietzsche die Menschen wie literarische Charaktere und das Leben wie ein literarisches Werk betrachtet, werden wir vielleicht erklären können, wieso er den Inhalt seines idealen Lebens derart unbestimmt belassen kann. Nietzsche ist deutlich mehr mit der Frage beschäftigt, wie Handlungen in ein bündiges, selbsterhaltendes, wohlmotiviertes Ganzes zusammengefügt werden können, als mit der Qualität jener Handlungen für sich genommen. (166)
Diese Perspektive bestimmt Nehamas' Deutung der "ewigen Wiederkehr". Es fehlt hier an Zeit, auf die vielen gedankenreichen Argumente einzugehen, die Nehamas in diesem Zusammenhang entwickelt, besonders in seiner Diskussion der Beziehung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (160). Ich muß mich hier auf die allgemeine Richtung beschränken, in die seine Argumentation sich bewegt. Für Nehamas also bedeutet die ewige Wiederkehr die Möglichkeit, ein Leben als Ganzes zu bejahen und zugleich "unser gesamtes Selbst anzunehmen" ("to accept our whole self"). (163) Diese Totalität findet man, so Nehamas, vor allem in der Romanliteratur, wobei er Proust als Modell anführt. Der Erzähler der Recherche, so Nehamas, beschreibt alle möglichen bedeutungslosen, zufälligen, manchmal grauenhaften Erlebnisse, die offenbar nichts miteinander zu tun haben:
Dennoch, gerade die disparaten zufälligen Ereignisse sind es, die es ihm schließlich ermöglichen, ein Autor zu werden, sie als Teile eines einheitlichen Zusammenhangs (parts of a unified pattern) zu sehen, dessen Resultat seine Entscheidung ist, endlich sein erstes Buch zu schreiben. (167-168)
(Wieso "endlich"?) Über die Lektüre der Recherche, die eine derartige Deutung ermöglicht, ließe sich natürlich lange diskutieren. Ich beschränke mich hier bloß auf den Hinweis, daß sie eine Lektüre ist, welche die retrospektive Erinnerung zugunsten der prospektiven (in Kierkegaardschen Sinne) Wiederholung privilegiert. In der Zeit aber, die mir noch bleibt, möchte ich jetzt zwei Stellen von Nietzsche kurz anlesen: mehr werde ich kaum leisten können, denn die Stellen sind unendlich kompliziert und bedürften einer viel umfangreicheren Behandlung, als ich ihnen hier widmen kann. Es ist immerhin bezeichnend, glaube ich, daß für Nehamas trotz seiner Betonung der Bedeutung des Schreibens für Nietzsche dieses Schreiben nie als solches den Gegenstand einer genauen, d.h. auch syntaktischen Lektüre bildet. Die Rede von Relationen, welche Bedeutung konstituieren, führt Nehamas nicht dazu, Nietzsches eigene Schreibpraxis bezüglich dieser nämlichen Relationen zu befragen. Texte werden, wie zumeist bei philosophischen Untersuchungen, nur als Ansammlungen von Aussagen behandelt. Die "Literatur" wird herbeizitiert, doch lediglich als Begriff oder Idee - und sei es Idee eines "Textes" - niemals aber als etwas, was im emphatischen Sinne gelesen würden müßte.

III. Kommen wir nun schließlich zur "ewigen Wiederkehr". Viele von ihnen werden die einschlägigen Stellen bei Nietzsche schon "kennen", aber ich möchte trotzdem zwei davon ausführlich zitieren, denn darüber kann man wenig sagen, wenn man nicht auf gewisse Details eingeht, die allzu leicht in Vergessenheit geraten, weil sie semantisch und thematisch marginal zu sein scheinen. Die erste Stelle, die ich mit Ihnen lesen möchte, stammt aus der "fröhlichen Wissenschaft", aus dem Jahre 1882 also, und steht unter dem Titel "Das größte Schwergewicht":

Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: "Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch ein Mal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und Alles in derselben Reihe und Folge - und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht - und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!" - Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? (IV.341)
Ich unterbreche die Stelle hier kurz, denn gleich wird sie auf bestimmte Weise komplizierter werden - als ob sie nicht schon kompliziert genug wäre. Versuchen wir vorher einige Aspekte hervorzuheben. Erstens wird alles in einer hypothetischen, wenn man will, "fiktionalen" Art dargestellt: Was wäre wenn... Stelle Dir vor, eines Tages oder Nachts usw. Was soll also derart vorgestellt werden? Erstens, daß irgendetwas in Deine intimste Lebenssphäre einbricht. Nein, schlimmer noch: nachschleicht. Man wird dort aufgesucht, wo man sich am sichersten wähnt: in der "einsamsten Einsamkeit". Man mag also bei sich verweilen, einsam und allein, sicher ist man keineswegs. Man wird "heimgesucht" und zwar von jenem Dämon, der eine Zukunft vormalt, welche die merkwürdige Eigenart hat, die Vergangenheit zu bespiegeln. Alles wird wiederkommen, nicht nur alle Dinge, sondern ebenso ihrer Beziehungen, "alles in derselben Reihe und Folge", die kleinsten Dinge, wie "diese Spinne und dieses Mondlicht", ebenso wie die abstraktesten Vorstellungen des hic et nunc: "ebenso dieser Augenblick und ich selber". Es wird also nichts Neues geben können; wie ein Plattenspieler an einer gewissen Stelle immer wieder stolpert und von vorn anfängt, wird es nichts Neues geben außer der Wiederholung, die selbst immer wiederkehrt, mit dem Augenblick, in dem der Dämon plötzlich auftauchte: "und ebenso dieser Augenblick und ich selber". Es ist daher eine schwindelerregende Aussicht: es kehrt nicht nur das selbe immer wieder; auch das Immer-wieder selbst kehrt wieder.

Einerseits also meint man das zu finden, was Philosophen wie Nehamas, aber auch Heidegger besonders an Nietzsche schätzen: die Vorstellung einer Ganzheit, sei sie die des Lebens und der Person, sei sie die des Seienden als Seienden. Andererseits - und hier unterscheidet sich Heidegger von Nehamas - andererseits bedeutet diese Wiederkehr des Ganzen bemerkenswerter Weise nicht seine Bestätigung, nicht seine einfache Verdoppelung, sondern seine Aufspaltung. Denn wie jene Platte, die immer wieder an derselben Stelle stolpert und von vorne anfangen muß, wird ein derartiges Leben kaum zu einer abgerundeten Ganzheit. Daher auch die extremen Reaktionsmöglichkeiten, die der Dämon antizipierend aufzählt (und hiermit kehren wir zurück zu jener Stelle, die wir jetzt zu Ende lesen):

Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: "du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!" Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei allem und jedem: "willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?" würde als das größte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müßtest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach nichts mehr zu verlangen als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? -
Diese Textstelle endet übrigens mit zwei Zeichen, die nicht ausgesprochen werden und daher leicht übersehen werden könnte: mit einem Fragezeichen und einem Bindestrich. Doch dieser Bindestrich bindet mit nichts außer dem "ewigen Bestätigung und Besiegelung" der Wiederholung "selbst". Die Wiederholung bringt eigentlich nichts Neues, aber indem sie das Alte wieder aufstehen läßt, bringt sie ebensowenig einfach das Gleiche wieder. Denn das Gleiche, das "in derselben Reihe und Folge" wiederkehrt, "ist" nicht mehr das Gleiche, ist weder einfach Alt noch einfach Neu. Daher dreht sich die Zeit wie jene "ewige Sanduhr": "und du mit ihr". Daher kommt es auch, daß wenn "jener Gedanke über dich Gewalt bekäme", er dich so "wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen" würde. Warum zermalmen? Vielleicht, weil er dir vorführt, daß das Selbst, wie es ist, nur sein kann, sofern es jenen Augenblick immer wieder vergessen muß, in dem die Wiederholbarkeit die Zeit umstülpt.

Die ewige Wiederkehr wird jedenfalls als Botschaft eines Dämons dargestellt und in der Form einer Begebenheit erzählt. Doch als die Geschichte fortschreitet, entdeckt man, was das "Einschleichen" des Dämons schon angekündigt hat: daß "jener Gedanke" immer schon "über dich Gewalt" gehabt hat. Nicht erst mit dem Auftauchen des Dämons ist er entstanden, sondern etwas Dämonisches - etymologisch der "Verteiler" des Schicksals - ist immer schon "da" gewesen. Daher fährt der Dämon fort, indem er an Früheres appelliert: "Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: 'du bist ein Gott...' " Der Gedanke der ewigen Wiederkehr gewinnt an Gewalt in dem Maße, als er immer schon wirksam gewesen ist, in der Ungeheuerlichkeit eines Augenblicks, der nie ein für allemal "da" ist, sondern immer erst wiederkehrt, nie ganz derselbe, aber auch nie ganz anders.

Doch es ist erst an der zweiten Stelle, zu der ich jetzt kommen möchte, daß die Ungeheuerlichkeit eines Augenblicks, der nie ganz "da" ist, am mächtigsten auftritt. Diese Stelle steht im Dritten Teil des Zarathustra, in einem Abschnitt, der immer wieder in Zusammenhang mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr zitiert wird, obwohl bezeichnenderweise diese Wendung als solche gar nicht vorkommt. Diesmal wird nicht nicht allein erzählt, sondern vor allem in Szene gesetzt. Der Abschnitt heißt "Vom Gesicht und Rätsel", ein Titel, der zugleich die Beziehung von Erscheinung und Erkennen anspricht. Etwas erscheint, was dennoch ein Rätsel bleibt. Damit wird es notwendig, nicht allein auf das zu blicken, was erscheint, sondern auf die Art und Weise zu achten, wie es erscheint, oder genauer, wie inszeniert wird. Denn es geht an dieser Stelle eher um eine theatralische Darstellungsweise, wovon das Narrative, die Handlung, nur einen Teil bildet, keineswegs aber das Ganze.

Für diejenige, die es nicht kennen oder lange nicht mehr gelesen haben, erlaube ich es mir, diese Szene wieder in Erinnerung zu rufen. Zarathustra, der, "nicht lange still sitzen" kann (III.1, 403), "erlebt endlich nur noch sich selber" und beginnt "seine letzte Einsamkeit", indem er von seinem Berg heruntersteigt und auf eine Schiffsreise geht. Zwei Tage lang schweigt er, bis er am Abend des zweiten Tages endlich zu reden beginnt. Und zwar erzählt er den Schiffsleuten "das Rätsel, das ich sah, - das Gesicht des Einsamsten.-"

Wieder wird eine gewisse Einsamkeit zum Ausgang einer Erzählung. Doch diesmal schleicht kein Dämon ein, der einen "Gedanken" vorträgt. Vielmehr wird eine andere Reise erzählt, diesmal eine, die sich auf dem festen Lande abspielt. Zarathustra steigt einen Bergpfad hinauf und trägt auf seinen Schultern so etwas wie den "Geist der Schwere", der sich nicht eindeutig identifizieren läßt: "halb Zwerg, halb Maulwurf, lahm: lähmend; Blei durch mein Ohr, Bleitropfen-Gedanken in mein Hirn träufend". Man sieht, es geht immer noch um "das größte Schwergewicht", diesmal in der zwielichtigen Gestalt jenes Zwerges oder Maulwurfes. So schwer er zu tragen ist, sein Gewicht, so scheint es, hilft Zarathustra, seine Angst vor dem Abgrund zu ertragen. Es verlangt also einen besonderen Mut, die lästige Last des Zwerges endlich abzuschütteln:

Der Mut schlägt auch den Schwindel tot an Abgründen: und wo stünde der Mensch nicht an Abgründen! Ist Sehen nicht selber - Abgründe sehen! (407)
Sehen also, weit davon entfernt Trost zu bringen, bringt den Menschen an den Rand des Abgrundes, oder genauer, zeigt ihm, daß er sich immer schon am Abgrund befindet. Daher kann sogar der lästigste Zwerg, den man auf seinen Rücken trägt, ein Trost sein, da man ihn gerade nicht sieht, sondern nur sein Gewicht fühlt.

Daher ist Zarathustra erst imstande, sich von den lästigen Zwerg zu trennen, als er sich in der Lage fühlt, den Abgrund auch ohne den Zwerg ertragen zu können: "Du kennst meine abgründlichen Gedanken nicht!" ruft er dem Zwerg zu; "Den - könntest du nicht tragen!" (408) Da springt der Zwerg plötzlich ihm von der Schulter, hockt auf einem Stein und verschwindet langsam von der Szene. Doch nicht sofort, denn Zarathustra braucht ihn noch als Publikum, damit er seinen "abgründlichen Gedanken" darstellen kann:

Siehe diesen Torweg! Zwerg! sprach ich weiter: der hat zwei Gesichter. Zwei Wege kommen hier zusammen: die ging noch niemand zu Ende. Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus - das ist eine andere Ewigkeit. Sie widersprechen sich, diese Wege; sie stoßen sich gerade vor den Kopf - und hier, an diesem Torwege, ist es, wo sie zusammenkommen. Der Name des Torwegs steht oben geschrieben: 'Augenblick?' [...] Siehe, sprach ich weiter, diesen Augenblick! Von diesem Torwege Augenblick läuft eine lange ewige Gasse rückwärts: hinter uns liegt eine Ewigkeit. Muß nicht, was laufen kann von allen Dingen, schon einmal diese Gasse gelaufen sein? Muß nicht, was geschehen kann von allen Dingen, schon einmal geschehn, getan, vorübergelaufen sein? Und wenn alles schon dagewesen ist: was hältst du Zwerg von diesem Augenblick? Muß auch dieser Torweg nicht schon - dagewesen sein? Und sind nicht solchermaßen fest alle Dinge verknotet, daß dieser Augenblick alle kommenden Dinge nach sich zieht? Also - - sich selber noch? Denn, was laufen kann von allen Dingen: auch in dieser langen Gasse hinaus - muß es einmal noch laufen! - Und diese langsame Spinne, die im Mondscheine kriecht, und dieser Mondschein selber, und ich und du im Torweg, zusammen flüsternd, von ewigen Dingen flüsternd - müssen wir nicht alle schon dagewesen sein? - und wiederkommen und in jener anderen Gasse laufen, hinaus, vor uns, in dieser langen schaurigen Gasse - müssen wir nicht ewig wiederkommen? - Also redete ich, und immer leiser: denn ich fürchtete mich vor meinen eigenen Gedanken und Hintergedanken.
Die Zeit wird knapp, und erst jetzt komme ich zu jenem Teil der Geschichte, des Drehbuchs, der mich eigentlich interessiert. Ich muß mich also beeilen und mich auf wenige Bemerkungen in bezug auf das gerade Zitierte beschränken. Wenn man die Stelle mit der früheren, "Das größte Schwergewicht", vergleicht, so wird man sehen, daß sie zunächst abstrakter, genereller und dennoch bestimmter ist (oder sein wird). Denn zunächst geht der abgründige Gedanke weniger um Zarathustra "selbst" als um Anderes, Äußeres: den Torweg, der "Augenblick" heißt, wo Vergangenheit und Zukunft zusammenlaufen wie zwei endlosen Wege. Oder es geht wieder um jene Spinne im Mondschein und um den Mondschein selbst: um Zeit und Raum, Licht und Dunkel. Es geht also um Sachen, die zwar "da" sind, die aber "schon dagewesen" waren und wieder "da" sein werden. Und diese Aufspaltung des "da-seins" durch seine Wiederholbarkeit erzeugt zwar eine "Verknotung" aller Dinge, doch auf eine sehr andere Weise, als sie Nehamas vorstellt: denn diese Verknotung bildet nicht die Dichtheit eines Gewebes, das dann doch den Stoff einer Ganzheit abgeben könnte, sondern sie wird vielmehr zur Bewegung des Entschwindens, in den der Augenblick selbst geriet: "Und sind nicht solchermaßen fest alle Dinge verknotet, daß dieser Augenblick alle kommenden Dinge nach sich zieht? Also - - sich selber noch?"

Der Augenblick geriet in Bewegung, wird "nachgezogen", und mit ihm die Zeit selbst. Das läßt sich an zwei Zeichen erkennen. Erstens, an die Verwendung des Partizipium präsens, der die Gegenwärtigkeit der Teilnehmenden in einer Bewegung der Wiederholung teilweise auflöst oder zumindest verräumlicht:

Und diese langsame Spinne, die im Mondscheine kriecht, und dieser Mondschein selber, und ich und du im Torwege, zusammen flüsternd, von ewigen Dingen flüsternd - müssen wir nicht ewig wiederkommen?-"
Das Partizipium präsens löst die Gegenwart auf und bringt den Augenblick in Bewegung, wenngleich in eine, die nirgendwo hingeht und darin der der "langsamen Spinne" nicht ganz unähnlich ist. Was sich aus dieser merkwürdigen Bewegung ergibt, zeigt sich in dem zweiten Zeichen: die Wiederkehr des "da", nicht um einen Ort zu fixieren, sondern vielmehr um eine Bewegung zu unterbrechen und eine andere hervorzurufen:
Also redete ich, und immer leiser: denn ich fürchtete mich vor meinen eigenen Gedanken und Hintergedanken. Da, plötzlich, hörte ich einen Hund nahe heulen. Hörte ich jemals einen Hund so heulen? Mein Gedanke lief zurück. Ja! Als ich Kind war, in fernster Kindheit: -da hörte ich einen Hund so heulen. Und sah ihn auch, gesträubt, den Kopf nach oben, zitternd, in stillster Mitternacht, wo auch Hunde an Gespenster glauben: -also daß es mich erbarmte. Eben nämlich ging der volle Mond, totschweigsam, über das Haus, eben stand er still, eine runde Glut, - still auf flachem Dache, gleich als auf fremden Eigentume: - darob entsetzte sich damals der Hund: denn Hunde glauben an Diebe und Gespenster. Und als ich wieder so heulen hörte, da erbarmte es mich abermals. Wohin war jetzt Zwerg? Und Torweg? Und Spinne? Und alles Flüstern? Träumte ich denn? Wachte ich auf? Zwischen wilden Klippen stand ich mit einem Male, allein, öde, im ödesten Mondscheine. (409)
Da - wird Zarathustra plötzlich in seinem Erzählen unterbrochen: durch ein "da" das, wie wir schon gelesen haben, mit sich nicht einfach mehr übereinstimmt: alles ist schon "dagewesen", wie es "da" sein wird. Wo, da? Wer geht da? Jedenfalls kein Mensch, keine Person, nichts, was je den Rohstoff zur Fertigung eines Selbst abgäbe. Sondern ein Hund, der heult. Erst dieses Heulen löst die Erinnerung in Zarathustra aus an ein früheres Heulen: "da hörte ich einen Hund so heulen. Und sah ihn auch [...] zitternd ..." Und warum zitterte und heulte der Hund? Wiederum hängt die Antwort von dem "da" ab, von dem Ort, wo etwas banales und dennoch unheimliches im Gange war: "Eben nämlich ging der volle Mond, totschweigsam, über das Haus, eben stand er still, eine runde Glut, - still auf flachem Dache, gleich als auf fremden Eigentume." Der Hund heult, zitternd, "denn Hunde glauben an Diebe und Gespenster". Als er den Hund "wieder so heulen hörte, da erbarmte es mich abermals." "Da": der wiederholbare Augenblick markiert den Ort einer Erscheinung, wo ein "totschweigsamer" Mond gleichsam Hand anlegt "auf fremden Eigentume", den intimen Ort des Eigenen derart in Frage stellend. Hunde, domestizierte Tiere par excellence, "glauben an Gespenster", und sind vielleicht darin klüger als ihre Herren. Denn vor der Bewegung der Wiederholung und der Auflösung des Augenblicks schützt kein noch so raffiniertes Sicherheitssystem.

Das Beste kommt noch. Doch die Zeit vergeht. Ich werde mich also mit einem letzten längeren Zitat genügen, das ich kaum kommentieren werde, um damit schnell zum Schluß zu kommen. Ich bitte Sie nur, auf das wiederholte Vorkommen des "da" in dem folgenden Passus zu achten, als Zarathustra erzählt, was ihm widerfährt, nachdem er wieder zu sich gekommen ist, doch sich völlig allein findet, ohne Zwerg, Torweg und Spinne, "im ödesten Mondscheine":

Aber da lag ein Mensch! Und da! Der Hund, springend, gesträubt, winselnd - jetzt sah er mich kommen - da heulte er wieder, da schrie er - hörte ich je einen Hund so Hilfe schrein? Und, wahrlich, was ich sah, desgleichen sah ich nie. Einen jungen Hirten sah ich, sich windend, würgend, zuckend, verzerrten Antlitzes, dem eine schwarz schwere Schlange aus dem Munde hing. Sah ich je so viel Ekel und bleiches Grauen auf einem Antlitze? Er hatte wohl geschlafen? Da kroch ihm die Schlange in den Schlund - da biß sie sich fest. Meine Hand riß die Schlange und riß - umsonst! sie riß die Schlange nicht aus dem Schlunde. Da schrie es aus mir: "Beiß zu! Beiß zu! Den Kopf ab! Beiß zu!" - so schrie es aus mir, mein Grauen, mein Haß, mein Ekel, mein Erbarmen, all mein Gutes und Schlimmes schrie mit einem Schrei aus mir. (410)
Nach dieser Erzählung, die wie sie sehen, eher einem Drehbuch als einem Roman verwandt ist, geht Zarathustra über, seine Fragen und Rätsel an die zuhörenden Schiffer zu stellen: "Was sah ich damals im Gleichnisse...Wer ist der Hirt usw". Dafür bleibt uns keine Zeit und ich muß gestehen, daß ich das nicht bedauere. Denn die Macht dieser Zeilen liegt nicht in den Antworten, die solche Fragen hervorrufen könnten. Solche lenken, glaube ich, nur ab von dem, was am stärksten in diesem Text ist und was die "ewige Wiederkehr" gleichsam praktisch einschreibt: ich meine, die Wiederholung und Aufspaltung des "da", das sowohl "hier" wie "dort", "jetzt" wie "dann" bedeutet, und das vor allem das Unterbrechen des fortschreitenden, zielbewußten Gedankenganges bewirkt. Das "da" ist der theatralische Gestus par excellence, der Nietzsches Beschreibung der ewigen Wiederkehr punktiert und skandiert: "Aber da lag ein Mensch! Und da! ... da heulte er wieder, da schrie er ... da schrie es aus mir..."

Vieles wäre dazu zu sagen. Dafür bleibt aber keine Zeit, diesmal zumindest. Es genügt vielleicht, vorerst auf die Mächtigkeit dieser kleinen Präposition hingewiesen zu haben, als Zeichen jenes "abgründigen Gedankens", den Nietzsche "ewige Wiederkehr" nannte, Derrida "Iterabilität", Kierkegaard, "Wiederholung".

Daran läßt sich vielleicht ein Schlußwort anknüpfen, zur Herausforderung der Literaturwissenschaft durch den Poststrukturalismus. Der Poststrukturalismus ist vielfältig, heterogen, er fordert auf verschiedene Weise heraus. Doch eine dieser Herausforderungen besteht darin, nicht zu vergessen, daß das, was wir "Literatur" nennen, nicht einfach als Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung dienen kann. Diejenigen, die Literatur studieren, nehmen auch daran teil: sie sollten das weder vergessen, noch ihre Teilnahme für das Ganze nehmen. Gibt es dieses Ganze? Wo findet man es? Da? 5

Paris, Oktober 1995


4 Alexander Nehamas, Nietzsche: Life as Literature, Cambridge/London: Harvard UP:1985. Zurück

5 Wenn Nehamas schreibt: "Literary characters are exhausted by the statements that concern them in the narratives in which they occur: they are in fact nothing more than what is said of them, just as they are nothing less." (165) - wird man ihm nicht einfach widersprechen wollen. Doch die Frage bleibt: Wo beginnt und endet alles, was über literarische Charaktere gesagt wird? Wird es allein auf das beschränkt, was sich "in" dem Text ausdrücklich auf sie bezieht? Wie soll man denn jene Aspekte des Textes einschätzen, die eher über Bedingungen und Beziehungen als direkt über Charaktere etwas aussagen? Und sind dann allein "Charaktere" und "Aussagen" wichtig in einem literarischen Text? Schließlich, wie soll man jene Aussagen werten, die "von außen" den Text visieren: gehören sie nicht mehr dazu? Gibt es, wie Benjamin sagen würden, kein "Nachleben" des Textes? Der Text ist auch "da"... Zurück

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