Gespräch mit Samuel Weber

am 6. September 1997 in Kassel am Rande des Kongresses
"Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien"

Frage: Sie haben über die Virtualität der Medien gesprochen. Gibt es nicht auch eine Virtualität der Theorie, also auch der Worte, der Konstruktion?

Samuel Weber: Ganz gewiß: man benutzt den Begriff der Theorie, aber im Grunde genommen, die Theorie, die für mich und ich glaube für viele anderen interessant ist, ist ein Denken, was gerade diese Bezeichnung "theoretisch" schon seit 150 Jahren in Frage stellen will. Ich spreche nur für mich, natürlich, aber es gibt andere, die wahrscheinlich ähnlich denken. Das fängt (etwa) mit Kierkegaard an, (obwohl es eigentlich keinen linearen Anfang gibt, man könnte also in diesem Zusammenhang auch auf Pascal und Montaigne verweisen) - eine Art von, wenn man so will, skeptischer Tradition - aber (dennoch fängt) mit Kierkegaard etwas an, was die Gegenüberstellung von Theorie und Praxis im herkömmlichen Sinne wirklich in Frage stellen will, und das geht damit zusammen, da diese Denker schreiben - das ist ihr Medium zunächst - daß das Medium des Schreibens anders zur Geltung kommt, als ein bloßes Mittel, ein Instrument, um Gedanken und Begriffe zu artikulieren, die gewissermaßen jenseits des Geschriebenwerdens und des Schreibens existierten. Also, um nur einige Namen zu nennen: bei Kierkegaard, Nietzsche, Marx, Freud, Heidegger, Derrida ist der Begriff des Theoretischen nie einfach hingenommen oder bejaht, insofern er eine Art von kontemplativem Abstand zumeist voraussetzt. Dieses Infragestellen des "Theoretischen" als neutralen Mediums der Erkenntnis bereitet den Weg für das Aufkommen eines Begriffs des Medialen vor, der nicht mehr neutral oder passiv im Sinne eines "Intervalls" gedacht wird. Damit fällt ein kritisches Umdenken des "Theoretischen" mit einer Erneuerung des Medienbegriffs zusammen.

Frage: Ja, wenn die Theorie nicht mehr den Abstand hat, ist es nicht auch eine gewisse Affirmation, die da passiert?

Weber: Affirmation wovon? Vielleicht hilft es hier, die Situation philosophiegeschichtlich zu bedenken. Kant ist sehr wichtig in dieser Geschichte, und zwar weil mit Kant, die Philosophie, vielleicht nicht zum ersten Mal aber jedenfalls sehr emphatisch, einen Trennungsstrich zieht zwischen einem Denken, das auf Wissen oder auf Erkennen zielt, und einem, was dazu notwendig ist, nicht aber selbst mit Wissen und Erkennen zusammenfällt. Wie Kant am Anfang der Kritik der reinen Vernunft schreibt: wir müssen gewisse Sachen denken, und nicht die unwichtigsten, die wir vielleicht nicht erkennen können. (Vorrede zur zweiten Auflage, B XXVI: "Gleichwohl wird ... daß wir eben dieselben Gegenstände auch als dinge an sich selbst, wenn gleich nichterkennen , doch wenigstens müssendenken können.") Und das führt bei Kant dann auch zu einer Idee des Praktischen, die gar nichts mit dem gemeinsam hat, was man normalerweise unter Theorie und Praxis versteht - Praxis als einer Art von Ausführung des Gedachten in der Realität - das ist es überhaupt nicht, sondern es ist eine Tätigkeit, die eben prinzipiell nicht auf Erkennen reduziert werden kann und dennoch nicht einfach halluzinatorisch ist. Und mit dieser Einführung eines Praxis begriffs, der nicht auf Erkennen beruht, und dennoch etwas wesentlich mit Denken zu tun hat, öffnet sich ein Bereich des Fragens, der, glaube ich, sehr mit der ganzen Frage des Medialen zusammenhängt.
Also, um auf die Frage zurückzukommen, Kant z.B. bejaht die Notwendigkeit eines nichtkognitiven Denkens, aber kann man sagen, das ist einfache Affirmation? - Jedenfalls nicht, wenn man Affirmation mit Erkennen zusammenbringt. Dort steckt das ganze Drama des Kant ischen Denkens für mich, warum es so interessant und auch so schwierig ist: damit ringt er mit der Notwendigkeit - wie soll ich etwas darstellen, was notwendig ist, was aber nicht einfach auf verifizierbare Erkenntnisbegriffe zurückgeführt werden kann. Also ist das nun Affirmation oder nicht? Wenn Affirmation, denn vielleicht eine, die eher in die Richtung des Glaubens tendiert, als in die Richtung der Erkenntnis.

Frage: Wir hatten eben den Begriff Darstellbarkeit, das ist ja dann nochmals ne andere Sache, daß gerade die naturwissenschaftlichen Theorien ja zu ganz anderen Darstellungsformen, Michel Sertest haben Sie ja sehr schön beschrieben, also Tafel und die Tabellen und alles mögliche, geführt haben - in der Logik gibt`s sowas auch, aber in der Philosophie weniger, klar, da haben wir`s auch, in bestimmten logischen Darstellbarkeits sachen - es gibt diese Grenze mündliche Theorie / geschriebene Sache, also die Schrift arbeitet mit an unseren Gedanken, so daß, was Kittler sozusagen für die Literaturtheorie gemacht hat... - also wie ist da das Verhältnis von Theorie zu den Mitteln, zu den tools - jetzt natürlich bezogen auf Computer, Schreibmaschine, Telefon, auch was wir im Kongress gehört haben...

Weber: Die Rede von "tools" bringt mich auf einen Namen, einen Denker, der fast gar nicht während dieses Kongreßes erwähnt worden ist und den ich daher mindestens ganz kurz erwähnen möchte: auf Heidegger und vor allem auf seinen Begriff der Technik, der keinesfalls, wie so oft unterstellt wird, in einer retrograden Ablehnung der Technologie besteht, sondern der vielmehr die normale, die herkömmliche Auffassung von Wissenschaft und Technik umkehrt. Heidegger besteht darauf, daß die Technik nicht einfach in einer Anhäufung von "tools" besteht, sondern vielmehr eine Seinsweise beinhaltet, eine Einstellung zur Welt, die viel grundlegender ist, als selbst das Wissen. Sie sehen, das er fügt sich mit solchen Gedanken in die Kant ische Tradition hinein, sofern diese auf die Bedeutung einer denkenden Praxis insistiert, die eben nicht auf Erkennen reduziert werden kann. Wenn man also Wissenschaft mit Erkennen gleichsetzen will, so bedeutet das, daß die Technik nicht einfach ein Resultat der Wissenschaft ist, sondern vielmehr eine Praxis beinhaltet, welche dieser zumindest ebenbürtig ist. Der Einschnitt bestünde also in einer Wendung zum Materiellen, zum Technischen, die nicht mehr als bloßer Ausdruck eines Geistigen, oder als Funktion einer Geisteswissenschaft zu verstehen wären, sondern eher als deren praktische Vorbedingung. Von dem Punkt an gewinnt alles, was mit Technischen und Medialen zusammenhängt an Autonomie. Es soll nicht übersehen werden, daß diese Aufwertung der Technik im Vergleich zur Wissenschaft in der Philosophie wohl erst bei Heidegger emphatisch ausgearbeitet wird. Aus dieser Einsicht in die bestimmende Funktion des Medialen und des Technischen ergibt sich die Notwendigkeit, räumliche Fragen neu zu durchdenken. Die Frage also wird, wieder Raum des Medialen, des Technischen, oder des Experimentellen gedacht wird. Ich glaube, das führt häufig auf die Frage des Rahmens. Mit der Entwicklung des Medialen und des Technischen, und mit ihre Auswirkung auf die Praktiken des Erkennens und des Wissens, was immer problematischer wird ist das Vorgegebensein eines in sich geschlossenen, stabilen Rahmens. Ich verweise da, um vom Philosophischen einmal wegzukommen, auf die sehr interessanten wissenschaftshistorischen Arbeiten von Bruno Latour über die Auswirkungen und Kämpfe um Pasteur im 19. Jahrhundert. Ich weiß nicht, ob das Buch ins Deutsche übersetzt worden ist, auf französisch heißt es "Die Mikroben", und spielt damit ironisch auf das berühmte Buch von Robert Koch, die "Mikrobenjäger", welches die Wissenschaft zum Heldenepos macht. Dagegen geht es Latour darum zu zeigen, wie bei Pasteur u.a. der Begriff des "Labors"beweglich gemacht wird - es wird aufs Land gebracht - und dennoch wird mit dieser Beweglichkeit des Labors die Frage der Grenzsicherung wissenschaftlicher Resultate akut dargestellt. Anstelle gejagt zu werden, werden "die Mikroben" gleichsam zum larvierten Agenten sozialer Konflikte und Kämpfe, wobei die wissenschaftliche Strenge eben als Funktion von gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse erscheint. Die Sicherung dieser Verhältnisse durch wissenschaftliche "Erkenntnis" verlangt eben die Etablierung und Sicherung von etablierten Rahmen, die als Vorbedingung einer gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnis gilt. Wenn also langsam die Macht des Medialen und der Technik sich von der der Wissenschaft sich unabhängig macht, so bedeutet das, daß die etablierten Grenzen und Rahmen nicht mehr selbstverständlich sind. Das Aufkommen des Medialen hängt daher engstens mit der Frage der Begrenzbarkeit zusammen: die bisher geltende Grenzen und Rahmen gelten nicht mehr; noch mehr, die bisher geltende Arten und Weisen, überhaupt Grenzen zu ziehen, Räume aufzuteilen, werden nicht mehr einfach hingenommen. Daher wird die Macht des Medialen und der Medien zunehmend mit dem Vermögen zusammengebracht, Fragen der Eingrenzung neu zu gestalten.

Frage: Und glauben Sie, daß für die Theorie auch so etwas feststellbar ist, wie Kittler das ja für die Literatur versucht hat mit seinen Aufschreibesystemen zu untersuchen - was ja teilweise (als) etwas oberflächlich und platt gesagt wird, in "Nietzsche und die Schreibmaschine" usw. - aber trotzdem ist ja doch ein gewisser Zusammenhang (...) (was ich vorhin schon ansprach) von diesen tools und Hilfsmitteln des Denkens, die man benutzt - Luhmann und die Kartei und Zettelkästen um komplexe Theorien herzustellen - jetzt übertragen auf die Computer - natürlich Hypertextsysteme, Netzwerke - mögliche neue Publikations- und Veröffentlichungsformen - sehen Sie da auch was für Ihren aktuellen Rahmen, was passiert? - daß da vielleicht neue Paradigmenwechsel anstehen oder schon passiert sind, ich meine, klar, Derrida in seinem Diskurs macht Fußnoten, die über den ganzen Text gehen, Glas - um nur mal so... - die beiden Spalten,... - und - die Wörter brechen aus aus der Linearität !

Weber: Dieser Ausbruch aus der Linearität entspricht dem, was ich als die "praktische" Dimension des Schreibens und des Mediums im Unterschied zum Theoretisch-Begrifflichen zu beschreiben versucht habe. Daher ist es, glaube ich, kaum zufällig, daß die Denker die diese Wendung miteingeführt haben, z.B. Kierkegaard, immer fast "literarisch" in ihrer Schreibpraxis gewesen sind. Ich meine, daß dieser Überschuß des Schreibens über eine Sprache, die sonst als relativ passives Ausdrucksmedium aufgefaßt wurde, trägt entscheidend zurMedialisierung des Denkens bei. Und eine derartige "performative" Auffassung und Ausübung des Mediums muß natürlich nicht allein auf "Sprache" beschränkt werden, sondern ist in ihrer Natur schon tendenziell multimedial . Denn es gehört zum "Medium" in diesem Sinne nicht geschloßen zu sein: es gibt also nie ein einziges Medium sondern immer zugleich mehrere. Der Mediumbegriff wird also in sich heterogen, denn er läßt sich immer weniger auf eine einheitliche Intention oder Begrifflichkeit zurückführen.
Hier finde ich z.B. die Psychoanalyse wichtig indem sie immerhin mit ihrer Thematisierung des Begehrens und ihrer Betonung der Ambivalenz, weitgehend die traditionelle Logik des Bewußtseins und der Identität in Frage stellt.
Als spezifische Antwort auf Ihre Frage kann ich in bezug auf meiner eigenen Praxis nur sagen, daß ich selbst sehr widersprüchlich bin. Einerseits bin ich sehr fasziniert von den multimedialen Möglichkeiten, die für mich prinzipiell durchaus nicht nur legitim sondern notwendig sind. Anderseits muß ich immer wieder feststellen, wie traditionell und durch Gewohnheit bestimmt meine eigene Schreibpraxis bleibt. Allerdings habe ich vor, zunehmend mit den multimedia len Möglichkeiten zu experimentieren, besonders in einem in Vorbereitung befindlichen Untersuchung über "Theatralität im Zeitalter der elektronischen Medien". Aber auch dort bin ich zum Teil an den Momenten interessiert, welche die delokalisierenden Tendenzen der neuen Medien entgegenwirken: wie ich sie etwa in der Beharrlichkeit von "theatralischen" Momenten zu erblicken meinen. Denn das Theatralische betont die Notwendigkeit, trotz aller Delokalisierung eine quasi-lokale "Szene" oder "Zone" dennoch zu bestimmen, und sei sie auch grundsätzlich problematisch.

Frage: Aber das ist ja die Frage! Diese tools fürs Denken. Es sind natürlich kaum tools da, um multimedia le Vortragssachen (irgendwie) zu machen, man muß dann immer irgendwelche tools möglicherweise benutzen oder mißbrauchen, aus der Geschäftswelt oder so, und das war eben gestern Abend, ich weiß nicht ob Sie da waren, bei dieser Diskussion über "Netzkritik", ja auch so ein bißchen der Vorwurf (sozusagen) der Netzaktivisten Gerd Lovink und Pitt Schulz an die klassischen Akademien, zumindest in Deutschland, möglicherweise ist das in Frankreich etwas anders, in Amerika ist es natürlich anders, wo die Akademie da gebaut wird, ob es auch da Aufweichungen gibt, also sozusagen die Medientheorie sachen - es ist natürlich immer Praxis - aber ob's konkrete Schnittstellen zu Praxis zu dem, was man möglicherweise auch zu oberflächlich "Wissensdesign" nennt, also Beuys benutzt das natürlich sehr affirmativ, aber es könnte für mich auch hingehen in neue Poetiken der Theorie, was wir ja bei Benjamin schon hatten, wenn Benjamin über die Passagen schreibt, na ja, die Surrealisten führten da ihre SCHILDKRÖTEN SPAZIEREN IN DEN Passagen, es gibt das Modell des "flaneurs", oder die Extremform wie Virilio, des Schreibstils - was dabei rauskommt darf man vielleicht nicht immer zu wörtlich nehmen, wie soll man das rezipieren - ja, Virilio schreibt wie Unfälle sozusagen: Sachen stoßen zusammen, er macht cut-ups oder so in seinen Geschichten, wie geht man damit um? - Die Rezipienten von so einer experimentellen Medientheorie sind vielleicht auch überfordert...

Weber: Darauf gibt es für mich zwei Antworten: eine generelle und eine spezifischere: Alle Institutionen heute werden zunehmend innerhalb der sogenannten Globalisierung einer Logik unterstellt, die ich eine Logik der Aneignung nennen würde und die, so sehr sie auch technische Innovationen fördert, sich doch immer wieder der traditionellen Logik der Rentabilität und der Aneignung verpflichtet zeigt. Das ist in der Universität nicht anders als anderswo und ist auch in allen Ländern so. Und es ist sehr wichtig festzuhalten, daß genau dieselben Tendenzen, die die Entwicklung der Medientechnik vorangetrieben haben, gleichzeitig Rahmen (für Entwicklungen und Anwendungen) ansetzten, die in nicht innovativer Weise wirken. Dazu kommt noch die sehr geringe Hinterfragung der ethischen und sonstigen Implikationen des Wissenschaftsbegriffs, der übrigens in Deutschland noch viel größeres Prestige genießt als in den Vereinigten Staaten. In den Staaten, wo der Markt weitgehend bestimmend ist, bleibt der Begriff der Wissenschaft auf Naturwissenschaft beschränkt, man redet also nie von Geschichts- oder Literaturwissenschaft, diese Begriffe gibt es nicht, und dieses ganze Ethos der Wissenschaft ist daher nicht so stark. Und wo immer ein unbefragter Wissenschaftsbegriff herrscht, werden sehr starke Widerstände auftreten gegen einen Medienbegriff, der, wie ich meine, notwendigerweise das Wissen in Frage stellt, nicht nur dieses und jenes Wissen, sondern den Wissensbegriff überhaupt. Ironisch ist, daß dieses Infragestellen in nicht geringem Maßen auf deutschsprachige Denker wie Nietzsche oder Freud zurückgeht, für den der Wunsch nach Wissen und Erkenntnis nichts Unschuldiges ist, nie einfach gegeben, wie das seit Aristoteles galt, sondern eine Einstellung voraussetzt, die auf Interesse beruht - und die reflektiert werden muß. Ironisch, weil, wenn ich mich nicht irre, was man die deutsche "Wissensethik" nennen könnte - mit ihrer scharfen Trennung von Ernsthaftem und Spielerischem - besonders hartnäckig gegen dieses Infragestellen vor allem institutionnell gesträubt: durch die Universitäten aber auch durch die Kulturabteilungen der Presse. Dafür ist nach wie vor die Vermeidung einer Auseinandersetzung mit Heidegger das deutlichste Zeichen, wofür das politische "gute Gewissen" als bequemes Alibi dient. Natürlich gibt es ähnliche Tendenzen in den Staaten, die dort aber weniger durch eine Wissensethik als durch Moralisierung tout court sich zu rechtfertigen versuchen.
Eine derartige Situation wird also weitgehend durch zunehmende Widersprüche charakterisiert, sofern einerseits eine Medientechnik rasend entwickelt wird, welche alle "Aneignung" zunehmend fraglich erscheinen läßt, während andererseits die mächtigsten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Instanzen unaufhörlich versuchen, genau diese Technik im Sinne der Aneignung, d.h. der Kommerzialisierung und der Rentabilität, auszunutzen. Auf eine Formel gebracht: die sich ausbreitende "Medialität" unterhöhlt gerade die Seinsweisen und Einstellungen, welche der Kapitalismus weiterhin auch heute voraussetzt: vor allem, die eines autonomen Subjekts (nicht notwendig individuell...), das als Träger und Vorbedingung jeglicher möglichen Aneignung - Verwertung des Wertes, Gewinnträchtigkeit - nach wie vor unabdingbar ist. Einerseits wird das gesamte System der Identität und der Identifizierung durch die Medien in Frage gestellt, andererseits wird es umso phantasmatischer bejaht und totalisiert. Dafür steht heute wohl der Name und das Bild "Bill Gates" als ausgezeichnetes Beispiel: bewundert und gehaßt, Bild der Identifizierung schlechthin. Ich wäre geneigt, in der Überdeterminierung des Eigennamens einen wichtigen Wink zu erblicken: einerseits werden die Toren aufgemacht (heaven's gates), andererseits wird permanent dafür die Rechnung - the Bill - präsentiert. Nach wie vor bleibt der Glaube an einer in sich geschlossenen Identität notwendig, um die ganze bürgerlich-kapitalistische Maschinerie zu legitimieren und noch wichtiger, in Gang zu halten. Denn diese Maschinerie beruht darauf, daß es Einzelne gibt, die aneignen können. Daher bleiben Kategorien wie "Eigennamen" und "Gesicht" auch im Zeitalter der Digitalisierung gesellschaftlich absolute notwendig, auch wenn sie zunehmend als Effekte einer "Synthesierung" erlebt werden.

Frage: Die von Foucault aufgeworfenen Fragen nach der Wissenschaftsordnung und der Macht sind natürlich immer mit dem Wissen verknüpft. Ich weiß nicht, ob Sie es verfolgt haben - für mich eines der interessantesten wissenschaftlichen Experimente - ,84, diese Ausstellung mit Immateriaux von Lyotard, dort gab es im Vorfeld ein über Minitel organisiertes Schreibspiel zwischen den französischen Philosophen - Lyotard, Baudrillard usw. waren beteiligt und haben zu diesen Begriffen der Ausstellung assoziiert und über Minitel so eine Art Archiv geschaffen, das dann in der Ausstellung auf Computern damals den Leuten sozusagen zur Verfügung stand, und die konnten sich selber dort einschreiben - also: Auflösung des Autors / Wie sind die Rezipienten an der Theorie produktion beteiligt? - auch hier: es gibt dann so Medienphilosophen, die vorne etwas erzählen über Bereiche..., und im Publikum sitzen Leute, die z.B. mit den tools viel mehr umgehen als die Denker - und wie kann zwischen denen z.B. vermittelt werden? - zwischen so einer Figur wie Flusser, der wunderbar immer über die Computer assoziieren konnte, ihn nie benutzt hat und wunderbare Thorien aufgestellt hat, die manchmal im Detail falsch waren, wenn es um die Technik ging, aber trotzdem ne Vision irgendwie hatten...

Weber: Die Beziehung zwischen Experimentieren mit neuen Technik en--die, wie gesagt--mehr als bloß "tools" darstellen, und "Wissen" ist in der Tat eine recht komplizierte. Experimente setzten immer ein Wissenstand voraus, den sie zugleich irgendwie verändern und verschieben wollen. Manchmal radikal, häufiger innerhalb bestehenden Parametern. Obwohl es hier keine allgemeingültige Formeln geben kann, glaube ich, daß das experimentierende Infragestellen des Wissens in dessen herkömmlichen Struktur das Entscheidende ist, was sich heute abspielt. Also, nicht einfach dieses oder jenes Wissen, sondern das, was man bislang als Wissen überhaupt betrachtet hat. Es geht dabei um ein Thema, das nicht ausschließlich mit der Technik zusammenhängt, sondern an der die neuere Philosophie seit langem sich abgearbeitet hat: Adorno hat das als die Beziehung vom Allgemeinen zum Besonderen, von Begrifflichen zum Nichtbegrifflichen genannt. Heute würde man vielleicht eher von der Beziehung des Singulären zur Wiederholung reden. Was bedeutet es, etwas erkennen zu können, dessen Singularität gerade nicht im verallgemeinernden Begriffen ganz aufgeht? Es bedeutet, daß der herkömmliche Begriff der "Wahrheit" (als Adäquatio) neu durchdacht werden müssen, wie das vor allem bei Heidegger, aber auch bei Freud, Nietzsche und vielen anderen geschehen ist. Wie Benjamin geschrieben hat, die Wahrheit ist nicht zu "haben", ebensowenig wie das Wissen: sie verflüchtigen sich und eben diese Bewegung der Verflüchtigung, der "Apparition", der geisterhaften Erscheinung, wird durch die "Medialisierung" besonders in den Vordergrund gerückt, falls man so paradox sprechen kann. Daher das Interesse an Geistern, an das Unheimliche, an die Verletzbarkeit und Nichtintegrität des einzelnen Körpers (wie in populären Filmen wie "Alien", "Terminator" usw.).

Aber auch in einem ganz anderen Bereich, der mir allerdings näher liegt, gibt es eine lange Geschichte von Experimentieren, das gerade den überlieferten Wissenstand befragt und verändert. Ich denke da an der Literatur: nicht an der Literatur als Gegenstand einer "Wissenschaft", sondern als Texte die gelesen werden müssen. Diese Lektüre unterscheidet sich radikal von der Erzeugung einer Erkenntnis, sofern Erkenntnis als zeitlos und selbstgleich verstanden wird. Ein Gedicht zu lesen, ein Theaterstück zu erleben, bedeutet gerade nicht, sie ein für allemal zu erkennen. Es bedeutet vielmehr, sie in ihrer spezifischen Medialität zu erleben, was Denken zwar einschließt, wenngleich nicht einfach oder ausschließlich als Erkenntnis. Was der Literaturals performatives Medium von anderen Verwendungen der Sprache unterscheidet, ist die Art und Weise, wie sie über das hinausreicht, was man "normalerweise" erwartet oder intendiert - also über die Einstellungen des Selbstbewußtseins hinaus. Aber dieses "Hinausgehen" muß zugleich ein Dahintergehen sein, soll sie nicht einfach in Effekthascherei ausarten. Ein erfolgreiches Experiment verlangt eine genaue Analyse der bestehenden Machtsituation innerhalb des Wissensgefüges und muß also sehr sorgfältig vorbereitet werden. Man kann das Wissen nur wirksam "von innen" in Frage stellen, nicht einfach dadurch, daß man es von Außen negiert. Und insofern als die Medien, und vor allem ihrer institutionelle und ideologische Ausrichtung heute, auf eine sehr traditionelle Weise den Wert der "Unmittelbarkeit" betonen (wenngleich auf recht paradoxer Art), wirken sie gegen solche Infragestellen und für die etablierte Ordnung. Auf der Medialität im "theoretischen" Bereich bedacht zu bleiben bedeutet, die Besonderheiten des sprachlichen Mediums nie ganz aus den Augen zu verlieren oder als selbstverständlich zu erachten. Es gibt also ein gravierender Unterschied zwischen Denkern, die die "Rhetorizität" ihres Denkens als sprachliches ständig mithineinkalkulieren--Nietzsche, Derrida, de Man, Lacan, Freud --und andere, für die "der Diskurs" zwar thematisiert wird, aber nicht praktisch gehandhabt werden beim eigenen Schreiben. Sammelbegriffe wie "Postmoderne" und sogar "Poststrukturalismus" wirken in dieser Hinsicht eher mystifizierend, sofern sie gerade von solcher performativ-medialen Momenten eher ablenken als berücksichtigen.

Frage: Foucault hat das in seiner Antrittsvorlesung schon thematisiert, also, er spricht von "wo spreche ich?" und hat sozusagen in einer etwas komplizierten rhetorischen Figur sich auf seinen Lehrer berufen und versucht, sich gleichzeitig von dem Platz von dem er spricht zurückzuziehen, er hat außerdem dieses berühmte Interview "Der maskierte Philosoph" zitiert, wo er sagt, er möchte nicht als Foucault sprechen, sondern möchte sich eine Maske aufsetzen und anonym sprechen, weil sonst der Diskurs zu sehr unter dem Namen Foucault läuft, was ja eigentlich seinen Intentionen widerspricht. Das ist aber nicht in seiner Sprache wiederzufinden, es ist bloß Konzept.

Weber: Parallel, oder sogar alternativ dazu würde ich einen Text "La carte postale" von Derrida erwähnen, wo er eben die Situation dieser Identitätsverunsicherung als konstitutiv für das Schreiben selbst und für die Anrede beschreibt. Ähnliches findet sich schon bei Kierkegaard am Schluß seiner Schrift über "Die Wiederholung", wo er bzw. seine Persona sagt: "Ich rede jetzt den Leser an, wir sind unter uns." - Heute denkt man bei solchen Wendungen zwar an Derrida, aber vermutlich hat Derrida das eher von Kierkegaard . DieseInszenierung der Singularität im Schreibprozeß, oder allgemeiner, im Medienprozeß, als aporetisch aber zugleich konstitutiv, scheint mir sehr wichtig zu sein. In der Hinsicht habe ich in letzter Zeit auch sehr viel gearbeitet über Momente der Theatralisierung in bezug auf Medien. Ich finde das interessant, weil man sich das Theater normalerweise als eines der alten Medien denken würde. Aber ich frage mich, ob nicht im alten Medium des Theaters etwas wirksam ist, was auch und vielleicht gerade für die neuen Medien sehr wichtig ist - man denke z.B. an die gestrige Ausführung Victor Burgin über Jenny's Zimmer, wo man auch eine sehr interessante theatralisierte mediale Situation findet. - Das Wichtige am Theatralischen istdie Darstellung für einen Anderen , für Andere, die sich nie erschöpfend identifizieren lassen. Es gibt zwar Zuschauer in einem Raum, aber diese Zuschauer erschöpfen nie die Funktion des Adressaten.

Frage: Ich meine, das Interessante am Theater (wenn Sie es schon ansprechen) und an der europäischen Theorietradition ist doch, daß es im europäischen Raum scheinbar schwierig ist, Leute aus dem Theorie bereich mit fundiertem Forschungs- und Geschichtswissen zusammenzubringen, um dieses auf so Banales wie Oberflächen, wie Konferenzsysteme, die zu programmieren sind, anzuwenden. Ja, da müßten natürlich Diskursexperten her und nicht nur Leute, die einfach die Schaltungen und Programmierungen machen. Und diese Verbindung herzustellen, ist teilweise schwer, weil es ganz andere Sprachen sind.

Weber: Einerseits ist es schwieriger in Europa als in den Staaten, andererseits einfacher. Schwieriger, weil die Traditionen der Einzeldisziplinen in Europa sie viel stärker voneinander abdichten, trotz aller Lippenbekenntnis zur "Interdisziplinarität". Das hängt wohl mit der schon erwähnten Wissenschaftsethik zusammen (Man ist ja "Geschichtswissenschaftler", "Philologe", "Soziologe" und nichts anderes. Sonst ist man als "Wissenschaftlicher" nicht "ernst" zu nehmen. Grenzüberquerungen werden nicht erwünscht.) - In den Staaten dagegen, durch die übermächtige Anwesenheit des Marktes, man ist nicht so sehr "Wissenschaftlicher" als Anbieter einerWare , die wie alle Waren Abnehmer finden muß. Damit wird eine gewisse Beweglichkeit und Dynamik im Bildungsbereich eingeführt. Aber zugleich wird es in den Staaten sehr schwer, über diese Perspektive des Kommerziellen, die wie gesagt eine Logik der Identität voraussetzt, hinauszukommen. Gerade darüber nachzudenken wäre sehr wichtig und daher wäre ich durchaus an Zusammentreffen, wie Sie sie ansprechen, durchaus interessiert. Denn als Einzelner kann man gerade angesichts solcher komplizierte Zusammenhänge wenig ausrichten, und sie sogar wenig verstehen: man braucht verschiedene Perspektive und Erfahrungen. Andererseits ist es mit dem Schaffen von Institutionen und sonstigen Möglichkeiten noch nicht getan, denn auch ein Forum muß genügend Vorarbeit und zum Teil eine gemeinsame Sprache herausgearbeitet haben, um überhaupt produktiv kommunizieren zu können - sonst redet jeder nur vor sich hin, und die Tatsache allein, daß alle sich in einem Zimmer befinden, oder um einen Tisch, hilft noch nicht sehr viel.

Frage: Um mal von der Darstellungsebene mal wieder runterzubrechen auf kritische Potentiale der Medientheorie:
Inwieweit läßt sich ein "Mediengewitter" wie bei den Vorträgen gestern Abend kritisch wenden, das einerseits, auch in den anschliessenden Diskussionen, durchaus den Versuch einer Konsensfindung erkennen ließ, während es andererseits gerade auf mangelnde Kritikfähigkeit, Kritisierbarkeit seitens der Vortragenden zurückzuführen ist?
- Inwieweit lassen sich die von Ihnen vorgetragenen begrifflichen "Vagheiten" aus dem "ätherischen" Kontext der reinen (theoretischen) Medienform hinaus medienspezifisch ausarbeiten? - Was heißt es, in einem Medium zu sein, z.B. in der Theorie, wie die Diskussion jetzt gerade, oder sich sozusagen in der symbolischen Ordnung des Internet aufzuhalten,... - was ist darüber aussagbar und was nicht?

Weber: Ich gehe davon aus, daß je wichtiger ein Begriff ist, desto schwieriger ist es, bzw. unmöglich, ihn erschöpfend zur Selbstverständlichkeit zu bringen. Schon die Diskussion darüber wird notwendigerweise mit Begriffen operieren, auf die man sich nie verlassen kann. Also, in dem Sinne, in dem man meint, man könnte sich auf einen Begriff oder umso mehr auch auf das vom Begriff bezeichnete verlassen, hat man schon sehr vieles aufgegeben. Andererseits darf das auch nicht in Beliebigkeit und völlige Unbestimmtheit zurückführen - was sich da jetzt im Internet abspielt finde ich schon bezeichnend - ich glaube, man kann da nicht überoptimistisch sein. Aber die Spannung zwischen dem sehr einseitigen Medium Fernsehen und dem, was sich jetzt im und ums und mit dem Internet abspielt, läßt zumindest hoffen, daß auch da etwas Neues geschieht: ein Raum wird geschaffen, der weder öffentlich noch privat ist, und der den Zwängen der Aneignung und der kommerziellen Verwertbarkeit nicht ganz unterworfen ist. Aber zugleich muß man sich selber, glaube ich, immer wieder fragen - und das ist gar nicht so einfach - was man eigentlich will, was man eigentlich sucht, in meinem Falle: was steht hinter dem Appell ans Kritische? Als Beispiel: ich finde die Diskussion der verschiedenen Listen über Verschwörungen z.T. recht interessant, nicht trotz sondern auch wegen der "Paranoia", die sich dort breit macht. Denn hinter dieser "Paranoia" steht das Bedürfnis nach einer traditionellen Erklärungsweise, Sinngebung, die Phänomene zurück auf "Täter" zurückführt: auf bewußt handelnde Subjekte, mit Pläne, Strategien usw. Das Medium des Internets fordert solche Paranoia gerade insofern als sie solche Erklärungen zunehmend unverifizierbar machen. Und zwar auch deswegen, weil die Struktur der Beweisführung, der unmittelbaren Wahrnehmung usw. nicht mehr als gültig vorausgesetzt werden kann. Es gibt nur Zeugen, aber - wie Celan mal schrieb, "Keiner zeugt für den Zeugen" ( Derrida nahm das als Exergue für eine Vorlesungen über Zeugenschaft, témoignage).

Ich bin auch nicht sicher, was für Konsequenzen daraus zu ziehen sind, aber ich habe das Gefühl, daß man wirklich umdenken muß in dem, was man eigentlich will und erwartet, was man als "Sinn" und als "Wissen" versteht. Denn schließlich basieren traditionelle Muster von Politik, Kritik usw. auf Begriffen der Verifizierbarkeit-Falsifizierbarkeit, die in der heutigen Realität schwer haltbar geworden sind. Die Frage heißt dann auch: was ist Politik in einem Zeitalter der Medien? Spektakel? Was bedeutet das genau? Theater? Man muß bereit sein, das Politische zu überdenken und vielleicht auch das Kritische. Die Gefahr ist, daß man dann in Apologie verfällt und einfach alles wunderbar findet, was passiert. Ich habe da aber auch keine Patentlösung.

Frage: Also eine kritische Analyse wäre dann z.B. vielleicht in dem Praxis -Medien-Verbund der Psychoanalyse, daß das irgendwie auf die Medienpartizipation, die Medienbenutzung usw. anzuwenden wäre, also die Medienbenutzer und die Medientheoretiker und wen-auch-immer auf die Couch zu legen...

Weber: Vielleicht ist die psychoanalytische Couch nicht beschränkbar auf die psychoanalytische Sitzung, ich meine das, was der Victor Burgin zu zeigen versucht: diese Isolierung, die zugleich eine Vernetzung bedeutet. Interessant ist die Frage der Abgrenzung der psychoanalytischen Sitzung von ihrer therapeutischen Funktion, insofern, daß Therapie eine Normalisierung voraussetzt. Meine Gegenfrage also wäre, ob nicht die psychoanalytische "Sitzung" etwas mit einer theatralischen "Szene" zu tun hat, die sich nicht einfach auf einem geschlossenen Raum reduzieren läßt und gerade in dieser Nicht-Reduzierbarkeit, in dieser Offenheit zum "Anderen" hin, "medial" interessant wird...



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The fully indexed text of this interview and much more
can be found on the documenta X CD Rom
"Konfigurationen zwischen Absturz und Wirklichkeit", in G-C. Tholen, ed.,
Konfigurationen zwischen Kunst und Medien. Munich: Fink 1998

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