Was wird aus dem Theater in einem Zeitalter, dessen Wahrnehmungs- und Darstellungseinrichtungen zunehmend durch elektronische Medien beherrscht werden? Hängt nicht das Theater notwendig an einer irreduziblen Beziehung zum hic et nunc, d.h. zu jenem Ort, wo Schauspieler und Zuschauer zusammenkommen, um sehen und gesehen, zeigt und gezeigt zu werden? Wird aber nicht die Struktur und Bedeutung gerade dieses Orts weitgehend durch all jene Tendenzen verändert, die man heute unter dem Terminus Virtualisierung zusammenfassen kann? Denn so vielfältig diese Tendenzen sein mögen, was sie alle dennoch gemeinsam haben, ist, wie es Pierre Lévy formuliert, 'die Ablösung vom Hier und Jetzt'. (1) Bleibt aber nicht gerade das 'Hier und Jetzt' unabdingbar für das Theater?
Gewiß, wenn man von der besonderen Beziehung des Hier und Jetzt für das Theater spricht, so denkt man zunächst an jene berühmten 'Einheiten' von Zeit und Ort, welche die Theoretiker der Renaissance aus der Poetik des Aristoteles abzuleiten meinten. Bei dieser Ableitung aber handelte es sich in der Tat eher um eine Verschiebung des Aristotelischen Textes ein, wenngleich um eine, die für die moderne Einstellung zum Theater recht symptomatisch geworden ist. Denn wenn Aristoteles über die Einheit von Zeit und Ort schreibt, so denkt er vor allem an die Dimension nicht der dargestellten Handlung, sondern vielmehr an die der Aufführung während diejenige, die sich auf ihn später beruf, den Begriff der Einheit zumeist auf die dargestellten Inhalte bezogen: auf die Geschichte also und nicht auf die Darstellung selbst. Was sich in dieser Umschreibung des Aristoteles ankündigte, war eine grundlegende Verschiebung in der Einstellung zum Theater, deren Konsequenzen keiner so eingehend analysiert und knapp zusammenfaßt hat wie Antonin Artaud: Wenn die Masse die Gewohnheit verloren hat, ins Theater zu gehen: wenn wir schließlich dahin gekommen sind, das Theater wie eine niedere Kunst, wie ein vulgäres Zeitvertreib zu betrachten (...) denn daher, weil seit vier hundert Jahren, d.h. seit der Renaissance, wir uns an ein rein beschreibendes Theater gewohnt haben, an ein Theater, das erzählt, das Psychologie erzählt. (TD, 92) (2)Obwohl diese von Artaud kritisierte Narrativisierung des Theaters sich nicht ganz ohne Recht auf Aristoteles berufen kann, unterscheidet sich dieser von seinen modernen Nachfolger insofern als seine Poetik immer noch sich gezwungen sieht, sich mit der räumliche Dimension des Theaters ernsthaft auseinanderzusetzen. Diese zeigt sich nicht zufällig gerade in der Art wie Aristoteles die Tragödie vom Epos unterscheiden will: Soweit seiner Länge angeht, versucht die Tragödie so sehr wie möglich innerhalb eines einzigen Tages zu existieren ... während das Epos zeitlich unbegrenzt ist ... (24)Im Unterschied zu der fast unbeschränkten Ausdehnbarkeit der epischen Handlung, führt Aristoteles aus, muß die tragische Handlung viel konzentrierter sein, da sie 'durch einen einheitlichen Blick aufnehmbar sein' solle (63). Diese Einheit des Blicks, aber setzt die Einheit des Orts voraus. Doch nicht allein die des Mythos im Sinne der Handlung, sondern zugleich auch die Einheit des Orts der Aufführung selbst. Bei Aristoteles also bleibt einen Sinn für die notwendige Beziehung des Theaters auf Zeit und Raum. Bzw auf den Ort. Vom Theatralischen her also betrachtet, könnte man behaupten, daß das Wesentliche, was sich ändert, nur die Art betrifft, wie der Ort gedacht und erfahren wird. Beim modernen Theater zumindest seit dem 18. Jahrhundert, wird sie hauptsächlich vom einheitlichen Bewußtsein, vom Subjekt her gedacht: anders gesagt, vom Charakter, von der Person, von der Figur her. Bei Aristoteles dagegen wurde die Einheit des Orts eher von einer Handlung, einer praxis abgeleitet, deren Struktur und Wesen gerade nicht aus einem Subjekt, d.h. aus einem Handelnden abgeleitet werden kann. Wie es Aristoteles zusammenfassend formuliert: 'Es kann eine Tragödie ohne Charaktere geben, doch nicht ohne Handlung' (50a1, 24-25; p. 27). Der Unterschied also zwischen Aristoteles und einer modernen Auffassung von Theater läßt sich also durch die verschiedenen Weisen, wie sie jeweils die Einheit des Orts bestimmen. Für Aristoteles wird sie durch die Einheitlichkeit der Handlung verbürgt; für das moderne Theater dagegen wird sie durch die Einheitlichkeit einer subjektgebundenen Situation bedingt. Was geschieht aber, wenn der Ort nicht mehr als ein wesentlich geschloßener erfahren wird? Denn genau dieser Verlust der Geschlossenheit scheint eine Welt zu kennzeichnen, die zunehmend durch Virtualisierung geprägt wird; eine Welt wo, um wieder Lévy zu zitieren, 'Synchronisierung die Einheit des Ortes ersetzt, wo Zwischenverbindungen (interconnexion) sich an die Stelle von zeitlicher Einheit setzten' (ibid., p.5)? Insoweit die Welt durch Virtualisierung geprägt wird, werden Orte nicht mehr als in sich geschlossen erlebt, sondern als Knotenpunkte einer Vernetzung. Dabei werden sie nicht unbestimmt und vage, sondern bloß anders bestimmbar. Denn sie bestimmen sich erst in Bezug auf andere Orte. Es ist sehr wichtig hervorzuheben, daß diese Tendenz zur Delokalisierung oder zur Entterritorialisierung des Orts, obwohl einerseits ein neues Phänomen, sofern sie durch die Ausbreitung von elektronisch gesteuerten Apparate und Medien vorangetrieben wird, andererseits aber nicht einen eindeutigen Bruch mit der Vergangenheit und mit der Tradition beinhaltet. (Parenthetisch möchte ich die Behauptung hier einschalten, daß der von Bachelard, Canguilhem und dann Foucault popularisierte Begriff des radikalen Bruchs [coupure], gerade in der Einschätzung der Bedeutung von technologisch beeinflußte Veränderung eher reduktiv als aufklärend sich ausgewirkt hat. Die Beziehung vom Neuen zum Alten ist viel zu verzwickt und verzweigt, um mit dem binären Begriff des Bruchesproduktiv gedacht zu werden.) Ein Wenig von dieser Komplexität läßt sich an der Etymologie des Wortes Ort selbst aufzeigen. Denn die Etymologie zeigt, daß die Tendenz zur Delokalisierung eine sehr frühe Bedeutungschicht dieses Wortes wieder aktiviert. Denn im Alt- und Mittelhochdeutsch, dem Duden zufolge, bedeutete das Wort Ort unter anderen: 'Spitze (bes. einer Waffe oder eines Werkzeugs); äußerste Ende, Ecke, Rand, Stück'. (3) 'Die(se) Bedeutungen,' lesen wir dort weiter, sind noch in der Bergmannssprache erhalten, wo Ort 'im Sinne von 'Ende einer Strecke, Abbaustelle' verwendet wird, vgl. die Fügung 'vor Ort', die heute auch übertragen im Sinne von 'unmittelbar am Ort des Geschehens' gebräuchlich ist...' (ibid.). An dieser Erörterung möchte ich drei Punkte hervorheben: erstens, der Ort kommt zustande indem die Kontinuität von Raum und Bewegung mehr oder weniger gewaltsam abgebrochen wird. Daher die Hinweise auf Waffen: Speer, Spitze, Stachel sind vom Duden angeführt. Doch die Bedeutung von Ort wird nicht allein durch den Bezug auf die gewaltsame Sistierung einer Bewegung bestimmt: sie verweist ebenso auf Werkzeuge. Die Einrichtung eines Ortes dient einem Zweck, auch wenn er die Bewegung auf ein Ziel dabei unterbricht. Man könnte sogar vermuten, daß der Ort in diesem Sinne gewissermaßen die Funktion des Ziels übernimmt: der Ort kommt Zustande, indem die Bewegung auf ein Ziel gewaltsam aufgehalten wird. Der Ort ist also nicht einfach ein natürliches Phänomen, sofern 'Natur' Immanenz bedeutet. Er ist künstlich, technisch, er hängt von äußeren Kräften ab. Nach dem frühen Wortgebrauch zumindest, darf der Ort zugleich als geronnene Bewegung und als Resultat äußerer Einflusse bestimmt werden. Damit kommen wir zum zweiten Punkt. Der durch äußere Kräfte eingerichtete Ort ist daher in sich schon eine Randerscheinung. Er markiert die äußerste Grenze jener Bewegung, die er zugleich fixiert. Als äußerste Spitze einer fixierten Bewegung ist er immer strukturell und tendenziell auf die Außenwelt angewiesen, nie ganz in sich abgeschlossen. Zugleich bestimmt er sich durch eine gewisse Isolierung, denn gerade der Kontakt mit der Außenwelt muß abgebrochen oder zumindest eingeschränkt werden, um die Entstehung und Erhaltung eines Ortes zu ermöglichen. Doch diese Einschränkung bedeutet nicht die einfach Aufhebung des Bezugs. Im Gegenteil: der Ort besteht in und als diese Abgebrochenheit, als 'Ecke' oder als 'Stück', wiederum Wörter, die herkömmlich mit ihm verbunden sind. Und damit kommen wir zum dritten und letzten Punkt, der aus der Etymologie des Wortes sich ergibt. Da der Ort eine Sistierung von Bewegung beinhaltet, die aber sich nie abrunden kann sondern immer als äußerste Grenze sich bestimmt, ist seine jeweilige Bestimmung weder stabil noch endgültig. Daher ist ein Ort nie ein bloßer Zustand, sondern zugleich auch ein Geschehen. Auf dieses Geschehencharakter des Orts verweist besonders die sprachliche Fügung, 'vor Ort'. Sie bedeutet sowohl 'vor dem Ende' wie auch 'unmittelbar am Ort des Geschehens'. Der Ort befindet sich 'vor dem Ende', insofern als er aus einer gewaltsamen Unterbrechung einer Zielgerichteten Bewegung hervorgegangen ist. Doch der Ort ist nicht allein das stabile Resultat der Unterbrechung: er bleibt zugleich impliziert in der Bewegung, die Bewegung sistiert. Daher ist der Ort selbst immer am Geschehen des Unterbrechens, des Suspendierens gebunden. An diesen Band vielleicht knüpft ein anderes Bedeutungsfeld des Wortes, das des Schneidens, worin das Grimmsche Wörterbuch die eigentliche Herkunft des Wortes sieht: 'Aus der Grundbedeutung 'Schneide, Spitze' haben sich die übrigen Bedeutungen in ähnlicher Weise wie bei den sinnverwandten Ecke und Ende entwickelt' (Grimmsches Wörterbuch, Band 13, S. 1354). Wenn aber der Ort Geschehenscharakter hat, denn nur in einem recht ambivalenten Sinne. Denn der Ort findet statt, indem er das Geschehen des Unterbrechens in einen Zustand verwandelt. Der Ort ist ein Abschnitt, welcher das Abschneiden als Bewegung abschneidet und dadurch verschwinden läßt. Damit ist jeder Ort als solcher von seiner eigentlichen Herkunft tendenziell abgeschnitten. Vielleicht lassen sich diese etymologische Erfahrungen und Andeutungen, worin eine gewisse Erfahrung sich noch artikuliert, zusammenfassen indem man sagt, daß der Ort als solcher dazu neigt, immer vor Ort zu sein: d.h. unmittelbar vor einer Erfüllung zu stehen, die zugleich sein Anfang und Ende wäre. Erst ein Sinn für diese ambivalente Struktur des Ortes erlaubt es uns, die Verwandlungen seiner Bedeutung und Funktion durch die neuen Medien richtig einzuschätzen. Denn, wie auch Pierre Lévy in seiner Diskussion bemerkt, die Virtualisierung hebt die Bedeutung des Orts keineswegs auf, sondern verändert sie: Wenn eine Person, eine Kollektivität, eine Handlung, eine Information sich virtualisieren, stellen sie sich 'da-draußen' (hors-là), sie entterritorialisieren sich. Eine gewisse Entkoppelung löst sie vom üblichen physischen oder geographischen Raum und vom der Uhr- oder Kalendarzeit ab. Aber immerhin, werden sie von der Referenz zu Raum-Zeit nicht völlig unabhängig, weil sie sich immer an physische Träger (supports physiques) aufpropfen müssen, sich immer hier oder anderswo, jetzt oder später, aktualisieren. Und dennoch, kraft der Virtualisierung ist diese Beziehung zu einer tangierenden geworden. (ibid)Durch die Virtualisierung, so Lévy, ist die Beziehung zu Raum-Zeit 'zu einer tangierenden' geworden: etwas--ein Ereignis, ein Verlauf, ein Ding oder ein Mensch--findet nie allein dort statt, wo er sich jeweils befindet, sondern zugleich auch da-draußen, anderswo, an einem anderen Schauplatz (um eine andere doch recht trifftige Referenz ins Spiel zu bringen: psychoanalytisch und theatral zugleich). Das Je-weilige wird aufgespalten, indem das 'je' und das 'weilen' sich nicht mehr decken. Doch diese Spaltung oder Vervielfältigung des Ortes verändert auch dessen Struktur und Bedeutung. Denn damit wird der Ort in eine Be wegung aufgelöst, zu dem man sich lediglich tangierend verhalten kann. Ort und Raum werden nicht mehr, wie seit Zeiten des Aristoteles, nach einem Modell des Behälters erfahren, worin etwas stattfindet, sondern eher wie eine Fläche oder eine Grenze, die zwar berührt aber nicht einfach besetzt werden kann. Man bleibt daher immer vor Ort, von ihm berührt oder ihm streifend, doch nie in ihn eindringend. Erst aus dieser tangierenden Beziehung zum virtualisierten Ort läßt sich die veränderte Situation des Theaters angehen. Doch nicht direkt. Wenigstens hier und heute nicht. Sondern über den Umweg eines Textes, der aus einer Zeit stammt, wo die Zeitung noch das vorherrschende Medium war. Dieser Text, der also lange vor dem Kommen der neuen Medien geschrieben worden scheint das Theater eigentlich nur zu tangieren. Und dennoch: gerade durch seine tangierende Beziehung zum Theater bietet dieser Text Aufschluß über die Möglichkeiten des Theaters in einer Welt, die nur als zunehmend virtuell erfahrbar wird. Der Text heißt 'Die Wiederholung'. Zumindest in der deutschen Übersetzung. Ich wer auf seinen 'eigentlichen' Titel später zu sprechen kommen. Man glaubt jedenfalls seinen eigentlichen Autor einigermaßen zu kennen. Er ist bekannt unter dem Namen Søren Kierkegaard. Bekannt aber ist, bekanntlich, nicht erkannt. Der eigentliche Name des Autors steht nicht auf dem Titelblatt. An seiner Stelle finden wir ein anderen Namen: Constantin Constantius. Kierkegaard, wieder bekanntlich, pflegte die Gewohnheit, seine Büchern unter 'Pseudonyme' herauszugeben. Nicht aber um die Leser über die 'wahre Identität' des Autors im Dunkeln zu lassen, sondern aus anderen Gründen, die in dem Untertitel dieses Texts angeschnitten werden. 'Die Wiederholung' bezeichnet sich im Untertitel als:'Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie'. Schon beim Titel also zeigt sich die Wiederholung, denn 'ein Versuch' ist, bekanntlich, ein Experiment. Doch was heißt es, zu 'experimentieren'? Schauen wir im Wörterbuch nach, so finden wir zwei Hauptbedeutungen dort eingetragen: 1. wissenschaftlicher Versuch, durch den etwas entdeckt, bestätigt oder gezeigt werden soll ... 2. (gewagter) Versuch, Wagnis; gewagtes, unsicheres Unternehmen. (Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 1989, 473).Die zwei Bedeutungen divergieren, sind aber nicht völlig voneinander unabhängig. Das wissenschaftliche Experiment zielt auf Sicherung durch Wissen: durch die Bestätigung vorhandenen Wissen oder durch die Herstellung neues Wissens. In beiden Fällen aber bewegt sich das Experiment an der Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen. Daher ist die zweite Bedeutung nicht völlig von der ersten zu trennen: das gewagte Hervorwagen ins Unbekannte gehört als Moment auch zum wissenschaftlichen Experiment, wo es allerdings durch strenge Protokolle und vorgeschriebene Verfahrensweisen kontrolliert wird. Jedes Experiment besteht aus Wiederholungen und das Ziel wissenschaftlicher Experimentation läßt gerade durch die Wiederholbarkeit des Verfahrens definieren. Auf welcher Weise aber ist umgekehrt 'Die Wiederholung' ein Experiment? Mit dem wissenschaftlichen Versuch teilt es die Eigenschaft, auf ein Problem oder auf eine Frage zu reagieren. Doch bei unserem Text, zumindest, wird dieses Problem auf einer Weise artikuliert, die gleichsam das wissenschaftliche Experimentieren spottet, und umgekehrt, von diesem nur verspottet werden könnte. Denn es geht darum eine Antwort auf die Frage zu finden, 'ob eine Wiederholung möglich ist und was sie zu bedeuten hat.' (4) So aus dem Kontext gerissen, muß eine derartige Frage töricht erscheinen. Was könnte überflüssiger und trivialer sein, als danach zu fragen, ob eine Wiederholung möglich ist oder nicht? Und dennoch möchte ich mich zu der Behauptung versteigern, daß mit dieser Frage eine neue Epoche in der Geschichte des westlichen Denkens anhebt, deren Konsequenzen für das Theater erst in letzter Zeit sich einigermaßen zu erkennen geben. (5) Um eine derartige Behauptung ein wenig zu stützen, ist es unentbehrlich, gerade den Kontext wiederherzustellen, in dem diese merkwürdige Frage der Wiederholung wieder laut wird und sich entfaltet. Dieser Kontext der Wiederholung selbst zu wiederholen verlangt wegen seiner ungeheuren Komplexität sehr viel Zitieren. Ich beginne daher mit dem Anfangsabschnitt dieses Textes, der den Schauplatz andeutet: Wie jeder weiß, trat Diogenes als Opponent auf, als die Eleaten die Bewegung leugneten. Er trat wirklich auf, denn er sagte nicht ein Wort, sondern ging nur ein paarmal hin und her, wodurch er jene ausreichend widerlegt zu haben glaubte. Als ich mich, zumindest gelegentlich, längere Zeit mit dem Problem beschäftigt hatte, ob eine Wiederholung möglich sei und welche Bedeutung diese habe, ob etwas durch Wiederholung gewinne oder verliere, fiel es mir plötzlich ein: Du kannst ja nach Berlin reisen, da bist du früher schon einmal gewesen, und nun überzeuge dich, ob eine Wiederholung möglich ist und was sie zu bedeuten hat. Bei mir zu Hause war ich mit diesem Problem nahezu ins Stocken geraten. Man sage darüber, was man will, es wird eine sehr wichtige Rolle in der neueren Philosophie spielen; denn Wiederholung ist der entscheidende Ausdruck für das, was bei den Griechen 'Erinnerung' war. So wie diese damals lehrten, daß alles Erkennen ein Erinnern ist, so will die neue Philosophie lehren, daß das ganze Leben eine wiederholung ist. Der einzige neuere Philosoph, der hiervon eine Ahnung hatte, ist Leibniz. Wiederholung und Erinnerung, sind dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnert. Deshalb macht die Wiederholung, wenn sie möglich ist, einen Menschen glücklich, während die Erinnerung ihn unglücklich macht, allerdings unter der Voraussetzung, daß er sich Zeit läßt zu leben und nicht sofort in seiner Geburtsstunde einen Vorwand sucht, sich wieder aus dem Leben herauszuschleichen, z.B. daß er etwas vergessen hat. (7)Wenn die Frage der Wiederholung auftaucht, so ist es nicht einfach beliebig, sondern in Zusammenhang mit einem 'Problem', und zwar genauer, mit einem 'Stocken': 'Bei mir zu Hause war ich mit diesem Problem nahezu ins Stocken geraten'. Die Anekdote, mit der diese Schrift etwas abrupt ansetzt, betrifft also nicht zufällig die Frage, ob Bewegung überhaupt möglich ist. Denn der Erzähler, Constantin Constantius, fühlt sich zu Hause blockiert. (6) Man weiß nicht, ob es die Frage selbst gewesen ist, was ihn ins Stocken gebracht hat, oder umgekehrt ob seine Beschäftigung mit der Frage der Wiederholung ihrerseits erst als Reaktion auf eine Hemmung entstanden ist: bloß die Beziehung wird festgestellt. Vielleicht aber hängt diese Unsicherheit über die Kausalität mit der Überzeugung Constantins zusammen, daß es in jedem Fall dabei nicht ein persönliches Problem geht, sondern um eines, das 'eine sehr richtige Rolle in der neueren Philosophie spielen (wird)'. Die theatralische Figur des Rollenspiels wird sich als nicht 'bloß' metaphorisch herausstellen. Denn die Frage der Wiederholung hängt mit dem Rollenspiel ähnlich zusammen, wie die Vergangenheit mit der Zukunft, wie Erinnerung mit Erwartung: 'Wiederholung und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung'. Doch die Beziehung wird sich als weniger symmetrisch herausstellen, denn durch diese Behauptung suggeriert wird. Die Erinnerung bei den Griechen, so wird es behauptet, zielte auf Erkennen; die Wiederholung, bei den Modernen, auf das 'Leben'. Was aber ist unter 'Leben' zu verstehen und wie unterscheidet es sich vom 'Erkennen'? Das Leben ist nicht einfach das Gegenteil vom Erkennen. Es schließt Erkennen zwar ein, läßt sich aber darauf nicht reduzieren. Denn wer vom Leben sprechen will, muß auch vom Tode reden, und d.h. von etwas, dessen Tragweite das Erkennen übersteigt. Deshalb sagt die ironische und rätselhafte Bemerkung, mit dem dieser Anfangsabschnitt schließt, vielleicht mehr aus, als Constantin gerne wahrhaben würde. Denn er will uns und vor allem sich weismachen, daß die auf Zukunft ausgerichtete Wiederholung, Glück verspricht, im Gegensatz zur Erinnerung die 'unglücklich macht'. Es sei denn, fügt er hinzu, daß man sich Zeit läßt zu leben und nicht sofort in der Geburtsstunde einen Vorwand sucht, sich wieder aus dem Leben herauszuschleichen, z.B. daß er etwas vergessen hat. (1) Das Glücksversprechen der Wiederholung, setzt also voraus, daß man bereit ist, sich Zeit zu geben, damit etwas auf sich zukommen kann. Und diese Zeit ist eine des Vergessens. Will man dagegen sofort das Vergessene wieder holen, so wird es keine Wiederholung geben. Mit dem Vergessen leben, heißt, sich mit einer Zeit abfinden, die eine der Unvollständigkeit ist. Gerade aber die Wiederholung soll, so Constantin, gegen solche Unvollständigkeit, gegen Verlust und Vergangenes, Abhilfe bringen. Im Gegensatz zur Erinnerung, die unglücklich machen soll, weil sie die Unwiederbringlichkeit des Vergangenen bestätigt, soll durch 'Wiederholung' das Vergangene nicht ewig vergangen, verloren sein, sondern wieder 'holbar' werden. Vieles von dem, was in diesem Text geschieht, wird dem Leser nur dann verständlich, wenn man die Wörtlichkeit des dänischen Textes vor Augen hält. Das dänische Wort, das als Wiederholung übersetzt wird, heißt Gjentagelsen (heute würde man das 'j' weglassen). Es wird aus zwei Wörter zusammengesetzt, die beide eher mit dem Englischen als mit dem Deutschen verwandt sind: aus gjen, wie das Englische again, also wieder, und aus tage, take, also nehmen. Man verpaßt also vieles, wenn man sich nicht erinnert, daß die Faszination der Wiederholung für Constantin Constantius immer mit der Hoffnung zusammenhängt, dadurch das Verlorene wieder habhaft zu werden und damit eine Art von Beständigkeit zu erreichen. Ohne diesen Blick auf die Wörtlichkeit des Wortes, wird man zum Beispiel kaum jene entscheidende Stelle verstehen, kurz vor dem Schluß des ersten Teiles des Buches, an der Constantin das Scheitern seines Experiments und seiner Hoffnung auf recht eigenartiger Weise zugeben muß: Wie fühlte ich mich beschämt, daß ich, der ich ... so flink bei der Hand war gegen jenen jungen Menschen, nun ebenso weit gebracht war, ja es schien mir, als wäre ich selbst jener junge Mensch, als wären meine großen Worte, die ich nun um keinen Preis hätte wiederholen wollen, nur ein Traum gewesen, aus dem ich nun erwachte, um das Leben unaufhaltsam und treulos alles wieder nehmen zu lassen, was es gab, ohne daß es eine Wiedergabe, eine Wiederholung gäbe. (42)Gibt es eine Wiederholung? Jedenfalls nicht in jenem Sinne, auf den Constantin Constantius spekuliert hatte. Denn die Wiederholung gibt nicht mehr sondern 'holt' nur wieder. Die Wiederholung gewährleistet nicht, das was schon der Name Constantin besagt: eine gewisse Beständigkeit, eine Dauerhaftigkeit des Selbst, ein gewisses Glück. Im Gegenteil: Jeder, der die Sache gründlich erwogen hat, wird mir gewiß darin recht geben, daß es einem Menschen niemals vergönnt ist, nicht einmal soviel wie eine halbe Stunde in seinem ganzen Leben, absolut zufrieden in jeder Hinsicht zu sein. (43)Daraufhin erinnert sich Constantin, wie er einmal sehr nahe an solchem absoluten Glückseligkeit gekommen war. Die pathetische Beschreibung die folgt, die ich hier wegen der beschränkten Zeit nur zusammenfasse, gipfelt in einer Enttäuschung, die, wie so oft in diesem Text, einer gewissen erhabenen Lächerlichkeit nicht entbehrt: Der Körper hatte seine irdische Schwere verloren, es war, als hätte ich keinen Körper [...] Mein Gang war schwebend, nicht wie des Vogels Flucht, der die Luft durchschneidet und die Erde verläßt, sondern wie des Windes Wogen über der Saat, wie des Meeres sehnsuchtseliges Wiegen, das träumende Dahingleiten der Wolke. Mein Wesen war durchsichtig wie des Meeres abgründige Tiefe, wie das selbstzufriedene Schweigen der Nacht, des Mittags monologische Stille.Doch diese 'monologische Stille' hält nicht lange: Wie gesagt, Punkt ein Uhr war ich auf dem Höhepunkt, wo ich das Allerhöchste ahnte, da beginnt plötzlich etwas in meinem einen Auge zu kratzen, ob es eine Augenwimper, eine Faser, ein Staubkorn war, ich weiß es nicht, aber das weiß ich, daß ich im selben Augenblick beinahe in den Abgrund der Verzweiflung stürzte [...] Seit der Zeit gab ich jede Hoffnung auf, mich absolut und in jeder Weise befriedigt zu sehen. [...] So weit war ich bereits gekommen [...] Das war die Zeit, zu der ich die Idee der Wiederholung erfaßte und dafür begeistert wurde [...] (44)Der Augenblick der Glückseligkeit würde also durch etwas unscheinbares gestört, etwas, das nicht zufällig vielleicht, in das Auge gekommen ist: 'eine Augenwimper, eine Faser, ein Staubkorn'. Wer weiß. Was sicher ist, ist, daß das unbekannte Etwas genügte, um das Experiment hervorzurufen, das Constantin gerade nacherzählt hat, samt seines Scheiterns. Ich habe aber dies alles nur wiedererzählt, um gleichermaßen die Bühne einzurichten -- auf Englisch würde man sagen, to set the stage -- für die eigentliche Szene, die ich Ihnen heute wieder vorführen möchte. Es geht dabei wohl um das entscheidende Moment jenes Experimentierens, das Constantin mit der Wiederholung unternimmt. Er geht also wieder nach Berlin, wo er früher gewesen ist, und einmal angekommen, was macht er? Überraschenderweise, geht er ins Theater. Aber nicht ins respektable Theater, etwa in die Oper oder ins Schauspiel. Was da im Opernhaus geboten wird an Oper und Ballett, soll 'großartig' sein; was da im Schauspielhaus dargeboten wird, soll belehrend sein, bildend, und nicht bloß zur Lust. Ich weiß es nicht. (27)Er 'weiß es nicht' weil ihm ein ganz anderes Theater interessiert, 'welches 'Königstädter Theater' heißt. Dieses Theater besuchen die offiziellen Reisenden seltener [...]' Damit beginnt eine Darstellung des Theaters, die, wenn ich mich nicht ganz irre, zu einem der Höhepunkte des modernen Denkens und Schreibens, einem der auch deutlich macht, wieso dieses Denken und Schreiben sich gerade in bezug auf eine Neubestimmung des Theaters orientiert. Ich werde versuchen, die wesentliche Schritte dieser Auseinandersetzung nun knapp nachzuzeichnen. Warum das Theater? Konstantin beginnt seine Besinnung über das Theater, indem er den 'Zauber' erwähnt, wodurch das Theater gerade jüngeren Menschen 'fesselt'. Das Theater fesselt, indem es auf den Wunsch anknüpft, selbst mit in jene künstliche Wirklichkeit hineingerissen zu sein, um als ein Doppelgänger sich selbst zu sehen und zu hören, sich selbst in seine größtmögliche Verschiedenheit von sich selbst abzuspalten und doch so, daß eine jede Verschiedenheit wiederum ein Selbst ist. [...] In einer solchen Selbstanschauung der Phantasie ist das Individuum nicht eine wirkliche Gestalt, sondern ein Schatten, oder richtiger, die wirkliche Gestalt ist unsichtbar zugegen und begnügt sich daher nicht damit, nur einen Schatten zu werfen, sondern das Individuum hat eine Mannigfaltigkeit von Schatten, die alle ihm gleichen und die augenblicksweise gleichberechtigt sind, es selbst zu sein. Die Persönlichkeit ist noch nicht entdeckt, ihre Energie kündet sich nur an in der Leidenschaft der Möglichkeit. (27-28) 'Die Leidenschaft der Möglichkeit' -- damit ist vielleicht eins der Schlüsselphrasen in diesem Text gefallen, der in seiner Affirmation des Doppelgängers an die Dichter und Denker der deutschen Romantik erinnert. Diese Faszination mit der Möglichkeit, ein Anderer zu sein und zugleich sich Selbst zu bleiben, muß tatsächlich erlitten werden. Denn sie bedeutet, wie aus diesen Zeilen hervorgeht, nicht allein eine Bereicherung des Selbst, eine Steigerung seines Lebensgefühles, sein Gefühl, da zu sein, sondern zugleich seine Aufsplitterung, seine Aufspaltung, ja seine Spektralisierung; umgeben von einer Mannigfaltigkeit von Schatten, die alle ihm, dem Individuum, 'gleichberechtigt' sind. Damit aber wird das Individuum eminent dividiert, nicht mehr alleiniger Herr im Hause. Aus einer 'wirkliche[n] Gestalt' ist also eine Schar von Geistern geworden. Diese 'Schattenexistenz', bemerkt Constantin, ist genau so notwendig als sie 'komisch' werden kann, wenn man nicht mehr darüber hinwegkommt. 'Alles hat seine Zeit in der Jugend', fährt er fort, als ob er diese Faszination mit der Möglichkeit der Selbstabspaltungen allein als eine Jugendphase betrachtet werden könnte. Doch im nächsten Atemzug fügt er hinzu, '...und was seine Zeit damals hatte, bekommt sie auch später wieder'. Man meint gar Nietzsche oder Freud hier zu hören. Bis man zum nächsten Satz kommt: ...und es ist ebenso gesund für den Älteren, in seinem Leben etwas Vergangenes zu haben, wodurch er in der Schuld des Lachens steht, wie etwas Vergangenes, das Tränen fordert. (28) Die jugendliche Faszination mit dem Theater als Spiel der Möglichkeiten des Experimentierens mit dem Selbst, läßt sich also offenbar doch nicht allein auf die Jugendzeit beschränken. Sie bleibt den Altern als 'Schuld des Lachens' vorbehalten. Plötzlich also hat die Faszination mit den Möglichkeiten des Theaters, mit dem Theater als Schattenspiel der Möglichkeiten -- plötzlich hat diese Faszination einen neuen Aspekt erhalten: das Lachen, oder genauer: die Schuld des Lachens. Woher kommt diese Schuld? Ich habe in meiner Eile, schnell voranzukommen (da die Zeit ja vergeht...) leider das Wesentliche ausgelassen. Denn nachdem er festgestellt hat, daß man die Faszination des Möglichen weder ignorieren darf noch ihr völlig freien Lauf lassen, fügt Constantin eins jener Vergleiche an, welche die Freude und die Verzweiflung aller derjenigen sind, die ernst versuchen, Kierkegaard zu lesen. Denn diese Vergleiche, anstatt Rätselhaftes aufzuhellen, neigen dazu, die Schatten zu vermehren: Eines solchen Menschen (d.h. einer, der nie über die verführerische Kraft der 'Schattenexistenz' hinwegkäme) Prätentionen darauf, ein wirklicher Mensch zu sein, werden dann ebenso zweifelhaft wie die Forderung derer auf Unsterblichkeit, die nicht einmal imstande sind, persönlich am Gerichtstag zu erscheinen, sondern sich vertreten lassen durch eine Deputation von guten Vorsätzen, Eintagsentschlüssen, Halbstundenplänen und dergleichen. Die Hauptsache ist, daß jedes Ding zur rechten Zeit geschieht. (28) Der Hinweis auf den, der auch 'am Gerichtstag' nicht 'persönlich erscheinen' sondern sich durch ' gute Vorsätze' 'vertreten lassen' will, zeigt auf eine versteckte Dialektik des Theaters und auf die Faszination der Repräsentation: wer sich theatralisch repräsentiert, kann immer noch hoffen, durch Repräsentieren jenem Urteil zu entgehen, das alles Singulare irgendwann trifft. Man möchte glauben, daß 'hinter' dem Geisterschar der Möglichkeiten immer 'ich selbst' stehe, auch über das Grab hinaus. Und man ist auf alles bereit, sofern nur diese Hoffnung aufrecht erhalten werden kann. Wie jener, der schon bei der Geburt gerne aus dem Leben geschlichen wäre, unter dem Vorwand, daß er etwas vergessen hätte. Warte nur -- ich komme gleich wieder! Wie der Wind. Der Wind weht durch diesen Text, der mit der Frage nach die Möglichkeit von Bewegung und Veränderung anhebt. Das Schattenspiel des Einzelnen mit seinen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten gleicht in seinem Wanken dem Wehen des Windes: Man denkt vielleicht nicht daran, daßes einen Augenblick gab, da der Wind [...] als ein Unbekannter in diese Gegenden kam und sich verwildert und kopflos hineinstürzte zwischen die Klüfte, herab in die Berghöhlen, jetzt ein Heulen hervorbrachte, über das er beinahe stützte, [...] nun einen Seufzer aus der Angst des Abgrundes, so tief, daß der Wind selbst bange wurde [...] So fährt des Individuums Anlage wild umher in seiner eigenen Möglichkeit, entdeckt jetzt die eine, nun die andere. Aber des Individuums Möglichkeit will nicht bloß gehört werden, sie ist nicht wie die der Luft bloß dahinbrausend, sie ist zugleich gestaltend, deshalb will sie zur gleichen Zeit gesehen werden. Jede seiner Möglichkeiten ist daher ein tönender Schatten. [...] Das Individuum will bloß pathetisch sehen und hören, aber wohlgemerkt sich selbst. Doch will es nicht wirklich sich selbst hören. Das geht nicht an. (29)'Das Individuum will bloß...sich selbst' hören, 'doch will es nicht wirklich sich selbst hören...' So unbeständig, so verängstigt, so stürmisch und dennoch so unsicher wie der Wind, will das Individuum nicht einfach wie ein Hauch vergehen, sondern Gestaltannehmen und Form geben, Sehenlassen und Gesehenwerden, sein Selbst sehen und dennoch es nicht sehen. Denn dieses Selbst ist so unbeständig, so zwischen den Möglichkeiten hin und her zerrissen, daß es sich nicht mehr gehört, sondern leicht 'bei dem Dämonischen' gerät. Wo läßt sich nun eine 'Umgebung' finden, die zugleich Geheimnis und Gestalt, Selbst und Dämon gerecht wird? 'Eine solche Umgebung ist die szenische...' Und damit wären wir endlich beim Theater angekommen. Und nicht bei irgendeinem, sondern beim Königstadtischen Theater, 'wo die Posse zur Aufführung' kommt und wo sich 'ein höchst verschiedenes Publikum' sich ansammelt. Verschieden wovon? Zunächst, von den respektablen Zuschauern der Opern- und Schauspielhäusern, ebenso wie die Posse anders ist als das ernsthafte Drama. Zum einen, gibt es nicht die gleiche Art von Abstand zwischen Bühne und Publikum: dieses wird 'überhaupt nicht als Publikum bewußt, sondern [will] mit herunter auf die Straße oder wo sie Szene sonst spielt' (32).Keine klare Demarkation zwischen Fiktion und Wirklichkeit waltet hier, sondern eine merkwürdige Überschneidung. Denn die Situation der Zuschauenden hat ihre eigene Wirklichkeit: 'so benehmen sie sich wie Kinder, die nur Erlaubnis bekommen, von einem Fenster einen Auflauf auf der Straße zu sehen.' Es wird bei der Posse viel gelacht. Doch man würde irren, dieses Theater mit einer gewöhnlichen Komödie zu vergleichen. Nicht nur, daß die Zuschauer viel volkstümlicher sind, sondern selbst innerhalb dieser Sphäre ist die Verschiedenheit des Gelächters unendlich nuanciert, in einem ganz anderen Sinne als bei der Aufführung des vortrefflichsten Lustspiels. Man betrachte dies als eine Vollkommenheit oder Unvollkommenheit, es ist nun einmal so. (32) Der Grund dieses Unterschieds wird dann verdeutlicht: Jede allgemeinere ästhetische Bestimmung strandet an der Posse, und diese vermag in keiner Weise eine Uniformität in der Stimmung bei dem gebildeteren Publikum zuwege zu bringen. Denn da die Wirkung zu einem großen Teil auf Selbstwirksamkeit und des Zuschauers Produktivität beruht, macht die einzelne Individualität sich in einem ganz anderen Sinne gelten und ist in ihrem Genießen befreit von allen ästhetischen Verpflichtungen, traditionell zu bewundern, zu lachen, gerührt zu sein usw. (32)Man könnte nun denken, es sei bloß die Unfähigkeit zur distanzierenden Betrachtung, daß Posse von dramatischem Theater unterscheidet. Doch die Differenz stellt sich ganz anders dar: Eine Posse zu sehen ist für den Gebildeten ähnlich, wie in der Lotterie zu spielen, nur hat man nicht die Unbehaglichkeit, Geld zu gewinnen. [Die 'Schuld des Lachens' wird durch Geld nicht geringer gemacht...] Aber mit einer solchen Unsicherheit ist dem gewöhnlichen theaterbesuchenden Publikum nicht gedient, und es vernachlässigt deshalb gerne die Posse oder sieht vornehm auf sie herab, was am bedauerlichsten für es selbst ist. (32)Es geht also um etwas viel komplizierter als um ästhetische Distanz: es geht um die Beziehung zwischen Sicherheit, Unsicherheit und Wissen: Ein eigentliches Theaterpublikum hat im allgemeinen einen gewissen bornierten Ernst, es will im Theater veredelt und gebildet werden oder will sich das wenigstens einbilden; es will ... einen seltenen Kunstgenuß gehabt haben; es will, sobald es das Plakat gelesen hat, im voraus wissen können, wie das an diesem Abend passieren wird. Eine solch Übereinkunft läßt sich mit der Posse nicht treffen; denn dieselbe Posse kann einen höchst verschiedenen Eindruck gewähren, und es kann das Sonderbare eintreten, daß sie dann am wenigstens wirkt, wenn sie am besten ausgeführt wurde. Man kann sich da nicht verlassen auf die Aussagen der Nachbarn, des Gegenübers und der Zeitungsblätter, ob man sich amüsiert hat oder nicht. Diese Sache muß der einzelne mit sich selber abmachen. (32)Die üblichen Leitlinien fallen bei der Posse weg. Man kann nicht mehr im voraus wissen, was einem geschehen wird. Und sogar im Augenblick selbst kann man nicht sicher sein, was einem widerfährt. Eine gewisse Unsicherheit gehört also zur Atmosphäre und diese Atmosphäre dringt ins Tiefste der Anwesenden ein, bis man nicht mehr sicher ist, ob man selber weiß, wie es einem geht. Man sich auf die übliche Autoritäten nicht mehr verlassen, weder die des Nachbars, noch die des Kritikers, nicht mal auf die des eigenen Bewußtseins. Man teilt einen Raum mit anderen, ohne mit ihnen eine Einheit zu bilden. Es sei denn, man bilde eine Vereinigung, die nur eine gewisse Vereinzelung gemeinsam hat. Doch diese Vereinzelung schafft keine Individuen: sie schafft höchstens 'Dividuen', Einzelne, die nicht nur von anderen getrennt sind, sondern von sich selber. Was bietet nun die Posse zu sehen? Zunächst nur Formeln, Schablonen, Schemata, und hierin unterscheidet sie sich radikal vom modernen Charakterdrama: Man kann nicht als ein gewissenhafter Zuschauer die feine Charakterzeichnung bewundern, die im Drama sein soll; denn die Personen der Posse sind alle gezeichnet nach dem abstrakten Maßstabe 'überhaupt'. Situation, Handlung, Dialog, alles ist nach diesem Maßstab. Man kann deshalb ebensogut wehmütig gestimmt werden wie vor Lachen außer sich sein [...] der Zuschauer muß deshalb ganz als Einzelner selbsttätig sein. (33)Hier finden wir eine Eigenschaft, die auch Walter Benjamin in seiner Untersuchung des barocken Trauerspiels hervorgehoben hat: die Schematik der Allegorie. Kein Versuch der Individualisierung, sondern das Auseinanderklaffen von Allgemeinem und Besonderem. Diese Divergenz ist aber, so Constantin Constantius, alles andere als einfach naiv, 'denn die Naivität der Posse ist doch so illusorisch, daß es für den Gebildeten unmöglich ist, sich naiv zu ihr zu verhalten...' (33). Wie aber sich sonst verhalten? Die Antwort kann jedenfalls nicht einfach sein, denn bei dem Zuschauer ist 'nicht nur eine einzige Stimmung gegenwärtig [...], sondern die Möglichkeit zu allen' (33). Das Vorherrschen von Schemen, von Typen, die nicht naiv als solche dargeboten wird, bricht mit der traditionellen Zielsetzung der klassischen Ästhetik, das Allgemeine in seiner Besonderung darstellen zu können. Kein Hegelsches 'konkrete Allgemeine' bei der Posse, sondern erstmals eine Allgemeinheit, die als solche sich darbietet. Wieso und wozu? Diese Frage der Funktion des abstrakten Schemas bei der Posse läßt sich nicht mehr allein allgemein-theoretisch diskutieren, sondern nur in Bezug auf einzelne Darbietungen, die wiederum ebenso einzelne Perspektive reflektieren. Aus der allgemeinen Diskussion der Posse geht also Constantin, relativ abrupt und ohne Übergang, zu einer Beschreibung eines einzelnen Einrichtung, des 'Königstädtischen Theater', wo Possen 'vortrefflich' gegeben wird, nach dem 'Dafürhalten' Constantins zumindest, der dabei gern zugibt, daßseine: 'Meinung [...] natürlich gänzlich individuell' sei. Die übrige Beschreibung besteht konsequenterweise aus zwei Teilen: einem, der den Schauspielern des Königstädtischen Theaters gewidmet ist, und einem zweiten Teil, der die Erfahrung Konstantins im und nach dem Theater darstellt. Da meine Zeit schon recht fortgeschritten ist, werde ich gezwungen sein, mich kürzer zu halten als der Text es verdient hätte. Die Schauspieler werden zunächst als 'produktive Genies', die 'nicht so sehr reflektierende Künstler' seien als 'vielmehr Lyriker, die sich in den Abgrund des Lachens stürzen und sich nun durch dessen vulkanische Macht in die Szene hineinschleudern lassen'. Man merke, es geht hier bei der Beschreibung der Possenspieler vor allem um die Art, wie sie die Bühne betreten, um das also, was man bei dem dramatischen Theater den Auftritt heißt. Während aber das Wort Auftritt eine bedächtige, gemächliche Bewegung suggeriert, geht es hier, bei der Posse, eher um ein Geschleudertwerden. Die Possenspieler kanalisieren eine abgründige Kraft, die sich nie ganz beherrschen läßt. 'Sie wissen, daßihre Ausgelassenheit keine Grenzen hat, daßder Fond des Komischen in ihnen unausschöpflich ist und sie beinahe jeden Augenblick selbst überrascht.' (34) Es geht also hier um die Fähigkeit, vor allem sich selbst überraschen zu lassen. Doch Constantin hält sich jetzt nicht mehr auf der Ebene der allgemeinen Diskussion. Er schreitet jetzt zu einer Beschreibung von den zwei führenden Possenspieler des Königstädter Theaters fort: Beckmann und Grobecker. Ich würde mich hier auf die Beschreibung des Ersten beschränken. Seine Stärke, so Constantin, tritt 'nicht durch Charakterzeichnung hervor', sondern durch eine 'Stimmung', die sowohl exzessiv wie 'inkommensurabel' genannt wird. Diese Inkommensurabilität unterscheidet sich von 'dem künstlerisch[en] Kommensurablen' wie überhaupt die Posse von der klassischen Kunst unterscheidet. Das Inkommensurable verkörpert sich zunächst und vor allem in der Art, wie Beckmann die Bühne betritt. Damit kommen wir wieder zur Frage des Anfangs zurück: zur Frage der Bewegung, gewiß, aber vor allem in einer Form, die den Körper betrifft, nämlich der des Gehens. Diogenes ging auf und ab um die Möglichkeit der Bewegung vorzuführen. Beckmann tut etwas Ähnliches: Auf einem eigentliche Kunsttheater sieht man selten genug einen Schauspieler, der wirklich gehen und stehen kann. Ich habe wohl ganz vereinzelt einen solchen gesehen; aber was B[eckmann] vermag, habe ich nie zuvor gesehen. Er kann nicht bloß gehen, er kann auch gegangen kommen. Dies Gegangenkommen ist etwas ganz anderes und durch diese Genialität improvisiert er zugleich die ganze szenische Umgebung. (36)Da meine Zeit eigentlich schon um ist, möchte ich hier anstelle eines Kommentars eine Frage stellen: kann ein Stocken selbst eine Bewegung implizieren? Kenn eine Vereinzelung eine Wiederholung sein? Das Wort, gehen, wie es hier an dieser entscheidenden Stelle verwendet wird, gibt uns darüber, wenn nicht eine eindeutige Antwort, so zumindest einigen Aufschluß. Gehen bedeutet sowohl sich bewegen wie auch sich entfernen. In der deutschen Übersetzung kommt Beckmann gegangen. Die Ubersetzerin verwendet eine idiomatische Wendung, die sich umso mehr rechtfertigen läßt, als sie in einem deutschen Gedicht vorkommt, das gegen Ende des Ersten Teils des Textes zitiert wird: Das Nönnlein kam gegangenUnd dennoch geht bei dieser Übersetzung etwas wichtiges verloren. Denn im dänischen Text wird das eigenartige, geniale Kommen von Beckmann nicht mit dem Perfekt beschrieben, sondern mit dem viel unabgschlossenen, unvollendeten Partizip Präsens: er komme gaaende, buchstäblich, kommt gehend. Das unmittelbar sich nicht Vollendende des Auftritts ist hier entscheidend. Indem Beckmann an-kommt, prä-sent wird, vor den Augen der Zuschauer tritt, ist er schon dabei, wieder zu gehen, zu verschwinden. Denn nicht er, Beckmann, im Sinne einer festzumachenden Person erscheint, sondern etwas anderes: eine Welt. Nicht aber eine Welt von Individuen, von psychologischen Charaktere, sondern, wie beim 'Handwerksbursch', ein Typ, das in seiner individuellen Erscheinung nie ganz aufgeht. Denn der Handwerksbursche, den Beckmann gehend kommen läßt, ist keine Charakterzeichnung, dazu ist er zu lose hingeworfen in seinen in Wahrheit meisterlichen Konturen; er ist ein Inkognito, worin der Dämon der wahnwitzigen Komik wohnt, der sich schnell entwickelt und alles hinreißt zu hemmungsloser Lustigkeit. (36) Diese Figur ist ein Wurf, der vor allem von seinen Konturen her zu erfahren ist. Konturen beschreiben die Linien, wo ein Körper die Umgebung streift oder tangiert. An den Konturen setzt sich eine Gestalt mit der Umwelt auseinander. Diese Auseinandersetzung bleibt daher nicht bei sich. Es folgt darauf deshalb eine Beschreibung von Beckmanns Tanzen, bei dem er 'ganz außer sich' gerät, indem 'des Lachens Wahnsinn in ihm [...] nicht mehr Platz finden [kann]'. Alles -- Tanz wie Lachen -- sind Bewegungen, welche die Geschlossenheit des Individuums sprengen. Die Posse ist letztlich Sprengstoff. Dieser bezieht seine Kraft aus dem Publikum, wie ein Text die seinige aus seinen Lesern. Daher auch richtet sich plötzlich den Diskurs Constantins ausdrücklich auf die Leser, nicht als Kollektiv sondern in ihrer jeweiligen Einzelheit, als potentielle Possenbesucher: Man tritt ein in das Königstädter Theater. Man nimmt seinen Platz im ersten Rang [...] Im ersten Rang kann man ziemlich sicher sein, eine Loge für sich allein zu bekommen. Ist dies nicht der Fall, so darf ich dem Leser die Loge Nr. 5 und 6 links empfehlen, damit er doch durch meine Schreiberei etwas Nützliches zu wissen bekomme. Dort findet sich hinten ein Platz in einer Ecke, nur für eine Person berechnet, wo man unvergleichlich gut sitzt. (37)Die Loge 5 und 6, links: endlich etwas Konkretes, etwas Nützliches. Wo liegt das Theater doch...? Wie kommt man dahin? Spielt Beckmann heute? Doch nicht erst durch den zeitlichen Abstand kommt dieses Theater nur im Gehen vor. Schon Constantin scheint es ähnlich vorgekommen zu sein: Man sitzt also allein in seiner Loge, das Theater ist leer; das Orchester spielt eine Ouvertüre, die Musik dröhnt in der Halle, etwas unheimlich, gerade weil es dort so öde ist. (37)Das Theater selbst ist zu einer Art Theater geworden: unheimlich, öde, leer. Es scheint voll zu sein, aber dies ist nur Schein. Man sitzt dort ganz allein, ganz einsam. Oder gibt es mehr als nur ein Theater, einePosse? Was, wenn es mehrere davon gäbe, und alles irgendwie zugleich? Oder wenn es auch mehrere Orchestras gäbe? Genau das scheint einzutreten, als der Vorhang 'sich bereits ein bißchen [hebt]', da beginnt jenes andere Orchester, das nicht dem Taktstock des Konzertmeisters folgt, sondern einem inneren Triebe, jenes andere Orchester, der Naturlaut auf der Galerie, die bereits B[eckmann] in den Kulissen ahnt. [...] Desto märchenhafter wirkt dieses Lärmen. Überall, wo ich hinsehen konnte, war eine große Leere, der große Raum des Theaters verwandelte sich für mich in den Bauch eines Meerungeheuers, in welchem Jonas saß [...] (37-38) Das Theater verwandelt sich in einen ungeheuren Körper, Wal und Mutterleib zugleich, und zugleich Hinweis auf jene Schrift, die im zweiten Teil des Textes in der Geschichte von Hiob auftreten wird. Doch bleiben wir heute beim Theater, dessen Kommen schon fast gegangen ist. Es gibt nur noch Zeit für eine letzte Wendung. Mitten in diesem Öde und dieser Leere, entdeckte ich eine Gestalt, die mich mehr erfreute, als Freitag den Robinson erfreute. In einer Loge gerade mir gegenüber saß ein junges Mädchen auf der dritten Bank, halb versteckt von einem älteren Herrn und einer Dame. Das junge Mädchen war kaum im Theater, um gesehen zu werden [...] sie war nicht in Zobel und Marder gehüllt, sondern in ein großes Tuch, und aus dieser Umhüllung beugte sich ihr demütiges Haupt, wie die obersten Glocke eines Maiglöckenstengels sich aus der Hülle eines großen Blattes hervorneigt. Wenn ich da auf Beckmann gesehen, das Lachen meinen ganzen Körper hatte durchschütteln lassen, wenn ich hinsank in Mattigkeit [...] und zu mir zurückkehrte, dann suchte mein Auge sie, und ihr Anblick erquickte mein ganzes Wesen mit ihrer freundlichen Milde. (38-39)In der völligen Selbstaufgabe, wozu die Posse, Beckmann und das Lachen führt, wo es letztlich nichts mehr gibt, woran man sich festhalten könnte, wo 'ich hingestreckt liege, als wäre meine Gestalt ein beiseite gelegte Wanderstab ... weggeworfen wie die Kleider eines Badenden, hingestreckt am Strome des Lachens,' (38) in dieser Situation sucht Constantin eine Gestalt woran er sich festhalten kann und er findet sie, ihm gleich gegenüber, in der halbvermummten Gestalt eines jungen Mädchens, das nicht dort gekommen ist, um gesehen zu werden. Diese ist die Gestalt der von Constantin ersehnten Wiederholung. Ein mädchenhafte Figure, die die Zukunft noch vor sich hat, die die Zukunft auch verspricht. Genau diese Figur also sucht er sich, als er wieder in das Königstädter Theater kommt, nicht um zu gehen, sondern um etwas Bleibendes ausmachen zu können. Überflüßig Ihnen zu bestätigen, daß bei seiner Wiederkehr ins Königstädter Theater, nichts mehr davon zu finden ist: Das junge Mädchen war nicht zu entdecken, oder wenn sie da war, hätte ich sie nicht erkennen können, weil sie in Gesellschaft war. Beckmann konnte mich nicht zum Lachen bringen. Eine halbe Stunde hielt ich aus, dann verließ ich das Theater und dachte: es gibt überhaupt keine Wiederholung. Dies machte mir tiefen Eindruck. (40)Lassen wir den armen Constantin, zumindest für heute, und kehren wir ein letztes Mal zur allgemeine Frage des Theaters als Posse zurück. Denn dort vielleicht läßt sich eine mögliche Rolle des Theaters im Zeitalter der Medien ausmachen. Jean Genet, der einen ausgeprägten Sinn für Possen hatte, ahnte so etwas wohl als er Folgendes schrieb: Es ist möglich, daß die Maler, als sie sich zum ersten Male mit den Resultaten der Photographie konfrontiert waren, fassungslos blieben. Nachdem sie sich wieder gefaßt hatten, entdeckten sie, was Malerei noch sein konnte. Auf der gleichen oder ähnlicher Weise, blieben die dramatischen Stückeschreiber fassungslos vor all dem, was durch Fernsehen und Kino möglich wurde. Wenn sie aber einsehen -- und das steht noch aus -- daß das Theater nicht mit den maßlosen Mitteln von Fernsehen und Kino rivalisieren kann, so werden die theatralische Schriftsteller vielleicht die eigentlichen Möglichkeiten des Theaters entdecken...(O.C. IV, S. 12) Genet war nicht in der Lage genauer anzugeben, worin diese 'eigentliche Möglichkeiten', diese 'vertus propres au thé’tre' bestehen konnte. Ich möchte nach der Lektüre Kierkegaards vorschlagen, sie in jene Richtung zu suchen, die durch das Wort Posse angedeutet wird. Denn das Wort verweist nicht allein auf den Körper, sondern auf seine exponierte Stellung im Raum, auf seine Plazierung. Im 15. Jahrhundert bezeichnete Possen zuerst 'reliefartige und figürliche Bildwerke am Bauwerken'; erst danach kam es dazu, 'verschnörkelte, oft komische und groteske bildnerische Beiwerk an derartigen Bauten.' zu bedeuten. (Duden Herkunftswörterbuch, S. 542) Wuchernde Auswüchse, welche keine Kontouren mehr respektieren, gehören zum semantischen Feld des Wortes Posse, das also nicht zufällig mit dem französischen bosse (Beule, Höcker, Erhöhung) verwandt zu sein scheint. Durch die Deformierung der guten Gestalt durch Possen, wird die Gewalt der Abgrenzung als Dynamik wieder sichtbar gemacht. Vielleicht darin zeigt sich eine mögliche Aufgabe des Theaters im Zeitalter der Medien. Nämlich die Dellen und andere Spuren der Gewalt vorzuführen, nicht als Gestalt, nicht als Bild, als Figur, als Charakter, und auch nicht als deren Kollision und Katastrophe. Dafür reicht der Abendschau und die Zeitungen. Sondern vielmehr, sich am Rande, als Randerscheinung der Virtualisierung zu insistieren, zu existieren, vor allem aber einfach zu sistieren: das wäre ein Theater am Rand des Virtuellen. Ein Theater, das gehend kommt. Ein Theater vor Ort.
1. Pierre Lévy, "Sur les chemins du virtuel", http://www.univ-paris8...pierre/virtu1.htm, p. 4. - Zurück zum Text. 2. Insofern als Aristoteles das Theater vor allem in Bezug auf die Tragödie und die Komödie denkt, d.h. dramatisch eher als theatralisch, bereitet er den Weg vor für das moderne Theater, das, wie Artaud betont, vor allem erzählen will. Wo aber Aristoteles sich von der Moderne sich deutlich unterscheidet, ist in der Bestimmung dessen, was erzählt werden sollte. Für das moderne Theater, wie Artaud betont, ist es vor allem Psychologie: d.h. die Geschichte eines Charakters, eines Bewußtseins. Für Aristoteles ist es eine Handlung oder ein Ereignis, nicht aber auf Handelnden. Über die Bedeutung von Aristoteles siehe meine Diskussion der Dramaturgie Genets ('Double Take') und Artaud ('Virtual Theater'). - Zurück zum Text. 3. Duden, Das Herkunftswörterbuch, Mannheim/Wien/Zürich, 1989, S. 502. - Zurück zum Text. 4. Sören Kierkegaard, Die Wiederholung, Werke, Bd. II, übersetzt von Liselotte Richter, Rowohlt Verlag, Hamburg, 1966. - Zurück zum Text. 5. Ich verweise hier auf Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung (Paris, 1968), Sylviane Agacinski, Aparté (Paris, 1977) und die Schriften von Jacques Derrida, die nicht nur thematisch und begrifflich, sondern auch 'stylistisch' dem Kierkegaardschen Text zutiefst verpflichtet sind. - Zurück zum Text. 6. Man findet eine ähnliche Hervorhebung der 'blocage' -- diesmal des Begriffs -- am Anfang von Deleuzes Differenz und Wiederholung (engl. Ausgabe, S. 12 ff.), zusammen mit einer Diskussion des Theaters als 'echte Bewegung' im Unterschied zur falschen der dialektischen Vermittlung und Negation. Neben Nietzsche ist vielleicht Kierkegaard die entscheidendste Quelle für Deleuzes Versuch, einen heterogenen Begriff der Differenz zu artikulieren. - Zurück zum Text. |