Wilde Kriege des Friedens

Zerstörung und Zerstreuung: zwei Aspekte der Macht

Von Samuel Weber

Die Idee einer Pax americana ist nicht neu. Sie wird seit mehreren Jahren von amerikanischen Politologen und Journalisten diskutiert, zumeist auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Einer der führenden Vertreter dieser Idee ist Thomas Donnelly, stellvertretender Vorsitzender des Washingtoner Forschungsinstituts, "Projekt für das neue amerikanische Jahrhundert" (Project for the New American Century). Ein anderer Vertreter ist der Redakteur des Wall Street Journals, Max Boot, der Anfang dieses Jahres ein Buch veröffentlicht hat, dessen Titel zugleich als Programm für die Zukunft gemeint ist: Die wilden Kriege des Friedens: Kleine Kriege und der Aufstieg amerikanischer Macht (The Savage Wars of Peace: Small Wars and the Rise of American Power).

Worin besteht nun das Wesen solcher Begründungen? Eine Haupttendenz zeichnet sich deutlich ab. Sie wird vielleicht am deutlichsten ausgedrückt gleich zu Anfangs der am 20. September veröffentlichten Erklärung zur "Nationalen Sicherheitsstrategie" (National Security Strategy): "Heute genießen die Vereinigten Staaten eine Position unvergleichlicher militärischer Macht und großen wirtschaftlichen und politischen Einflusses. In Übereinstimmung mit unserer Erbschaft und unseren Prinzipien werden unsere Kräfte nicht um einseitiger Vorteile willen verwendet, sondern um ein Gleichgewicht der Macht (balance of power) zu schaffen, welches die Freiheit der Menschen begünstigt."

Wie lässt sich aber eine "unvergleichliche militärische Macht" sichern? An diesem Punkt zeigen sich auch bei den Advokaten des neuen amerikanischen Imperiums erhebliche Meinungsunterschiede, die nicht ohne Interesse sind. Denn es geht darum, die Bedeutung von der militärischen Macht in der Behauptung des Imperiums genau einzuschätzen. Um die Divergenzen an diesem Punkt darzustellen, möchte ich auf einige Aufsätze der letzten Zeit kurz eingehen. Der erste ist eine Besprechung des schon erwähnten Buches von Max Boot durch Thomas Donnelly, abgedruckt in der Juli/August Nummer der angesehenen Zeitschrift Foreign Affairs. Der Titel von Donnellys Rezension kündigt schon seine Einschätzung des Buches deutlich an: "Die Vergangenheit als Vorspiel: Ein Imperiales Handbuch".

Die Lehre, die aus diesem "Handbuch" gezogen werden sollte, besteht Donnelly zufolge darin, dass es nicht so sehr die großen Kriege gewesen sind, welche den "Aufstieg amerikanischen Macht" begleitet und ermöglicht haben, sondern die "Kleinkriege", also die militärische Polizeiaktionen, wie etwa auf den Philippinen zwischen 1899 und 1902. Als Polizeiaktion allerdings dauerte die militärische Intervention viel länger als bis 1902 - nach letzten Meldungen kann man sogar behaupten, dass dieser "Kleinkrieg" immer noch im Gange ist, nämlich als Partisanenkampf. Ein solcher Kampf wird von den offiziellen Berichterstattern allerdings nicht mehr als "Krieg" betrachtet, nicht mal als "kleiner Krieg".

Die offizielle Interpretation lautet vielmehr, dass durch diese Intervention auf den Philippinen als dem ersten asiatischen Land ein nationales Parlament etabliert wurde (1907) und die Philippinen deshalb im Jahr 1935 eine gewisse politische Autonomie erlangten. Was allerdings dabei übergangen wird, ist die Tatsache, dass gerade die Ausrufung der Unabhängigkeit und Aufstellung eines repräsentativen nationalen Parlaments die amerikanische Intervention überhaupt ausgelöst hatte. Solche Details spielen für Boot wie für Donnelly keine große Rolle. Ihnen geht es darum, solche militärischen Interventionen als die Entwicklung einer Tradition darzustellen, die bis in die Gründerzeit der Vereinigten Staaten zurückreichen, als eine Figur wie Thomas Jefferson die Vereinigten Staaten als "Reich der Freiheit" bezeichnete.

Die Lehre aus dieser Tradition für die Gegenwart und Zukunft wird von Donnelly zum Schluss seines Artikels so zusammengefasst: "Ob die Vereinigten Staaten es gewollt haben oder nicht, irgendwie haben sie ein Imperium aufgebaut und können den sich daraus ergebenen Folgen nicht mehr entziehen. Auch wenn es wünschenswert wäre, sich von diesem imperialen Frontier (d.h. Vorposten) abzuziehen, wäre das nunmehr schwierig. Am Ende also dürften die Vereinigten Staaten keine Alternative haben, als jene ,wilden Kriege des Friedens' auf sich zu nehmen." Ein "Reich der Freiheit" wird nur um den Preis permanenter Polizeiaktionen aufrechtzuerhalten sein. Man erinnere sich, dass der Name, den die amerikanische Regierung ihrer militärischen Reaktion auf den 11. September gab, zunächst "unendliche Gerechtigkeit" hieß, bevor diese, die zu offen theologisch erschien, durch eine zweite Bezeichnung ersetzt wurde: "dauerhafte Freiheit" (enduring Freedom).

Wichtig und neu an beiden Benennungen - gerade in Verbindung mit der Lehre des "imperialen Handbuchs" - ist aber die Verknüpfung der militärischen Macht an Konflikten, die sich zeitlich nicht mehr eingrenzen lassen. Im Unterschied zum herkömmlichen Verständnis, unterscheidet sich der von Bush erklärte "Krieg gegen den Terrorismus" dadurch, dass er sich weder zeitlich noch räumlich leicht eingrenzen lässt. Dies setzt allerdings eine bestimmte Auffassung von Zeit und Raum voraus: Der neue Feind - "der internationale Terrorismus" in Gestalt der Al Qaeda - ist nicht mehr an ein bestimmtes staatliches Territorium gebunden.

Damit stellt die räumliche Dispersion und die zeitliche Diskontinuität der feindlichen Anschläge das Modell eines Konfliktes dar, dem die Linearität des militärpolitischen Denkens nicht gewachsen zu sein scheint. Der traditionelle Begriff des Krieges ist immer an eine lineare Denkweise gebunden, die in Fronten denkt, bzw. in Schlachten. Beide sind raumzeitlich lokalisierbar und eingeschränkt. Der "Gegner" soll, wie eben das Wort besagt, einem immer gegenüberstehen. Diese Erwartung wird aber durch die neue Art des Konfliktes fragwürdig. Ein Feind, der seine Positionen nicht mehr fest bezieht, sich nicht frontal präsentiert und nicht in Schlachten kämpft, sondern eher durch diskontinuierliche Schläge, die überall stattfinden können, und der darüber hinaus durch militärische oder polizeiliche Vergeltungsmaßnahmen sogar noch an Stärke zu gewinnen scheint - ein solcher Feind lässt sich nicht mehr durch eine Strategie besiegen, die immer noch und immer mehr einer militärischen, d.h. linearen Denkweise verpflichtet ist.

Genau eine solche Denkweise steht aber einer "Nationalen Sicherheitsstrategie" zu Grunde, die den präemptiven Krieg und den präventiven Schlag zu ihren Grundprinzipien erhebt: "Während Jahrhunderten erkannte das Völkerrecht, dass Nationen nicht erst einen Angriff erleiden müssten, bevor sie sich rechtmäßig (. . .) gegen einen unmittelbar bevorstehenden Angriff wehren dürften. Rechtsgelehrte und Völkerrechtler stellten häufig dabei als Vorbedingung, dass die Gefahr unmittelbar bevorstehe - zumeist eine sichtbare Mobilisierung von Armeen, Marine und Luftwaffe als Vorbereitung eines Angriffs. Wir müssen den Begriff der unmittelbar bevorstehenden Drohung den Möglichkeiten und Zielsetzungen der heutigen Feinde anpassen. Gaunerstaaten (rogue states) und Terroristen versuchen nicht, uns mit konventionellen Waffen anzugreifen."

So versucht man, das Problem einer nichtlinearen Gefahr eines unsichtbaren Feindes linear-militärisch doch in den Griff zu bekommen, und zwar erstens, indem "Terroristen" mit "Gaunerstaaten" gleichgestellt werden; und zweitens, indem die neue, unsichtbare Gefahr mit denselben Mitteln bekämpft wird wie die sichtbare Mobilisierung eines Heeres. Gedanken über die Herkunft und den Zuwachs solcher unsichtbaren Feinde werden offiziell ausgespart, zumindest aus der öffentlichen Diskussion - oder manichäistisch auf eine quasi-natürliche Vorgegebenheit des Bösen reduziert. Aber wenn die gleichen militärischen Maßnahmen, welche ein bestimmtes Territorium säubern und sichern sollen, den Feind zwar zerstreuen, aber in der Zerstreuung zugleich vermehren und verstärken, dann droht die Pax americana nicht ein Zeitalter unendlicher Gerechtigkeit zu werden, sondern eine destruktive Spirale endlicher Ungerechtigkeiten, die immer weniger unterscheiden zwischen Freund und Feind, Gewinner und Verlierer, Sieger und Besiegte, Unschuldige und Schuldige.

Nichtlineare Strategien

Nach David Ignatius ("Networks of Defense: Online gaming", in: International Harald Tribune v. 7. Dezember 2002) gibt es allerdings Ansätze im Pentagon, nichtlineare Strategien zu entwickeln, um der Bedrohung von Al Qaeda zu begegnen. Diese nichtlineare Strategien sollen die zerstreute Vernetzung des Internets zum Vorbild haben. Wie Ignatius schreibt: "In dieser Perspektive bilden Gegner wie bin Ladens Al-Qaeda-Gruppe eigentlich Vernetzungen - äußerst zerstreute (highly dispersed) Einheiten, welche die gleiche lockere, aber robuste Struktur haben wie die Knoten eines Computer-Netzwerkes."

Inwieweit es möglich sein wird, für eine Organisation wie das Pentagon solche nichtlineare Strategien tatsächlich zu entwickeln, steht augenblicklich völlig offen. David Ronfeld und John Arquilla, Ko-Autoren einer Rand-Corporation-Untersuchung über die Frage des "Netzkrieges", behaupten, dass "ein Netzwerk nur durch ein anderes Netzwerk bekämpft werden kann". Die Frage, wie diese militarisierten Netzwerke aussehen sollten und inwieweit sie mit den bestehenden militärischen Organisationen kompatibel wären, bleibt noch unklar. Ignatius zufolge suchen die Strategien eine Antwort bei den neuesten Video- und Computerspielen. Diese aber setzen zerstreute und transversale Vernetzungen voraus, die nur noch wenig mit der zentrierten Befehlshierarchie des traditionellen Militärs zu tun haben.

So gesehen, könnte der "Krieg gegen den Terror", eben weil er im traditionellen Sinne immer noch als lineare Krieg verstanden wird, scheitern, und zwar nicht so sehr an seinem Gegner, sondern vor allem an sich selbst.

Samuel Weber ist Professor für Philosophie und Literaturwissenschaft an der North Western University, Chicago.

- In unserer Reihe "Krieg gegen Irak?" erschienen bisher Beiträge von Wolfgang Sofsky (27. 1.), Judith Butler (28. 1.), Slavoj Zizek (29. 1.) und Jean-Luc Nancy (30. 1.). - "Dossier: Krieg gegen Irak?" URL: http://www.fr-aktuell.de/uebersicht/alle_dossiers/politik_ausland/krieg_gegen_irak/die_waffeninspektionen/?cnt=106418

Copyright © Frankfurter Rundschau 2003; Dokument erstellt am 30.01.2003 um 16:32:01 Uhr; Erscheinungsdatum 31.01.2003