Zum Supergedenkjahr:
"Verwaltungsakte
produzieren keine Erfahrungen"
Heiner Müller im Gespräch mit Hendrik Werner
(am 7. Mai 1995 in Berlin)
Der Kern der Gründungslegende abendländischer Gedächtniskunst
ist bereits durch deren Indienstnahme seitens der Rhetorik verstellt. Cicero
erzählt von der Geburt der Mnemotechnik aus dem Geist der Katastrophe:
Der Dichter Simonides war zu einem Gastmahl geladen. Als er kurzfristig
außerhalb des Speisesaals war, stürzte dieser ein, tötete
die anderen Gäste und - schlimmer noch: - verstümmelte sie bis
zur Unkenntlichkeit. Durch erinnernde Wiederherstellung der Sitzordnung
konnte der Mnemoniker eine andere Katastrophe abwenden: das Vergessen der
Plätze, die von den Toten im Leben eingenommen wurden. Durch Erzeugung
des status quo ante konnten die Toten von den <berlebenden bestattet
werden. Die Legende ist eine Deckerinnerung: Sie überschreibt einen
dem Ahnenkult verpflichteten Mythos. Die Bühne des ersten Theaters
der Erinnerung ist mit zerschmetterten Leichen bestellt. Die Urszene der
Gedächtniskunst intendiert Trauerarbeit. Würden Sie in Simonides
einen weniger glücklosen Engel der Geschichte sehen, und was vermag
Nekromantie heute noch auf dem Theater?
Die Frage war so schwierig,
daß ich jetzt noch einen Scotch brauche. Wollen Sie auch einen? Ernsthaft:
Die Geschichte ist toll. Ich kannte die übrigens nicht, oder ich habe
sie vergessen. Ich finde die Frage sehr gut als Aufhänger: Natürlich
glaube ich auch, daß Erinnerungsarbeit oder Trauerarbeit von Schocks
ausgeht, mit denen man umzugehen lernen muß. Und da geht es dann immer
auch um die Befreiung von Toten.
Anläßlich des 50. Jahrestags
der Befreiung diskutieren Sie am morgigen 8. Mai öffentlich mit Alexander
Kluge. Die Gedenkfeiern an diesem Tag stehen meist im Zeichen oktroyierten
Erinnerns unter dem Primat von Politik und Kulturindustrie. Benjamin nannte,
an Proust geschult, wahre "Data des Eingedenkens" nur jene, die
sich ungerufen einstellen. Inwieweit kann einem forciert-willkürlichen
und verstaatlichten Gedenken die Gefahr von Vergessen oder Verdrängen
innewohnen?
Ich glaube, daß Gedenktage oder Feiertage einen
ganz praktischen Wert haben, indem sie Gelegenheit zum Gespräch geben,
mit Kluge beispielsweise. Man vergißt soviel, und im Gespräch
tauchen dann bestimmte Dinge wieder auf, die man sonst wahrscheinlich nicht
erinnern würde. Und insofern ist es nützlich, auch wenn nichts
Systematisches daraus entsteht. Natürlich entsteht kein Werk daraus
und keine Form, aber es ist eine Hilfe, um Dinge auszugraben, die sonst
vielleicht verschüttet bleiben würden: Archäologie.
Hochmut
kommt vor dem Fall, Hochhuth nach dem Fall der Mauer. Wenn er, wie Sie sagen,
"im Kostüm der Treuhand" auftritt, bedeutet das, mit Marx,
Wiederholung der Geschichte als Farce. Wer soll darüber noch lachen,
nachdem er gestern den erfolgten Kauf des Berliner Ensembles verkündet
hat?
Ich weiß nicht recht, was das bedeutet, dieser Kauf.
Das ist eine Frage für Juristen, weil Hochhuth mit dem Kauf noch lange
nicht das Geld hat, um dort Theater zu machen. Das ist das Entscheidende.
Ohne Subventionen kann man in Deutschland sowieso nicht Theater spielen.
Das heißt, man kann die drohenden "Stellvertreter"-Festspiele
womöglich rückgängig machen, noch bevor sie begonnen haben?
Das weiß ich nicht, ich habe ja gar nichts dagegen. Aber ich
kann mir nicht vorstellen, wie das finanziert werden soll. Und über
die Finanzen verfügen nicht die Autoren. Soviel Geld hat Hochhuth nicht,
um damit ein Theater bezahlen zu können.
"Mommsens Block"
handelt vom Löschungsprojekt, mit dem die Bundesrepublik die DDR-Geschichte
auszustreichen oder zumindest zu klittern sucht. Der Bildersturm richtete
sich allererst gegen die steinernen Zeugnisse politischer Ikonographie.
Wie haben Sie es erlebt, als - wie in "Hamletmaschine" antizipiert
- die Köpfe von Marx und Lenin rollten?
Erlebt und gesehen
habe ich das nicht, weil ich nicht dabei war. Ich fand es auch viel interessanter
und spannender, als das in Budapest passierte oder in Prag, weil es da nicht
von staatlicher Gewalt ausging. Hier war es einfach ein Verwaltungsakt.
Und das, glaube ich, gräbt sich auch nicht ins Gedächtnis, und
es wird weder Erinnerung noch Erfahrung. Verwaltungsakte produzieren keine
Erfahrungen.
Aber ein Ikonoklasmus, getragen von der Bevölkerung,
würde Erfahrung produzieren?
Das läßt sich vielleicht
der Geschichte mit den Kirchturmuhren vergleichen, die Benjamin in seinen
Thesen über den Begriff der Geschichte zitiert. Wenn Revolutionäre
auf Uhren schießen, dann ist das etwas ganz anderes, als wenn beispielsweise
die Sommerzeit verkündet wird. Denn das spielt überhaupt keine
Rolle und hat auch keine körperlichen Folgen.
Sie inszenieren
in "Hamletmaschine" Stalins Ausweisung aus dem Mausoleum als ein
karnevalistisch-kannibalistisches Happening und Inversion seines eigenen
Leichentheaters. Warum hat ein solches Gegenfest zur monologisch-offiziellen
Gedenk- und Festkultur, wie Bachtin es sich gewünscht hat, faktisch
nie stattgefunden?
Wahrscheinlich, weil diese Figuren oder Skulpturen
schon vorher hohl gewesen sind, ausgehöhlt durch historische Erfahrung,
so daß das Umstürzen nur noch so etwas war wie eine Sprechblase.
Aber der Text war vorher bereits geschrieben oder gesprochen. Viel interessanter
finde ich eine andere Geschichte, etwas anekdotisch, eigentlich ganz dumm:
Ein Bekannter erzählte mir, ein Freund von ihm sei in Prag gewesen
nach dem Sturz des Stalin-Denkmals. Das war das größte oder höchste.
Jedenfalls lag es da noch in Stücken herum, weil es sehr schwer war,
die Teile abzutransportieren, und es lag dementsprechend noch sehr lange.
Dieser Freund jedenfalls suchte mit seiner Freundin ein Hotelzimmer. Ob
besetzt oder zu teuer: Sie fanden keines, und da haben sie im linken Ohr
von Stalin übernachtet: eine Hausbesetzung sozusagen. Eine Besetzung,
die viel interessanter ist als so ein Verwaltungsakt.
Boris Groys
nennt die meist in ÷l gehaltenen Bilder Stalins, mit denen das Porträt
zum integralen Bestandteil des Gesamtkunstwerks zu Ehren kam, "Abbilder
des Demiurgen in sich selbst". Wie verbreitet waren solche Bilder in
der DDR? Und Denkmäler Stalins?
Das spielte keine so große
Rolle, weil auch die verordnet wurden. Also auch ein Verwaltungsakt. Das
interessierte die Leute erst, als sie geschleift wurden, beispielsweise
dieser Lenin auf dem Lenin-Platz. Der ist nie aufgefallen. Es gab Witze
über all diese Denkmäler, weil man an dem Pathetisch-Heroischen
die komischen Seiten gesehen hat. Zum Beispiel hatte Lenin den rechten Arm
wie Napoleon auf der linken Brust, um seine Brieftasche festzuhalten, damit
die Russen sie ihm nicht klauten. Solche Geschichten wurden erzählt.
Oder Marx und Engels. Die stehen, glaube ich, sogar noch. Die hießen
eben Sakko und Jacketti wegen ihrer bürgerlichen Kleidung. Das war
die Haltung dazu. Und ein Problem ist es erst geworden, Erinnerung ist es
erst geworden durch den Verwaltungsakt, mit dem das Vergessen installiert
werden soll.
Lenin spricht in "Staat und Revolution" prophetisch
davon, daß man nach dem Tode von Revolutionären versuche, diese
heiligzusprechen, man gestehe "ihrem Namen einen gewissen Ruhm zu zur
'Tröstung' und Betörung der unterdrückten Klassen, wobei
man ihre revolutionäre Lehre des Inhalts beraubt, ihr die Spitze abbricht,
sie vulgarisiert". Denkt man daran, daß 1918 unter Lenins gide
der Rat der Volkskommissare verfügte, daß für alle bedeutenden
Persönlichkeiten Denkmäler errichtet werden sollten, so fragt
sich, inwieweit er seiner Sakralisierung und Mumifizierung den Boden bereitet
hat.
Das war natürlich ein Versuch, die russischen Bedingungen
zu bedienen, die Lenin vorher nicht gesehen hatte. In einem seiner letzten
Telegramme, die überhaupt von heute aus gesehen seine interessantesten
Texte sind, schreibt er, er würde den Marxismus kennen und die europäische
Philosophie, nicht aber Rußland.
Da schimmert wieder der Kampf
Roms gegen Byzanz durch.
Sicher, Stalin kannte Rußland, ohne
es zu wissen: durch den Instinkt. Ich habe jetzt gerade einen Text von Ernst
Jünger aus der Zeitschrift von Niekisch über Trotzkis Erinnerungen
gelesen, interessant vielleicht nur wegen des Titels, wo er genau diesen
Punkt beschreibt: die Bodenhaftung von Stalin...
"Antäus.
Und was die Erde in den Märchenbüchern/Das ist die Masse in der
Politik." (Müller)
...gegen die Trotzki als Intellektueller
und Jude keine Chance hatte. Es gab da einen Satz, den ich ganz gut fand:
Die Leute um Stalin waren vielleicht weniger klug als Trotzki, aber genau
das war ihre <berlegenheit.
Nietzsche attestiert den Deutschen,
daß sie es vorzüglich verstünden, dem "Menschenthiere"
ein Gedächtnis zu machen. Die Mnemonik des Schmerzes brennt - oder
wie bei Kafka - schreibt sich den Leibern ein. Ist die Logik des "grausamen
Alphabets", wie es Deleuze/Guattari nennen, die krude Gleichung Schrift
= Kultur = Gewalt? Falls ja, nur bei den Deutschen?
Ich weiß
nicht, ob man das allein den Deutschen vorbehalten kann. Vielleicht ist
das in Deutschland nur darum etwas ausgeprägter oder auffälliger,
weil bei den Deutschen die Schrift nie zu einer nationalen Position oder
Geschichte geronnen ist, ganz einfach durch die ständige Störung,
aufgrund der geographischen Lage in Mitteleuropa. Alle Kriege fanden letztlich
hier statt oder endeten hier. Und die <bersetzung von Schrift in Realität
wurde ständig gestört durch Geschichte. Das hat natürlich
zu tun mit der seltsamen Anmerkung von Brecht zu Mutter Courage und ihre
Kinder: daß die Bauernkriege das größte Unglück in
der deutschen Geschichte gewesen seien. Das hat mich sehr verblüfft,
und ich habe es damals nicht verstanden, sondern eigentlich erst 1989: daß
die Bauernkriege eine verfrühte Revolution waren, mit der das ganze
Potential schon aufgebraucht war.
Freud hat zeitlebens versucht,
das Phänomen des Gedächtnisses in eine adäquate Bildlichkeit
zu überführen: an prominenter Stelle mit dem Wunderblock, der
den Mechanismus des Palimpsests reaktualisiert; anderenorts mit dem Bilde
Roms, um die ungleichzeitige Gleichzeitigkeit von Gedächtnisinhalten
vorzuführen. Was geschieht momentan im Gedächtnisraum Berlin?
Gibt es einen Kampf der Erinnerungen, oder ist alles schon gelaufen?
Im Moment sieht es eher so aus, als ob alles schon gelaufen ist. Das glaube
ich aber nicht. Ich erinnere mich daß einmal der Joseph Brodsky hier
war, eingeladen von Bertelsmann zu dieser netten Veranstaltung, den Berliner
Lektionen. Der sagte, daß er in Berlin ständig das Gefühl
habe, daß er über Leichen geht, das Gefühl, darunter sei
irgendetwas, was nicht begraben ist. Berlin ist unbegraben, obwohl ständig
darüber gebaut wird. Dieses hektische Bauen gehört natürlich
auch zu dem großen Verdrängungsprozeß. Interessant wird
das alles erst in 20 oder 30 Jahren, wenn entweder alles planiert ist oder
aber wieder aufbricht.
In einem jüngeren Text, "Die Nacht
der Regisseure", konstruieren oder rekonstruieren Sie einen Traum.
Was im Traum geschieht, grenzt an Mnemopathologie. Vorgängig Abgeschiedenes
drängt machtvoll zurück. Will, wer vorgibt nicht zu träumen,
sich nicht erinnern?
Mich hat diese Lessing-Aussage gegenüber
Leisewitz immer sehr erstaunt, daß er nie geträumt habe. Verblüffend
ist einmal, daß Lessing es überhaupt sagt. Man kann sich das
für Lessing erklären, andererseits ist merkwürdig, wenn man
beispielsweise Nathan der Weise liest. Es gab eine Inszenierung vom Nathan
in München von Fritz Marquardt, der von Lessing leicht geschädigt
oder stark geprägt ist: Da sah man plötzlich, wie sehr Kleist
von Lessing kommt. Und was Lessing durch die Weigerung zu träumen verdrängt
hat, das bricht bei Kleist auf. Das ist, glaube ich, der Punkt: Man kann
sich eine Zeitlang aus Disziplin oder aus Angst das Träumen verbieten,
aber dann bricht es irgendwann furchtbar auf, und der Traum wird eine rotierende
Realität.
Marx opfert im "Achtzehnten Brumaire des Louis
Bonaparte" die weltgeschichtlichen Rückerinnerungen dem Fortschrittsaxiom
des Historischen Materialismus, die Toten dem Telos säkularisierter
Heilsgeschichte. Wie kann es in einem politökonomischen System wie
dem unsrigen, das Zeitlichkeit und Gedächtnis aufkündigt zugunsten
der Geschichtslosigkeit der Computerspeicher, überhaupt noch möglich
sein, die Toten auszugraben und den "Alp toter Geschlechter" vom
Rücken oder Hirn der Lebenden zu nehmen, wenn - so scheint's - niemand
mehr darunter leidet?
Das mit dem Leiden ist die Frage. Sie kennen
diesen Satz von Baudelaire: Langeweile ist der auf Zeit verteilte Schmerz.
Die Form, in der hier Schmerzen erfahren werden, ist die Langeweile. Weil
das die Verarbeitung von Schmerz ist, die am ehesten zu plötzlichen
und unberechenbaren Gewaltausbrüchen führen kann. Aus der Langeweile
entsteht der Amoklauf. Und das ist die Panik, die es überall gibt.
Unerwartet kann, wenn man um die Ecke geht, ein Amokläufer dastehen.
Das liegt an diesem Verdrängungspotential, was man jetzt mobilisieren
will.
Alexander Kluge und Oskar Negt fragen, ob man Denkmäler
nicht in doppelter Ausführung produzieren müßte: "das
eine, um einen bestimmten - möglicherweise Verzerrungen und Irrtümer
enthaltenden - geschichtlichen Stand festzuhalten; das andere, damit es
von den Menschen im weiteren Verlauf deformiert, korrigiert, verändert
werden kann". Meinen Sie, daß diese Methode, wie sie etwa von
der Wiedertäuferbewegung praktiziert wurde, effizient sein könnte,
um sowohl die Geschichte als auch die Differenz von Geschichte in der Öffentlichkeit
von Denkmälern festzuhalten?
Mir fällt zunächst eine
parodistische Version davon ein: Hermann Henselmann, Architekt der Stalinallee,
war ein sehr witziger Mann. Der hatte die Idee, man sollte Gummidenkmäler
machen, in dieser ostdeutschen und osteuropäischen Struktur, die man
aufblasen könne, je nach dem Stellenwert, den die Politiker gerade
in der Parteigeschichte oder Parteitheorie haben. Denkmäler, bei denen
man die Luft rauslassen kann oder rein, die man ständig verkleinern
oder vergrößern, die man natürlich auch völlig deformieren
kann, indem man mehr Luft rausläßt.
Sie sagten mal, Ihr
Traum sei ein Gummidenkmal von Helmut Kohl im Teutoburger Wald...
Ja, das hatte auch mit Henselmann zu tun. Aber gerade der Teutoburger Wald
- das passiert ja sehr leicht bei so heroischen Versuchen oder Heroisierungsanstrengungen:
Neulich, vor ungefähr einem Jahr, war ich zum ersten Mal dort und habe
unter diesem Hermannsdenkmal gestanden. Das Seltsame daran ist die ausgeprägte
Weiblichkeit dieser Figur durch die gewaltigen Dimensionen. Wenn man das
von unten betrachtet, sieht man absolut weibliche Hüften und Oberschenkel.
In den Pietá, vor allem zwischen den Weltkriegen als einer Hoch-Zeit
des politischen Totenkults, selbst in jener von Käthe Kollwitz, soll
individuelle weibliche Trauer die Apologie männlichen Stahlgewitters
überschreiben. Ikonographisch häufig von germanisierend-martialischer
Motivik tingiert und mit phänotypischen Attributen etwa der Walküren
ausgestattet, intendieren solche Monumente Viktimisierungsstrategien. Die
gramgebeugte Muttergottes mutiert zur endsiegesgewissen Kriegermutter, die
sich um tote Kinder nicht eigentlich schert. Ist die damit verbundene Usurpation
des kollektiven Gedächtnisses, ist der "staatliche Griff nach
den Toten" (Müller) zu verhindern, wie er sich etwa in der Erinnerungspolitik
bezüglich der Neuen Wache einmal mehr fortschreibt?
In dem
Zusammenhang, auch wenn es ganz marginal ist: Sie werden das mitbekommen
haben, daß die Demonstration vor der Neuen Wache verboten worden ist,
weil man da nicht den richtigen Zugriff hat gegen eventuelle Störer.
Sie sind auf einen Platz verwiesen worden, den man gut einsehen kann, damit
die Ordnungskräfte gut sortieren können...
Was bedeuten
für Sie die Gestalt einer Piet, das überschriebene und funktionalisierte
Leid einer Mutter, die Beschwörung einer bösen Mutter-Imago zu
militaristischen Zwecken?
Es gibt eine Geschichte in Das abenteuerliche
Herz von Jünger: Zwei Söhne einer Proletarierfamilie rutschen
arbeitslos in die Kriminalität ab und fallen schließlich in einem
Feuergefecht mit der Polizei. Die Eltern werden zur Identifizierung ins
Leichenschauhaus gebeten. Der Vater, ein deutscher Proletarier: Facharbeiter,
schämt sich für die Familie oder die Söhne, und die Mutter
wirft sich über die Toten mit perfektem Blankvers: "Hab' ich Euch
endlich, meine lieben Jungen!" Das ist ein schönes Beispiel dafür.
Es liegt schon eine Gewalt darin, ob es Frauen oder Mütter sind, weil
es da keine staatlichen Ordnungen mehr gibt und auch keinen relevanten Unterschied
mehr zwischen Leben und Tod. Sehr viel weniger jedenfalls als bei Vätern
oder bei Männern, die stärker eingebunden sind in gesellschaftliche
Zwänge...
Noch direkter gefragt: Ist die Konfrontation mit einem
Kriegerdenkmal, das in "Krieg ohne Schlacht" von Ihnen als Pietá
ausgewiesen wird, wirklich das erste Bild, das Sie von Ihrer Kindheit haben?
Ja. Wobei ich das nur weiß, weil ich in der Schule mal einen
Aufsatz darüber schreiben mußte.
Statt "Mein schönstes
Ferienerlebnis" also "Meine erste Erinnerung"?
Ja,
genau (lacht).
Gab es wesentliche Unterschiede zwischen Toten- oder
Gefallenenkult Ost und West? Ich denke besonders an die beiden deutschen
Staaten.
Die Bundesrepublik hat ja eigentlich gar keine Toten. Und
die DDR war ein Staat der Toten. Ich traf den Kipphardt, der Jahre nachdem
er weggegangen war, zum ersten Mal wieder einreisen durfte. Das war zum
Begräbnis von Ernst Busch. Den hatte er gut gekannt, war also beim
Begräbnis dabei, und wir trafen uns danach. Er war sehr beeindruckt
von diesem merkwürdigen Vorgang: Ernst Busch hatte zuletzt sehr große
Probleme, er war nicht mehr ganz geistig anwesend und hatte seit zehn, zwölf
Jahren mit der Parteiführung Differenzen gehabt, unglaubliche Auseinandersetzungen
mit Ulbricht. Er war also überhaupt nicht mehr genehm, er störte,
und er war auch nicht mehr im Sinne der Partei zurechnungsfähig. Aber
beim Begräbnis war das alles vorbei, er war nur noch "unser Ernst
Busch". Also eine Einvernahme der Toten. Die Toten waren die Legitimation
der DDR.
Baudelaire, der der Musenmutter Mnemoyne allererst zu
poetologischen Ehren verholfen hat, benennt im "Salon von 1846"
die Erinnerung als "das große Kriterium der Kunst". Gegen
Mnemotechnik bietet er das produktive Künstlergedächtnis auf,
gegen Mimesis und Anamnesis setzt er Phantasie. Das bedeutet: Poesie als
Erinnerungsarbeit der Imagination. Meinen Sie, daß daß man Originale
indivualgeschichtlicher Szenen und Szenarien beliebig reproduzieren kann.
Oder ist jede Verschriftlichung schon eine Umschrift, jede uneinholbare
'Urszene' nachträglich bedeutet?
Ich weiß nicht, ob das
eine Antwort ist, aber Gedächtnis ist ja für Leute, die Kunst
machen, etwas ganz anderes. Es geht nicht primär um das Erinnern von
Ereignissen. Das können Maschinen letztlich vielleicht besser: das
Erinnern von Fakten. Es geht um das Erinnern von Emotionen, von Affekten,
die im Zusammhang mit Ereignissen stehen. Um ein emotionales Gedächtnis.
Und das ist es, was das Erinnerte zu Material in dem Sinne macht, daß
man über dieses emotionale Gedächtnis Traditionen bilden und Erfahrungen
tradieren kann. Da geht es gar nicht um Fakten. Das ist auch der Punkt,
wo es im Grunde irrelevant wird, ob im historischen Roman oder Drama Ereignisse
in der Folge abgebildet werden, in der sie aufgetreten sind, oder ob man
die Chronologie ändert: der Unterschied zwischen der empirischen Wahrheit
und der historischen. Die historische ist manchmal gar nicht identisch mit
der empirischen, weil die Ereignisse, wenn sie manifest werden, wenn sie
geschehen, oft schon vorbei sind. Sie sind vorher passiert, die eigentliche
Bewegung hat längst stattgefunden. Auch 1989: Was da stattfand, war
eine Sprechblase. Die eigentlichen tektonischen Erschütterungen lagen
lange vorher. Sie sind vielleicht in einigen Texten, in einigen Kunstwerken
wahrgenommen, aber nicht dingfest gemacht worden. Das wurde plötzlich
klar oder bewußt, als es eigentlich vorbei war. Da hatte man vielleicht
vorher eine Ahnung von Prozessen gehabt, die aber, sobald sie an der Oberfläche
waren, eigentlich schon nichts mehr bewegten und nicht mehr in Bewegung
waren.
Benjamin fordert in einem Denkbild, daß "im strengsten
Sinne episch und rhapsodisch wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von
dem der sich erinnert geben müsse". Und er meint - wie meist -
damit, daß Inhalte kollektiver und individueller Vergangenheit in
Konjunktion stehen. Meinen Sie, daß individuelles und kollektives
Gedächtnis parallelisierbar sind? Daß sich ein Individuum in
kollektiver Geschichte wiedererkennen kann?
In privilegierten Momenten
bestimmt.
"Das letzte Band" von Beckett ist eine Proust-Parodie
par excellence. Krapp muß erkennen, daß selbst technisch gesicherte
Präsenz von Vergangenheit nicht zum Madeleine-Erlebnis taugt. Wenn,
wie etwa Sartre das tat, ein alternder Mann seine Memoiren auf Tonband spricht,
wäre das nur Kapitulation vor der Unverfügbarkeit von Erinnerungen
angesichts der Trümmer einer Autobiographie, die nicht in Stringenz
und Kausalität überführbar ist, vorgeführt etwa von
Barthes und Ihnen?
Interessant fand ich das erst nachträglich,
auch weil ich es im Grunde sehr ungern gemacht habe und dazu überredet
worden bin, so daß ich es eigentlich sehr lange bereut habe, es überhaupt
gemacht zu haben. Denn es ist natürlich eine Abplattung von Erinnerung,
wenn man einfach vor anderen darüber redet. Wirkliche Erinnerung braucht
schon die Arbeit der Formulierung. Da entsteht womöglich etwas ganz
anderes, was vielleicht faktologisch nicht mehr standhält, aber es
entsteht so etwas wie die wirkliche Erinnerung. Ein Beispiel: Ich erinnere
mich ganz genau an den Moment, der in Krieg ohne Schlacht beschrieben ist,
am 17. Juni 1953, als ich in Pankow den Stephan Hermlin pfeiferauchend aus
der U-Bahn steigen sah, die nicht fuhr an diesem Tag. Und Hermlin behauptet
nach wie vor, er sei an dem Tag, wahrscheinlich hat er recht, in Budapest
gewesen und überhaupt nicht in Berlin. Dieselbe Geschichte ist dem
Stefan Heym passiert, der ihn am 18. Juni in einer Versammlung des Schriftstellerverbands
gesehen hat. Und auch da kann er nicht gewesen sein nach seiner Erinnerung,
weil er da auch noch in Budapest war. Ich kann das nicht erklären,
aber das ist eine Erinnerung, die sich zusammensetzt aus wahrscheinlich
ganz anderen Eindrücken, Erinnerungen und Fakten, die aber für
mich mehr stimmt, als daß Hermlin damals in Budapest war.
Das
bedeutete die Unverfügbarkeit von Erinnerung und auch, daß autobiographische
Erinnerung oder, was man dafür hält, nicht zwingend Wahrheit ist...
Ja. (lacht)
Über Orpheus, diesen paradigmatischen Totenweltfahrer
im Medium der Erinnerung, schreiben Sie: "Aber das Lied schont den
Sänger. Was er besungen hatte, konnte seine Haut nicht ritzen."
Die Gesänge des Orpheus - nekromantische Trauerarbeit, bei der ein
gebranntes Kind das Feuer sucht - lassen gelingen, was in der Katabasis
scheitern mußte: Das verlorene Liebesobjekt hat ein Nach-Leben im
Artfakt. Glauben Sie an die Möglichkeit der Wiedergewinnung eines verlorenen
Menschen im Feld ästhetischer Erfahrung als "Theater der Auferstehung"
(Müller)? Haben wir uns Orpheus, bevor er gepflügt wurde, als
einen glücklichen Menschen vorzustellen?
Warum nicht? Sie kennen
die Interpretation von Goethe, die sicher auch altersbedingt ist: Der Goethe
legt ja die Geschichte von Orpheus und Eurydike so aus, daß er sie
durch zu frühen Beischlaf nach einer Schwangerschaft verloren hat.
Das ist ganz typisch für Goethe, glaube ich.
Anders als den
Geschichtsphilosophien Marx' und Nietzsches gilt Bloch das Vergessen weder
als Prämisse für Gegenwart noch als Gegenteil des Erinnerns: Er
setzt Vergessen und Verrat (qua Mangel an Treue gegen historisch Unabgegoltenes)
gleich, und zum Komplement des Erinnerns wird ihm die Erwartung. Wer Verrat
übt, trägt zum Verwischen der "Blutspur der VERGESSENEN AHNEN"
(Müller) bei, indem das Primat der Selbsterhaltung mittelbar das Leid
vorgängiger Generationen leugnet. Ist das historisch Unabgegoltene
für Verräter noch abzugelten?
Bis vor ein paar Jahren
war ich noch absolut auf der Position von Bloch. Heute ist das nicht mehr
so einfach, denn was bedeutet Verrat, was heißt Selbstbehauptung durch
Verrat? Das heißt ja auch, daß man aus einem Zwang, eine Tradition
zu behaupten oder in einer Tradition zu bleiben, aussteigen will. Verrat
ist nicht nur etwas Negatives, er hat ja auch einen Befreiungsaspekt: Man
befreit sich oder man versucht sich zu befreien von diesem Alp toter Geschlechter.
Das bedeutete, daß auch Sie, mit Nietzsche, ein aktives Vergessen
für notwendig hielten?
Es gibt sicher Situationen, wo das notwendig
ist. Also wenn die Gräber sich schließen, wenn die Grabplatte
zugeht, dann ist Verrat etwas Positives.
Der neutestamentarische
Beitrag zur Mnemonik, die Eucharistie, nimmt die spirituelle Verinnerlichung
des sich opfernden Christus als Anruf des zu Erinnernden. Welche Rolle spielt
der Verräter Judas, der bei dieser Gedächtnisfeier das Vergessen
personifiziert, beim Abendmahl und danach?
Sicher eine revolutionäre
Rolle: Ohne Judas hätte vielleicht die Kreuzigung nicht stattgefunden,
das kann man ja auch mal annehmen. Und die Kreuzigung war die Voraussetzung
für die Geschichte des Christentums, der Gründungsmord. Und der
Verräter ist eigentlich der, der das Firmenzeichen geschaffen hat,
das Kreuz, unter dem diese Firma wuchs und gedieh. Ohne dieses Signum wären
sie nicht weit gekommen.
Wenn ein Kind von seinen Eltern beim Namen
gerufen wird, hat es - sofern es gewöhnlich konditioniert wurde - zu
antworten. Tut es das nicht oder nicht sofort, so wird es das nachträglich
tun. Das Kind wird verspätet zum Anrufbeantworter der Erwachsenen.
Ist "Vater" der Name der Väter; riefen Sie Ihren Vater "Vater"?
Oder ist "Verrat" der Name für den Vater, ein unsterblicher
Name?
Wahrscheinlich stimmt beides, ja.
Sie benennen Literatur
als Möglichkeit eines "Dialogs mit den Toten" und als "Erinnerung
an die Zukunft". Benjamins Intertextualitätskonzept, also sein
Gedächtnis der Texte, schätzt das Zitat nicht nur als Modell des
Erinnerns, sondern auch als "Mater der Gerechtigkeit". Kann Vergangenheit
in und als Literatur noch gerecht werden?
Das Problem ist, daß
es jetzt kaum noch Geschichtsschreibung geben kann, in dieser Zivilisation,
die überspannt oder eingesponnen ist in das Netz der Medien. Das verhindert
auf alle Fälle Erfahrung, weil alles sofort aktualisiert wird Alles
wird sofort Oberfläche. Und da gibt es keine Geschichtsschreibung mehr,
da muß Literatur diese Funktion übernehmen. Geschichte kommt
im Fernsehen nicht vor. Da kommt nur Aktualität vor, aber Aktualität
ist nicht Geschichte. Ich erinnere mich an Brecht im Gespräch mit Studenten
der ABF, der Arbeiter-Bauern-Fakultät, das System, mit dem die Arbeiter
hier schnell universitätsreif gemacht werden sollten. Brecht war zu
einer Diskussion eingeladen, 1948 oder 49, und die Studenten fragten ihn
sehr penetrant: Herr Brecht, warum schreiben Sie keine Zeitstücke?
Er versuchte sich rauszureden und sagte, es gebe Autoren, die schneller
und Autoren, die langsamer schreiben; er gehöre zu denen, die langsamer
schreiben, Die waren damit nicht zufrieden, nannten einige Zeitstückautoren
und fragten, warum er das nicht könne. Da sagte Brecht: Es hat sich
ungeheuer wenig verändert, aber wir wissen jetzt noch gar nicht, wieviel
sich verändert hat. Dann brachte er als Beispiel die Armada-Geschichte,
die Sie kennen, und noch ein anderes Beispiel: aus einem Roman von Alexander
Fadejew, Die junge Garde, über den sowjetischen Partisanenkrieg gegen
die Wehrmacht. Da gibt es die Beschreibung eines Arbeiters in einem von
den Deutschen zerstörten Stahlwerk in der Ukraine. Der geht über
dieses Gelände und sammelt Schrauben auf, die noch brauchbar sind.
Das ist ein Beispiel für einen historischen Sinn oder Instinkt, den
es in kapitalistisch orientierten Strukturen kaum geben kann. Da hebt man
keine Schrauben auf, die herumliegen. Da geht es eher um Verschwendung.
Das ist eine ganz andere Art von ÷konomie, weil der Arbeiter, der die
Schrauben sammelt, daran denkt, wann und wie man die wieder gebrauchen kann.
Dafür interessiert sich in unseren Strukturen niemand.
Am Grab
und vom Grab Wolfgang Heises haben Sie gesagt, es sei nicht leer, sondern
werde bewohnt vom Gedächtnis der Nachwelt. Kann es sich für mich
oder für Sie so leichter sterben lassen?
Da bin ich etwas skeptisch.
Kann aber sein, daß es hilft, ja.
Der ikonodulische Roland
Barthes schreibt, die Photographie habe mittlerweile die Funktion des Denkmals
übernommen, den Tod in der Gesellschaft zu situieren. Sind Bilder für
das Familienalbum nekrophil, und was taugt Photographie zum Gedenken?
Ich glaube eher daran, daß Benjamin recht hat, wenn er schreibt, daß
solche Bilder, also die Möglichkeit, für alle alles festzuhalten,
Erfahrung verhindert und das Gedächtnis auslöscht oder zumindest
perforiert.
Was denkt Ihre Frau darüber?
Sie macht ja
keine Schnappschüsse. Sie inszeniert Photos aus dem Gefühl heraus,
daß Dokumentation schon lange nicht mehr über Photographie geschieht,
beispielsweise über die Photographie der Kruppwerke. Photographie sagt
immer weniger.
Das Lehrstück, so legen es ußerungen von
Ihnen nahe, kann als Brückenkopf zwischen individuellem und kollektivem
Gedächtnis fungieren, weil es die Tradierung individueller Erfahrungen
ermöglicht. Wie hat man sich das bei Todeserfahrungen vorzustellen,
die bei Brecht und ihnen die Norm sind. Wie funktioniert die "kleinste
Größe", etwa in "Mauser" oder "Wolokolamsker
Chaussee"?
An den Lehrstücken von Brecht ist vor allem
interessant, daß sie alle eine Tragödienstruktur haben, im Gegensatz
zu seinen großen Stücken, wo die tragischen Aspekte eher parodiert
oder verdrängt werden. Und dieser Brecht-Terminus "Einverständnis"
im Badener Lehrstück bedeutet, in Theorie und Praxis, auch das Einverständnis
mit der eigenen Sterblichkeit: In dem Zusammenhang Brechts Definition des
Kolonialismus: Die moralische Überlegenheit des Kolonialismus beruht
darauf, daß er für den einzelnen keine Hoffnung hat. Das ist
es, was man lernen muß.
In "Glücksgott" schreiben
Sie: "Trümmer sind wie Denkmäler Material, das aus den Steinbrüchen
kommt." Verschränkt man, wie Sie es tun, Historiographie und dramatische
Form, so stehen sich in diesem Zitat Fragment-Memento und Totalitätsästhetik
gegenüber, also die Sprengung eines schimärischen Kontinuums und
die Verewigung eines heuchlerischen status quo. Faßt man diese Formen
als oppositionäre Dramaturgien der Erinnerung und betrachtet man Ihre
Stücke - nicht erst seit "Auftrag" -, so fragt sich, wie
sich das neue alte Deutschland in Ihrem jüngsten Stück mit dem
Arbeitstitel "Germania 3" zwischen faktischem Fragmentcharakter
deutscher Geschichte und prätendierter historischer Totalität
dramaturgisch fassen läßt?
Gegenwart wird gar nicht vorkommen
in dem Stück. Natürlich sind Stalin und Hitler ganz gegenwärtige
Figuren, das ist klar, sie sind gegenwärtiger als die Lemuren jetzt,
Kohl oder wer auch immer, das sind ja Hülsen und keine Figuren. An
denen läßt sich auch überhaupt nichts beschreiben oder darstellen,
völlig beliebig und auswechselbar. Die prägenden Gestalten sind
schon Hitler und Stalin, insofern ist es wieder Gegenwart, das ist wahr.
Auf alle Fälle wird sich daraus eine sehr merkwürdige Form ergeben
- das Stück ist noch nicht fertig -, aber es wird ein ganz leichtgewichtiges
Stück.
Wiederholung von Geschichte als Farce?
Ich weiß
nicht, ob es eine richtige Farce ist, aber es hat durchaus farcenhafte Züge,
unabhängig von den Inhalten. Ich habe beispielsweise jetzt, weil die
mich da ständig bedrängten, irgendetwas zum 8. Mai für die
FAZ zu produzieren, denen eine Szene aus dem Stück geschickt, eine
ganz kurze. Mir war es vorher gar nicht so bewußt, aber die hatten
große Schwierigkeiten damit und konnten das gar nicht unterbringen
in dem Zusammenhang. Das ist aber, glaube ich, ganz charakteristisch, weil
es keine Szene des Eingedenkens war, des Einhaltens einer Bewegung oder
eines Prozesses.
(Müller zündet sich eine Havanna an.)
Ich fand Ihren Text
zum Tode Zino Davidoffs in der FAZ recht witzig, habe aber Ihr Verhältnis
zu dieser Zeitung nie ganz verstanden...
Das ist ganz simpel: Ich
traf einmal auf der Buchmesse Frank Schirrmacher. Der war froh, daß
er mich endlich kennenlernte. Ich habe später erst begriffen, worauf
das Interesse beruhte, als ich plötzlich einen Anruf von Stadelmaier
kriegte, der nun wirklich nicht mein Fan ist. Und das wird sich auch nicht
ändern. Der fragte, Herr Müller, stimmt es, daß Sie den
Nobelpreis kriegen sollen? Irgendwo mußte er es gehört haben.
Ich sagte, ich weiß nichts davon, aber verbreiten Sie es weiter. Und
es gab noch einen Anruf von Reich-Ranicki beim Kiepenheuer-Verlag mit der
gleichen Frage. Da muß dieses Gerücht dann irgendwie aufgekommen
sein. Und seitdem bin ich ein strategischer Faktor für die FAZ. Später
sagte mir Schirrmacher, nach seinen Informationen sei ich auf Platz drei
gewesen in dem Jahr, als Derek Walcott ihn bekommen hat. Darauf beruht das,
glaube ich. Das Feuilleton der FAZ ist ja auch nicht unbedingt identisch
mit der ersten Seite, auch wenn es dort viel Bildung gibt und es sehr wertkonservativ
ist. Von daher kommt jedenfalls das Interesse.
Das heißt, Sie
sind irrtümlich zum "Zeugen des Jahrhunderts" erhoben worden?
Womöglich ja, ich habe das gar nicht gesehen.
Schirrmacher war
sehr weihevoll und das Interview ziemlich fürchterlich.
Was
war das Fürchterlichste daran?
Daß ich eingeschlafen bin,
wie Sie in dem fingierten Interview mit Frank Raddatz in "Theater der
Zeit". Außerdem kam das Gespräch später wegen der Fußballübertragung
an dem Tag.
Es war wohl als Schlafmittel gedacht.
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