Ein Tigertier, das Zeichen setzte

Gottfried Wilhelm Leibniz zum 350. Geburtstag

Friedrich Kittler

Unter Computerbedingungen wird langsam klar, daß Geschichte machen nicht bloß heißt, Staaten zu gründen oder zu vernichten. Auch Leute, die einfach neue Zeichen zu Papier brachten, haben an den Lauf der Welt gerührt. Unter ihnen aber hält Gottfried Wilhelm Leibniz einen einsamen Rekord. Wer immer mathematische Ausdrücke in Klammern setzt oder das Divisionszeichen, um zwei Druckzeilen zu sparen, als Doppelpunkt anschreibt, verbleibt im Raum seiner Erfindungen. Um Geschichte zu machen, reicht es hin, einen (nach Enzensbergers Wort) Heuschober voller Manuskripte zu hinterlassen, aus denen sich die Nachwelt zunächst eine Philosophie, später eine mathematische Logik und schließlich eine universale Rechenmaschine zusammenbaute. Nur daß der Heuschober, lateinisch, französisch, englisch und manchmal auch deutsch geschrieben, noch immer nicht zur Gänze veröffentlicht ist. Ihre Gründerhelden zu drucken, sind Akademien nicht gemacht.

Als Leibniz am Abend des 1. Juli 1646 zur Welt kam, siedelte das Wissen, so es nicht dank Gutenbergs Erfindung ein für allemal gedruckt war, noch in der Mündlichkeit von Universitäten und Vorlesungen. Der Vater, aus alter sächsischer Bürgerfamilie, war Moralphilosoph an der Universität Leipzig, die Mutter, Tochter eines berühmten Juristen, von lauter Professoren erzogen. Als Leibniz, der kaiserlich Geheime Hofrat ohne Adelstitel, am Abend des 14. November 1716 starb, hatten er und seinesgleichen das Wissen ausgelagert - in Akademien und Sternwarten, Zeitschriften und Kalküle. Damit erst stand es Autodidakten und fürstlichen Reformern offen, die dann mit Wahrscheinlichkeitsrechnung und Ballistik, Bergbau und Kolonialismus das moderne Europa heraufführten.

Leibniz selbst hat sich in autobiographischen Entwürfen, die allerdings alle Seelenabgründe oder Liebesgeschichten vermissen lassen, zum reinen Autodidakten stilisiert. Nicht die Leipziger Thomasschule war es, die ihm Latein beibrachte, sondern ein kindlicher Vergleich zwischen Liviustext und deutscher Übersetzung, bei dem die Illustrationen zur Hilfe kamen, um ihre Unterschriften zu erraten. Nicht die heimische Universität vermittelte die antike Philosophie, sondern die Hausbibliothek des toten Vaters, die ein früher Bewunderer dem Autodidakten aufschloß. So wirksam blieb Descartes als großes Vorbild, das Wissen gänzlich dem Ich und der Methode zu verdanken. In historischer Empirie dürften gerade umgekehrt Deutschlands altmodische Universitäten - von Leipzig über Jena bis Altdorf - dem Jurastudenten Leibniz einen Traditionsschatz vererbt haben, mit dem die neuen Naturwissenschaften anderswo schon aufräumten: eine Philosophie, die Scholastik blieb, und eine Mathematik, die das Welträtsel im Anschluß an Lullus noch immer mit Zahlenspielen anging. Von dieser kombinatorischer Kunst, ob nun zur Entzifferung von Geheimschriften oder zur barocken Verfertigung von Versen, handelte denn auch der Bestseller seiner Habilitation.

Aber als Leibniz, weil er erst zwanzig war, an der Leipziger Universität keine Assessorenstelle erhielt und an der Altdorfer, weil sie zu ruhmlos war, eine angebotene Professorenstelle ausschlug, erfaßte die Neuzeit auch ihn. Das Heilige Römische Reich, in dessen Dreißigjährigen Krieg er noch hineingeboren war, brauchte Juristen, um das prekäre Gleichgewicht zwischen Kaisern und Territorialfürsten, Katholiken und Lutheranern, weltlichen und geistlichen Herrschaften immer wieder auszutarieren. Mit lauter Denkschriften und Reformplänen, deren Adressaten in Wien oder Mainz, Hannover oder Berlin, Paris oder St. Petersburg herrschten, verdiente Leibniz sein Geld. Und erst als ein Landesherr, dessen Anspruch auf Kurfürstenwürden Leibniz mit der ersten historischen Quellenkritik untermauern sollte, den Königsthron Englands bestieg, blieb in Hannover nurmehr ein gichtkranker alter Mann zurück. Er hatte ohnehin lieber mit Fürstinnen in Schloßparks Philosophie getrieben als für ihre gekrönten Gatten Politik gemacht.

So kam es, daß Leibniz auf der Bühne der Haupt- und Staatsaktionen nur wenig vermochte. Nicht Ludwig XIV. eroberte auf seinen Vorschlag hin Ägypten, sondern erst der General Bonaparte. Immerhin hat Leibniz als Lutheraner, der jahrzehntelang ohne Abendmahl ausgekommen sein soll, den Heiligen Stuhl dazu gebracht, seine Verdammung der kopernikanischen Astronomie zurückzunehmen. Denn wenn es, Newton zum Trotz, keinen absoluten Raum gibt, sind alle Bewegungen relativ: Daß die Erde um die Sonne kreist oder umgekehrt, ist genauso möglich, wie daß einem Lutheraner der Kardinalshut winkt.

Leibniz' diplomatische Reisen waren, mit anderen Worten, immer Wissenspolitik. In Paris fiel dem jungen Autodidakten die neue Algebra eines Vieta und Descartes zu, in London die Mitgliedschaft der Royal Society. Er konnte der illustren Gesellschaft nämlich eine erste Rechenmaschine präsentieren, die alle vier Grundrechenarten beherrschte, in Krieg und Handel großen Nutzen versprach und heutzutage folglich als Leitfossil des Computerzeitalters firmiert. Ob dieser höchste Ruhmestitel zutrifft, steht freilich dahin. Denn Leibniz hat nie versucht, das Labyrinth der empirischen Welt in lauter Fallunterscheidungen oder bedingten Sprüngen zu durchlaufen; der Ariadnefaden, den er suchte, sollte ganz im Gegenteil ein für allemal Ordnung schaffen. Wenn der Geist »in einer unbewußten Arithmetikübung« die Schwingungen aller Instrumente mitzählte, entstand eine Ordnung namens Musik; wenn er sich von gedruckten Wörtern gar nicht erst bei Bildvorstellungen aufhalten ließ, eine Ordnung namens Buch. Je unbewußter und schneller also seine Unterfunktionen abliefen, desto höhere Gebäude konnte der Geist über ihnen auftürmen. Die Rechenmaschine war kein Computervorläufer, sondern gerade umgekehrt die Möglichkeitsbedingung einer Mathematik, die von schlichten Zahlen Abschied nahm, um statt dessen zur Logik oder Sprache des Seins aufzusteigen.

Leibniz wußte wie niemand sonst, was Europa den indisch-arabischen Ziffern verdankte. Er wußte aber auch, daß erst Vietas Kunstgriff, beliebige Zahlen durch eben die lateinische Buchstaben zu ersetzen, die als Ziffern überflüssig geworden waren, die Köpfe vom Ausrechnen erlöst hatte. Was fortan auf dem Papier stand, waren Zeichen, die sich nach formalen Regeln in andere überführen ließen, was fortan Denken hieß, »nichts als ein Verbinden und Ersetzen von Buchstaben«.

In dieser Kunst hat es Leibniz zur Meisterschaft gebracht. Selbst wenn Newton seine Fluxionsrechnung (wie er in endlosen Polemiken verbreiten ließ) ein paar Jahre früher entwickelt hat, geht die algorithmische Eleganz von Differentialen und Integralen doch auf Leibniz zurück. Differentiale erlaubten es, die Steigung beliebiger Kurven zu verfolgen, Integrale, das uralte Rätsel der Kreisfläche zu lösen. Als Kalkül und das heißt wortwörtlich als Kombinatorik von Rechensteinen hat der Computerpionier Babbage die neue Methode, Unendlichkeiten zu handhaben, schließlich auch in England durchgesetzt. Leibniz aber ging es um mehr. Mit dem Kalkül war ein Weg gebahnt, dem »unendlichen Autor« Gott in seine Physik hinein zu folgen. Was Teleskop und Mikroskop eben an unendlich Großem und Kleinem erschlossen hatten, erlangte in Integralen und Differentialen seine Formeln. Transzendente Kurven, vor denen die cartesische Geometrie noch kapituliert hatte, konnten anschreiben, wie Ketten durchhängen oder Kanonenkugeln an Festungsmauern abprallen. Die Kettenfunktion gab also nicht bloß (wie das Wort Kette) einem Ding einen Namen, sondern brachte es selber hervor.

Gerade in dieser Macht, Realdefinitionen zu liefern, war die neuzeitliche Algebra für Leibniz aber nur ein Vorbild, dem alle Sprache, Logik und Philosophie nachkommen sollten. Während die griechische Geometrie das Bekannte noch einmal bewiesen hatte, inspirierte die Algebra gerade umgekehrt zu einer »Ars Artium«, zur »Kunst« nämlich, »Künste zu machen«. Die Erfindergabe von Renaissancegenies potenzierte sich zum Ingenieurswissen, alle möglichen Wissenschaften systematisch zu konstruieren. Deshalb schrieb Leibniz über die Metaphysik, an der er (unter anderem für Prinz Eugen) zeitlebens arbeitete: »Sie ist ganz mathematisch oder könnte es werden«. Deshalb verallgemeinerte er die Zeichenspiele der Algebra auf alles, was überhaupt in Zeichen vorliegt, also auf Schriften schlechthin. Die zureichenden Gründe dafür, daß Computer ihre Daten nach dem Zweiersystem verwalten oder daß Bibliotheken ihre Bücher, statt wie vormals nach theologischer Würde, einfach nach dem Alphabet ordnen, hat Leibniz beigebracht.

All diese kombinatorischen Spiele aber zielten auf das monströse, ebenso einmalige wie allgemeine »Buch, in dem alle Wahrheiten aufgeschrieben sind, die von den Menschen erfaßt werden können«. So treu blieb Leibniz, der eigenen Analysis zum Trotz, seinen kombinatorischen Anfängen in Leipzig. Wäre nämlich die Logik erst einmal von algebraischer Eleganz, könnte sie sämtliche Wahrheiten zunächst erzeugen und sodann auch wieder abzählen. (Was die Frage aufwarf, ob nicht alle Geschichte nach einigen Jahrtausenden wiederkehren müsse.) Dieses größte aller Projekte, dessen Verwirklichung auch Leibniz überstieg, setzte nur voraus, die seit Babel zerstreuten Sprachen durch ein universales Zeichensystem abzulösen, als dessen mögliches Vorbild Jesuitenmissionare schon die chinesische Schrift empfohlen hatten. In dieser characteristica universalis wären Individuen so unverwechselbar wie Primzahlen, Widerlegungen so leicht wie Multiplikationen. Und weil Leibniz ohnehin der erste Kopfarbeiter war, dem es um Abschaffung der Kopfarbeit ging, empfahl er seine Universalcharakteristik mit den Worten: »Alle Forschungen, die von der Vernunft abhängen, würden über die Umformung solcher Zeichen und einen gewissen Kalkül laufen, was die Erfindung schöner Dinge ungemein vereinfachte. Man müßte sich nicht mehr wie heute den Kopf zerbrechen, wäre aber versichert, alles Machbare auch machen zu können. Und wenn jemand an dem, was ich vorgebracht haben würde, zweifelte, würde ich ihm sagen: ›Rechnen wir, mein Herr!‹«

Aber die characteristica universalis ist bis heute ungeschrieben, die Machbarkeit alles Machbaren unerreicht. Den Grund benannte Leibniz selber: »Mir gehet es wie dem tiegerthier, von dem man sagt, was es nicht im ersten, andern oder dritten sprung erreiche, das lasse es lauffen.« Er hat Zeichen gesetzt, aber die Mühsal irdischer Diskursivitäten ganz wie sein Gott verschmäht. Er hat höchstwahrscheinlich mehr Papier als jeder andere Philosoph hinterlassen, aber seinen Briefpartnern und Lesern (um von schweren Druckfehlern zu schweigen) grundsätzlich nur solche Beweise mitgeliefert, »dadurch sie uns nicht hinter die schliche kommen«.

Nach Leibniz entsteht die Welt, wenn und sofern Gott rechnet. Daß sie schon deshalb die beste aller möglichen ist, schließt nicht aus, sondern ein, daß Geschöpfe ihrem Schöpfer unmöglich hinter die Schliche kommen. Schon weil das Glück des Einzelnen (allen Candides zum Trotz) nicht der Weltzweck und die Menschheit nicht besser als die Löwengattung ist, läuft die beste aller Welten einfach auf die mit den meisten Möglichkeiten hinaus. Und über Möglichkeiten konnte Europa, zwei Jahrhunderte lang im Alleinbesitz des Kalküls, schwerlich klagen.

Unmittelbar bevor Leibniz starb, drang ein Knistern ins Vorzimmer. Der Arzt stürzte zur Tür und sah, wie der Gichtkranke, dessen Hände nicht mehr schreiben wollten, am Kerzenfeuer ein Papier verbrannte. (Nach unbestätigten Gerüchten war Leibniz in seinen letzten Tagen dabei, die Sprache der Engel zur dechiffrieren.) So kam es, daß Gottes Rechnungen die Welt zwar erzeugen, aber in ihr nicht berechenbar sind.

Vor dieser Erbschaft oder Versuchung eines rechnenden Gottes, wie Leibniz sie hinterließ, hat seine mathematischen Nachfolger nicht einmal der Atheismus bewahrt. Als Laplace die Wahrscheinlichkeitstheorie, deren Grundlagen Leibniz ausgerechnet in juristischen Studien gelegt hatte, 1795 zur praktischen Wissenschaft erhob, wurde aus dem Gott zwar ein Dämon, aber von derselben Rechenleistung. Wenn dieser Dämon nur sämtliche Kräfte und Positionen kennte, die das Universum im Jetztaugenblick ausmachen, könnte er die Bewegungen aller Himmelskörper und Atome in eine einzige Formel bannen. Vergangenheit und Zukunft wären jeder Ungewißheit bar.

Dieser Hoffnung hat unser Jahrhundert das schlichte Argument entgegengesetzt, daß die Berechenbarkeit des Laplace-Universums schon an kleinen Rundungsfehlern scheitert. Aber eben darum gab Turing 1936 eine Universale Diskrete Maschine an, die den Dämon durch beliebig genaue Rechnungen noch überbietet und sich als Prinzipschaltung aller Computer erwiesen hat. Weshalb nicht einmal Turings geschworener Atheismus ihn vor der Hypothese bewahrte, die physikalische Welt im ganzen falle mit einer Rechenmaschine zusammen.

Der Gott, den Leibniz erfand, bleibt offenbar so mächtig, daß sein Erfinder nachgerade zum »Schutzheiligen« von Kybernetik und Informatik aufsteigen konnte. Erst heute, seitdem universale Rechenmaschinen weltweit laufen, also zugleich ihre Leistungen und Grenzen offenbaren, kommt ein Zweifel auf, der die Metaphysik wahrhaft destruieren könnte. Womöglich sind Wolken keine Computer, die jeden ihrer Regentropfen berechnen, und umgekehrt Computer keine Maschinen, die Wolken das Regnen abnehmen. Physikalisch ist die Church-Turing-Hypothese daher eine Täuschung: Sie injiziert dem Verhalten der Wirklichkeit algorithmische Züge, für die sich selbst in Los Alamos keinerlei Evidenzen zeigen. Trostloser noch, nämlich eine Enttäuschung, ist philosophisch aber schon die vollständige Kalkülisierung, wie Leibniz sie programmiert und aller Computertechnik vorgegeben hat: »Sie wird erkauft mit dem Verzicht auf die Erkenntnis dessen, was wirklich existiert« (Sybille Krämer).