Friedrich Kittler

Die stehende Sprache. Zur Aktualität von Schottels Horrendum bellum grammaticale

(Vortrag gehalten auf dem Kongreß "Der Frieden: Rekonstruktion einer europäischen Vision" anläßlich von 350 Jahren Westfälischer Friede, am 26. Oktober 1998 in Osnabrück)

Meine Damen und Herren,

Vom Westfälischen Frieden ist nicht viel übrig geblieben. Das Heilige Römische Reich, das er noch einmal rettete, hat vor zwei Jahrhunderten abgedankt. Die Fürstenhäuser, die ihn aushandelten, sind fast alle gestürzt. Nur auf einem Feld, das ebenso unscheinbar wie unwahrscheinlich ist, scheint der Westfälische Friede noch immer in Kraft. Seit dem Ende europäischer Religionskriege glauben wir alle, daß die Sprache an ihr selber schon der Friede sei. Gründlich vergangen sind die Zeiten, wo Philosophen wie Hobbes den Staat als absolutistische Bezwingung von Religionsbürgerkriegen und damit auch Sprachen oder Religionen als Waffen solcher Machtverhältnisse dachten. Seit John Locke herrscht ganz im Gegenteil der moderne Glaube, daß der Staat aus zwanglosen Verabredungen einer sogenannten Gesellschaft hervorgeht, die ihr gemeinschaftsstiftendes Band schon immer an der Sprache hat. Kommunizieren heißt daher seit Locke nicht mehr, den im Abendmahl gestifteten Frieden Gottes miteinander zu teilen; kommunizieren besagt vielmehr, private Vorstellungen in Wörter zu kleiden, die gar nicht umhin können, den sozialen Frieden wahrzumachen.[1] "Mit dem ersten Satz", heißt es noch bei Jürgen Habermas, "ist die Intention eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmißverständlich ausgesprochen."[2]
Mir bleibt also nur, unmißverständlich auszusprechen, daß das nicht immer so war. Es gab bis zum Dreißigjährigen Krieg eine europäische Tradition, die auch und gerade die Sprache, weit entfernt von aller Kommunikation, als Krieg dachte. Diese Tradition ging in ihrer letzten und strengsten Form bis zur Behauptung, daß die gesamte deutsche Sprache, wie wir sie seit dem Dreißigjährigen Krieg sprechen, schlicht und einfach ein Kriegsschaden sei. Ganz wie Deutschlands Städte und Dörfer, Brunnen und Straßen 1648 verwüstet gewesen sind, sollen auch Wortschatz und Grammatik, Aussprache und Orthographie des Deutschen seitdem darniederliegen.
Allem Anschein zum Trotz zielte die Lehre von der Sprache als Krieg und Kriegsschaden aber nicht auf unsere famose Gegenwart, in der sich Kultusministerien oder Kommunikationsphilosophien zu Machthabern über die Sprache aufgeschwungen haben. So prophetischer Zorn war auch dem 17. Jahrhundert nicht vergönnt. Das Sprechen vom Sprachkrieg folgte vielmehr derselben Einsicht, die Hobbes dazu brachte, die Gesellschaft als Krieg aller gegen alle zu beschreiben. Sprachkrieg hieß also ganz wörtlich, daß nicht nur Staaten oder Bevölkerungen, Söldner oder Wehrpflichtige einen Kriegszustand kennen, sondern auch die Wörter. Daß eine Sprache die sogenannte Gesellschaft, in der sie gesprochen wird, als friedliches Band zusammenschließt, ist mithin nicht die Regel, sondern eine Ausnahme, der nicht geringere Feiern gebühren als dem Friedensschluß von Münster und Osnabrück.


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Der erste dieser Sprachkriege - Andrea Guarnas Grammaticale bellum Nominis et Verbi - erschien 1511 in Cremona. Guarna war ein junger Priester und Humanist, dessen Großvater nicht von ungefähr "unter dem gewaltigen Condottiere Francesco Sforza" gedient hatte. Ganz so nämlich, wie Jacopo Guarna seine neue Heimatstadt Cremona "erfolgreich gegen den Herzog Philipp Maria Visconti von Mailand und später gegen die Venezianer" verteidigte,[3] trat sein studierter Enkel zur Verteidigung des Humanistenlateins an. Schon darum geriet der Bürgerkrieg, wie Andrea Guarna ihn zwischen Substantiven und Verben aufflammen ließ, nach dem Modell all jener Bürger- und Städtekriege, die Italien im 16. Jahrhundert zur Beute von Condottieri und Landsknechten, deutschen Kaisern und französischen Königen machten: Über Sein oder Nichtsein italienischer Stadtstaaten im einen Fall, lateinischer Wortformen im anderen Fall entschied der Ausgang von Schlachten.
Am Anfang von Guarnas humanistenlateinischer Fiktion steht jedoch das gerade Gegenteil: eine pax Romana, die nicht nur das römische Imperium durchherrscht, sondern auch das Reich seiner Sprache. Die lateinische Grammatik bildet nämlich eine Provinz, die ganz wie ihre Nachbarländer Dialektik, Philosophie und Theologie in Glück, Schönheit und Frieden lebt, schon weil die hohe Kette der Alpen sie nach Norden und Westen gegen alle möglichen Barbaren oder Feinde abschottet.[4] Im Unterschied zum Römischen Reich zerfällt das der Grammatik allerdings (bezeichnenderweise wie Reiche seit dem Mittelalter) in zwei Königtümer: Über die Substantive herrscht ein König Poeta, dessen Name die Rednerkunst als solche feiert, über die Verben dagegen sein "Zwillingsbruder"[5] Amo, dessen Name das Standardbeispiel lateinischer Schulkonjugation beschwört.
Diese Zweiteilung eines gleichwohl "individuellen"[6] oder eben ungeteilten Reiches ist schon als solche die Möglichkeitsbedingung für Zwist und Krieg. Die Macht des Weins, die Guarna höher als alle Königsmacht stellt,[7] verführt Poeta und Amo zu trunkenen Reden, die nach allen Regeln rhetorischer Wettkämpfe das Eigene über das Andere stellen. Zwei Könige, die nichts als Wortklassen sind, können gar nicht umhin, die jeweils eigene Wortklasse als höchste und d.h. älteste von allen zu feiern. Mit der Tatsache, daß Gott selber ein Substantiv ist, begründet Poeta den Vorrang seiner Wortart; mit dem Bibelsatz, daß das Wort oder Verbum am Anfang war, Amo den Vorrang der seinen. Aus dem Wort als Ansage des eigenen Seins oder Wesens folgt also ganz automatisch das Unwesen seines Gegenworts. Wie Fürsten auf Nürnberger Reichstagen, die ja vor allem anderen um Vorrang und Sitzordnung kämpften, bleibt den Königen Poeta und Amo nur der Krieg. Aber ihre Königreiche, wiederum wie frühneuzeitliche Teilstaaten, verfügen gar nicht über eigene Heere, geschweige denn über stehende. Um Krieg überhaupt führen zu können, müssen sie erst Werber, Boten und Trompeter durchs ganze Reich der Grammatik schicken. Daraufhin schlägt sich das Fürstentum der Adverbien selbstredend aufseiten des Verbums, wohingegen der Fürst der Pronomina und die Königin der Präpositionen, grammatisch nur korrekt, dem Substantiv beistehen. Die Grammatik ist also immer schon eine Schlachtordnung, die sich in der Schlacht am vielsagenden Fluß Sive oder Entweder nur noch offenbart.
Substantive und Verben stoßen mit ihren jeweiligen Hilfstruppen aufeinander, während ein unaufhörliches Geheul von Klageweibern oder Interjektionen die Schlacht begleitet. Am Ende des Mordens sind soviele Wörter gefallen, wie das in grammatisch korrektem Latein der Fall ist. Substantive, die es nur noch im Singular oder Plural gibt, büßen ihre andere Fälle ein; entsprechend büßen zumal die unregelmäßigen Verben ihre ausgestorbenen Flexionsformen ein. Der Schlachtentod des Lateinischen fällt also, zumal auch die mönchslateinischen Räuberbanden allesamt umkommen, mit seiner humanistischen Wiedergeburt oder Renaissance nachgerade zusammen. Andrea Guarnas "Bürgerkrieg"[8] mündet bei aller Blutrünstigkeit nicht in Verwüstung oder Verderbnis, sondern in genau jene Ordnung, die er als romaneske Lateingrammatik seinen Lesern oder Schülern pflichtgemäß eintrichtert.
Kein Wunder also, daß sich der Sprachkrieg mühelos beenden läßt. Fortsetzungen der Grammatik mit anderen Mitteln finden wieder zur Grammatik zurück. König Poeta bietet seinem Bruder Amo Friedensverhandlungen an, die auf Empfehlung der berühmtesten antiken Grammatiker hin die berühmtesten Grammatiker von Guarnas italienischer Gegenwart führen dürfen. So löst ein feierlicher Friede den Kriegszustand ab, eine heilsame "Eintracht" den "Wahnsinn".[9] Mit Ausnahme französischer Studenten, die weiterhin keine Silbenqualitäten aussprechen können, und deutscher Barbaren, die nur Küchenlatein schreiben, ist der europäische Gelehrtenstand - zumal auf Italiens Gymnasien und Universitäten - ebenso dauerhaft wie perfekt latinisiert.
Kein Wunder also auch, daß Guarna mit seinem Bellum grammaticale über ein Jahrhundert lang zahllose Nachahmer gefunden hat, nicht zuletzt unter den verspotteten Gelehrten Frankreichs und Deutschlands. Solange Universitäten beim Latein und europäische Kriege in gehegten Grenzen blieben, nahmen Guarnas gelehrte Scherze kein Ende. Das sollte sich erst mit "der eigenartigsten und bedeutendsten Nachahmung"[10] ändern, die Guarnas Sprachkrieg erfahren hat.


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1673 ließ Justus Georg Schottel, der auch unter dem latinisierten Namen Schottelius lief, sein Horrendum Bellum Grammaticale Teutonum antiquissimorum in Braunschweig erscheinen. Dem Titel zum Trotz handelte Schottel aber nicht auf latein von lateinischen Sprachkriegen, sondern auf deutsch von deutschen. Sein eigentlicher Titel lautete daher in barocker Wortpracht wie folgt: Wunderbarer Ausführlicher Bericht / Welcher gestalt vor länger als Zwey Tausend Jahren in dem alten Teutschlande das Sprach-Regiment gründlich verfasset gewesen: Hernach aber / Wie durch Mißtrauen und Uneinigkeit der uhralten Teutschen SprachRegenten ein grausamer Krieg / samt vielem Unheil entstanden / daher guten Theils noch jetzo rühren Die / in unser Teutschen MutterSprache vorhandene Mundarten / Unarten / Wortmängel.
Schon dieser wunderbare Titel macht klar, was im Jahr des Herrn 1673 die Stunde geschlagen hat. Nach Deutschlands dreißigjähriger Verwüstung ist von gehegten Kriegen keine Rede mehr, von Friedensschlüssen ganz zu schweigen. Mag der Frieden, den unsere Kongreßplakate feiern (während Schottel grammatisch sehr viel korrekter der Friede geschrieben hätte), den Söldnerscharen und Mordbrennern auch schließlich das Handwerk gelegt haben, so läuft Schottels paralleler Krieg der Wörter in ein Unheil aus, das ohne Friedensschluß "noch jetzo" andauert. Massiver könnte der Gegensatz zu Guarna, aber auch zur Kommunikationsphilosophie unserer Gegenwart gar nicht sein.
Schottels ewigwährender Krieg folgt schon aus der Sprachpolitik seiner Zeit. Das europäische Mittelalter hatte zwar die Alphabete der Griechen und Römer auf eine Weise zweckentfremdet, von der die Antike nicht einmal geträumt hatte: Spätestens seit Dantes Traktat De vulgari eloquentia war es legitim, das lateinische Alphabet auf Dialekte und Volkssprachen zu übertragen. Aber das besagte noch lange nicht, den Einzugsbereich solcher Volkssprachen mit dem Gebiet eines Territorialstaates oder gar Reiches gleichzusetzen. Solange keine nationalstaatlichen Dekrete - wie etwa 1537 in Frankreich - den universalen Anspruch des Lateinischen bestritten, unterblieb jede Kopplung von Staatspolitik und Sprachpolitik. Schon deshalb wagte es Guarnas italienischer Nationalstolz nicht, unverhohlener als unter der Maske reinster Latinität aufzutreten. Erst die Territorialstaaten des 17. Jahrhunderts gründeten ihre Machtansprüche auf eine Nationalsprache, die der Buchdruck und in seinem Gefolge die Grammatik reglementieren konnten. Deshalb brauchten die Sprachen einen Adelsnachweis, der ihre Würde bis auf den babylonischen Turm zurückführen konnte, und eine Eschatologie, die ihnen das letzte aller weltgeschichtlichen Reiche versprach. Ganz wie sein Dichterkollege Lohenstein, der Breslauer Stadtsyndikus, schrieb Schottel in der Überzeugung, daß auch das "Imperium Linguae Germanicae" wiedererblühen werde, sobald nur das biblisch verheißende Endreich dem Haus Österreich zugefallen sei (145, vgl. 35).[11] Und wie um diese Engführung zwischen Sprachpolitik und Reichspolitik noch zu unterstreichen, rühmte sich Schottels deutsche Grammatik nicht nur - wie Drucksachen von damals überhaupt - eines römisch kaiserlichen Raubdruckerschutzes, sondern auch einer besonderen kaiserlichen Approbation, die sie als "gemeinnutzige und der Teutschen Nation zum besten angesehene Arbeit" auswies (159).
Nationalsprachen aber, die miteinander um die Weltherrschaft kämpfen, brauchen Approbationen oder Nachweise ihrer "Ehren, Kräfte und königlichen Würden" (19). Schottel löst diese (für Guarnas fraglosen Humanismus noch ganz undenkbare) Aufgabe nicht viel anders als sein Zeitgenosse Leibniz, der ja den Kurfürstenanspruch des Hauses Hannover erst durch Ausgrabung ältester Urkunden glaubte untermauern zu können. So buchstäblich hat sich die Geburt der Geschichte (und damit auch ihrer Wissenschaft) im Licht des Krieges ereignet.[12]
In Schottels wundersamer Manuskriptfiktion ist es ein Seesturm, der den Sprachforscher Siegrath von Norwegen nach Island verschlägt. Dort im einheimischen Reich der Eddas und Runen lokalisiert Siegrath, streng nach Mercators Weltatlas, einen "Berg Midalshokel", in dessen unterirdischen Gewölben "allerhand wunderliche Celtische / Teutonische und Isländische Uhrkunden und Schriften" ihrer Ausgrabung harren (27). Schottels Sprachkrieg spielt also das Spiel, nur die "Abschrift" eines "überalten Buches" zu sein (28), das eben diesen Sprachkrieg schon vor zwei, drei Jahrtausenden verschriftet hat. Ebenso alt wie neu, verbürgt wie unerhört, realisiert der Text das Paradox einer "uhralten neuen Zeitung" (14). Wenn nämlich Zeitungen, die ja nach Wort und Sache eine Innovation des 17. Jahrhunderts waren, laut Schottel gerade deshalb "gern gekauft" werden, weil sie von "Kriegshändeln" in Europa, Asien undsoweiter "mehr Unwahres als Wahres" berichten (14), muß sich auch eine grundgelehrte deutsche Grammatik, wie Schottel sie schon 1663 vorgelegt hat, zehn Jahre später zum reißerischen Kriegsbericht modernisieren.
Dieser Sprachkrieg beginnt, nach Guarnas Vorbild, mit seinem ganzen Gegenteil. Als eine der adligsten und ältesten Sprachen, die aus der "babilonischen Verwirrung" (31) hervorgegangen sind[13], war das Deutsche im Anbeginn oder Ursprung die Ordnung selber. Vor allen europäischen Konkurrenzsprachen zeichnete es nämlich erstens durch seine "Treue und Aufrichtikeit" aus, mit der schon die Worte selber das Wesen der von ihnen benannten Dinge "andeuteten" (33). Deshalb konnten die Deutschen und nur sie zweitens daran gehen, "das Kunstgebeu" ihrer Sprache "auf tief eingerammete Pfäle zubefestigen" (32). Eine eigens einberufene "Reichsversammlung" (33) der Deutschen berief eine weitere "ReichsVersamlung der Teutschen Wörter" (34) ein, die ihrerseits daran gingen, sich als Reich mit "wolgefassetem SprachRegiment" (26) zu konstituieren. Schon diese rituelle Abfolge ritueller, dem Heiligen Römischen Reich abgelernter Gründungsakte beweist, daß Schottels Wörter keine Kommunikationsmittel für Individuen oder demokratische Gesellschaftsverträge waren, sondern Repräsentanten einer Ordnung, die sich ständig repräsentierte oder reduplizierte. Zum Zeichen dessen bestand das von den Wörtern beschlossene Sprachregiment nicht nur wie bei Guarna in der Inthronisierung zweier Könige, sondern vor allem in seiner gutenbergischen Verdopplung zu "herrlichen Urkunden und" kupfertafelgespeicherten "SprachVerfassungen" (126). Diese Verschriftung war allerdings hinreichend flexibel oder formal: Sie schrieb kein Lexikon fest, sondern Regeln, nach denen - wie im barocken Wissen überhaupt - durch Kombination oder Permutationen von Stämmen, Vorsilben und Nachsilben beliebige neue Wörter entstehen oder als Lehnwörter aufgenommen werden konnten.
Ein Sprachregiment jedoch, das mit Verdopplung, Klassifikation und Kombination operiert, ist immer schon bedroht. Reich besagt Imperium, Imperium aber Befehl. Auf der Reichswörterversammlung weisen demgemäß Herolde jeder einzelnen der zehn Wortarten Reichsstand und Reichslehen zu, bis "bei Hohen und Nideren / Kleinen und Grossen Gebot und Verbot / Heissen und Gehorsam" (XX) erkämpft sind. Dieses Heißen aber heißt die Wörter einmal mehr, nur sich selbst zu nennen. Obwohl alle Rhetorik zugleich Kunst und Lob ist, nimmt König Kunst vom Stamm der Substantive das Wort Lob so wenig in den Mund wie umgekehrt König Lob vom Stamm der Verben das Wort Kunst. Das Reich in seiner Verdopplung, die die zwei Könige ja sind, heißt oder befiehlt also immer schon Krieg. Schottels Bellum grammaticale kennt, wie um Ferdinand II. totzuschweigen, keinen Kaiser, keine Einheit, keinen Frieden.
Nicht umsonst stellt Schottel ganz zum Schluß die rhetorische Frage, "ob nicht durch ein wolgeordnetes Regimentwesen / es betreffe Friede oder Krieg" "die Verfassung der uhralten Teutschen Sprache / unvermerkt kundig" werden könne (153, vgl. 71). Das Regimentswesen rüstet schon als solches auf; es ist die Überführung frühneuzeitlich-freier Vulgärsprachen oder Landsknechthaufen in jene Ordnung, die in Schottels Epoche Epoche machte: das stehende Heer. Wie auch Novalis[14] noch wußte, bildet zumal die Sprache ein Feld, in dem Frieden und Krieg kopräsent sind, einfach weil kein Wort ohne sein Gegenwort sein kann. Schottels stehendes Sprachheer kennt schon zu Friedenszeiten ganze Regimenter, deren Hauptleute und Soldaten (im Fall der Hauptwörter) so sprechende Namen wie Krieg, Blut, Feuer, Schwert und Spieß oder (im Fall der Nennwörter) wie Zermalmen, Zerstoßen, Zerbrennen, Zernichten und Zerschütteln führen. Es muß also nur noch - frei nach Niklas Luhmann - ein kontingentes Ereignis auftreten, um diese militärische Befehlslogik zum Laufen und d.h. zum Dreißigjährigen Krieg zu bringen.
Das kontingente Ereignis, das die Könige Kunst und Lob bis in beider Tod hinein entzweit, ist eine keltische Gesandtschaft, die am deutschen Sprachreglementierungswesen genesen will, aber von Kunsts intrigantem Ratgeber dazu verführt wird, nicht auch noch König Lob die Ehre ihrer Visite zu zollen. Schottel kennt also, sehr anders als Guarna, eine Sprachaußenpolitik, die den französischen Anteil am Dreißigjährigen Krieg ebenso konstatiert wie sprachpolitisch verkehrt. Wo das Deutsche in historischer Empirie von ausländischen Söldnern und Wörtern überschwemmt wurde, erscheint ein Frankreich oder eine Académie française, die dem deutschen Sprachvorbild zum Undank beiden verfeindeten Königen Hilfstruppen schicken. Daß sie am Ende nicht ausbezahlt werden können und ihren Sold durch Plündern eintreiben, ist einer der Gründe von Deutschlands Verwüstung.
Truppen anwerben, im Inland wie im Ausland, müssen die zwei Feinde aber deshalb, weil es das stehende Sprachheer, Schottels ureigenste Erfindung, noch nicht gibt. An seiner Etatisierung scheiterte bekanntlich ja auch Wallenstein. Weil das ganze Sprachreich - mit Ausnahme der Frauen, Kinder und Interjektionen - aus lauter wohlgeordneten Wortartregimentern besteht, kann der große Bürgerkrieg nur durch Abwerbung beginnen. Die Wortarten sind, in drastischem Gegensatz zur Historie, nicht einmal von religiösen Schismen zerrissen; den einzigen Unterschied macht ihre Brauchbarkeit für entweder Infanterie oder Kavallerie (wohingegen Artillerieregimenter erst nach lange nach Schottel aufgestellt worden sind). Ein "a,b,ceisches OrdnungsRegiment" (87) für Waffengattungen hat also - ganz wie bei Leibniz das abceische Ordnungsregiment für Bibliotheken - zur Folge, daß die Wörter ihre Waffen gegen sich selbst wenden oder, mit anderen Worten, daß sie vollziehen, was sie wesentlich sind: eine Artikulation.
Artikulation heißt bekanntlich Zergliederung (um nicht mit Benjamin oder Lacan Zerstückelung zu sagen). Mit barocker Gründlichkeit oder Grausamkeit führt Schottel vor, was eine Grammatik, die Kombinatorik und nicht etwa Humboldts Pflanzenwachstum ist, Wörtern alles antun kann. Das zeitlose Sprachwesen selber verhindert zwar, daß ganze Wortarten schlechthin umkommen, aber Einzelwörter erleiden jede denkbare Deformation oder Zerlegung. So büßt etwa "ObristLeutenant Fort" beim Spießrutenlauf, zu dem König Kunst ihn wegen Hoffart verurteilt, die Ehre seines Anfangsbuchstabens ein - anstelle des abgeschlagenen F tritt ein V, das ihn ans ruhmlose Alphabetende degradiert (89). So auch verwandelt ein Bogenschuß den Hauptmann Faustrecht in sein Wortspiegelbild, das als Rechtfaust weiterkämpfen kann. So verlieren schließlich altdeutsche Verben wie Kiesen unter Säbelhieben "Arm und Bein", "Leib und Glied", bis nurmehr ein paar wenige, nämlich neuhochdeutsche Flexionsformen von Kiesen übrigbleiben (135).
Schottels Krieg ist mithin die Spiegelumkehr von Schottels Frieden. In der Wörterreichsverfassung setzt sich aus lauter Einzelelementen ein Reich ganz so logisch zusammen wie in Leibniz' Universalsprache, im Dreißigjährigen Wörterkrieg zerlegt sich dieses Reich gerade umgekehrt in seine letzten Elemente. Zum Zeichen dessen wird der Intrigant, der den ganzen Krieg angezettelt hat, zunächst durch Hals und Zunge seiner Rede geschossen und daraufhin gründlicher als alle anderen "Wörtermenschen" "zerstückt" (132 f.). Daß der Intrigant zu diesem Behuf aber erst einmal aus einem Morast gezerrt werden muß, treibt den Unterschied zu Guarnas Vorlage auf die Spitze. Bei Schottel überschreitet der ungehegte Krieg am Ende alle Grenzen, in die Sprache und/oder Artikulation ihn bannen. Jenseits der Zerlegung in Sprachelemente beginnt eine reine Verwüstung, die die vier physikalischen Elemente selber in Waffen und damit Seiendes in Nichts verwandelt. König Lob schreckt nicht davor zurück, nicht nur die kriegsüblichen Brunnen zu vergiften; er läßt alle acht Hauptflüsse Deutschlands, die im Wörterreich für die acht häufigsten Wortendungen stehen, von "durchverteuffelten Hexen" systematisch verseuchen (121). Woraufhin die spiegelsymmetrische Rache König Kunsts darin besteht, die Verbenhauptstadt Lobburg mit "Pech / Schwefel / Zunder und Stroh" zu überziehen (125). Ein Krieg aber, zu dessen Waffen Feuer und Wasser zählen, macht keinen Unterschied zwischen Kombattanten, Frauen und (wie es ausdrücklich heißt) "Kindern in der Wiege" (125). Nicht umsonst vergleicht Schottel schon im Vorwort sein ganzes spracharchäologisches Vorhaben mit dem Versuch, Tillys verbranntes und verwüstetes Magdeburg aus seinen Trümmern zu rekonstruieren (15). Wo die Frauen und/oder Interjektionen bei Guarna nur den Schmerz ihrer Tränen erfuhren, erfaßt sie bei Schottel die Furie des Verschwindens.
Dieses Verschwinden verschont nicht einmal jene Repräsentanten, die die barocke Repräsentation selber vertreten oder verdoppeln - Könige also und Schriften. Nach vielen Tagen und Nächten einer Schlacht, die nicht zur Entscheidung, sondern (wie der Dreißigjährige Krieg auch) zur gegenseitigen Erschöpfung geführt hat, flüchtet König Kunst in einen "verwüsteten AdelSitz", während König Lob mit "einem Meierhofe kümmerlich verlieb nehmen" muß (138). Woraufhin beide Könige, von allen Bedienten, ja von der Sprache selber verlassen, "man weiß nicht wohin" "sich genzlich verlohren" haben "und allem Muhtmaassen nach / im Elende vergangen" sind (140).
Dieses Elend aber, auf althochdeutsch also die Fremde, fällt mit dem Verschwinden von Schriftlichkeit völlig zusammen. Zugleich mit den Städten, Burgen und Schlössern sind auch alle Kleinodien und Urkunden des Reichs verbrannt oder, wie im Fall der Kupferplattengrammatik, geschmolzen (141). Ohne die materielle Basis namens Schrift gibt es aber keine "Gelahrten" (141) und - sehr anders als in Rousseaus oder Herders unsäglicher Religion der Stimme - überhaupt keine Sprache mehr. Als Prag 1648, also unmittelbar vor Kriegsende, noch von Königsmarcks Schweden erstürmt und geplündert wurde, verschwand mit Kaiser Rudolfs Wunderkammer auch der Codex argenteus, Wulfilas gotische Bibelhandschrift, auf Nimmerwiedersehen in Uppsala.[15] Schottel ist also historisch nur korrekt, wenn sein Sprachkrieg die Hardware aller Wissenschaften und Universitäten vernichtet. Ab sofort bleibt den Deutschen nurmehr jenes bodenlose Sprechen, das nachmals als zwangfreie Kommunikation durchgehen sollte. Ihre Sprache zerfällt, einfach weil kein Speichermedium sie mehr reglementiert, in lauter Mundarten oder Unarten einerseits, in lauter Geschichte andererseits.[16] Noch heute feiert es die historische Sprachwissenschaft als Schottels Verdienst, althochdeutsche Quellen wie Otfried und frühmittelhochdeutsche wie Williram erschlossen zu haben. Im barocken Wissen aber bezeugten solche Sprachstufen kein geschichtsphilosophisches Werden-zu-sich, sondern genau denselben Verfall wie die "krummen Mäuler" und "scheefen Zungen" des "Pöbelvolkes" (140). Geschichte erstmals denken hieß notwendig, von einer Katastrophe her zu schreiben.
Schottel, statt wie goethezeitliche Schreiber sich selbst als Autor zu feiern, wußte nur zu gut, daß der Dreißigjährige Krieg ihm die Feder geführt hatte. Anders denn als Katastrophe konnte seine gelehrte Rhetorik das Faktum gar nicht anschreiben, daß mit Kunst und Lob, Universalgrammatik und Schlesischer Dichterschule die Rhetorik selber in Deutschland aussterben sollte. Damit aber wußte er zugleich, daß die Sprache ein Krieg und der Krieg eine Sprache ist. Schottels Bellum grammaticale endet mit der großartigen rhetorischen Frage, "ob nicht auch das jenige / was durch diesen beschriebenen grausamen Krieg begegnet ist der Teutschen Sprache / auch den sprechenden Teutschen selbst also begegnen könne / so fern die Teutsch-Sprechenden Menschen eben das jenige tun / was die Teutsche nicht-sprechende WorterMenschen gethan haben" (153). Die sprechenden Menschen, dieser Religionsersatz der Moderne, sind im Barock also nur abhängige Variablen einer "nicht-sprechenden" Sprache, deren Wörtermenschen den Dreißigjährigen Krieg um mehr als zweitausend Jahre schon immer vorweggenommen haben. Diese Sprache spricht zwar nicht wie bei Heidegger, aber sie schreibt in jedem Wortsinn des Vorschreibens.
Unter den hochtechnischen Bedingungen von heute gibt Schottel womöglich mehr zu denken als Humboldt. Der Traum von sogenannten natürlichen Sprachen, die die Natur des Menschen wären, scheint ausgeträumt, seitdem auf jedem Schreibtisch immer schon formale Sprachen laufen. Computerprogramme und Algorithmen überhaupt sind aber eineindeutige Vorschriften, die der Verwilderung jener angeblichen Natursprachen schon darum Vorschub leisten, weil sie sie immer raffinierter überlisten. So hat das Bellum grammaticale eine neue Eskalationsstufe erreicht. Es spielt nicht mehr bloß zwischen Substantiven und Verben, sondern zwischen Sprechenden und Nicht-sprechenden, Menschen und Maschinen.





[1] Vgl. John Durham Peters, John Locke, the individual, and the origin of communication. Quarterly Journal of Speech, august 1989.
[2] Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse. In: Technik und Wissenschaft als 'Ideologie'. Frankfurt/M. 1968, S. 163.
[3] Johannes Bolte, Andrea Guarnas Bellum grammaticale und seine Nachahmungen (= Monumenta Germaniae Paedagogica, Bd. XLIII). Berlin 1908, S. *9.
[4] Andrea Guarna, Bellum grammaticale, zitiert nach Bolte, a.a.O. S. 4.
[5] Guarna, a.a.O. S. 4.
[6] Guarna, ebd.
[7] "Quid enim non faciant vinum et immoderatius sumptae epulae!" (Guarna, a.a.O. S. 6).
[8] Guarna, a.a.O. S. 22.
[9] Guarna, a.a.O. S. 48.
[10] Bolte, Guarnas Bellum grammaticale, S. *87.
[11] Justus Georg Schottelius, Der schreckliche Sprachkrieg. Horrendum Bellum Grammaticale Teutonum antiquissimorum, hrsg. Stefan Rieger und Friedrich Kittler. Leipzig 1991. (Hier und im folgenden nurmehr nach Seitenzahl zitiert.)
[12] Vgl. Michel Foucault, Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, hrsg. Walter Seitter. Berlin 1985.
[13] Vgl. Arno Borst, Der Turmbau zu Babel, XXX, YYY.
[14] Vgl. vom Verfasser, XXX, YYY.
[15] Vgl. Peter Englund, Die Verwüstung Deutschlands. Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Stuttgart 1998, S. 519.
[16] Mit dieser Herleitung neuhochdeutscher Sprachformen aus Kriegsverletzungen älterer Wörter folgt Schottel den Gesprechspielen seines Freundes Harsdörffer. Vgl. Bolte, Guarnas Bellum Grammaticale, S. *81 f.