Friedrich Kittler

Der Schleier des Luftkriegs

Etwas geht vor in den Medien, taubenfüßig und unscheinbar wie immer

Das deutsche Fernsehen, hört man beim deutschen Fernsehen, hat seine systemtheoretische Höhe oder Spätphase erreicht. Mit Realität der Massenmedien meinte Niklas Luhmann ja nicht bloß Wirklichkeit, die Radio und Fernsehen übertragen, sondern auch Wirklichkeit, die sie erzeugen. Humanitäre Maßnahmen für Kuwaiter hat vor dem Zweiten Golfkrieg kein hiesiger Sender gefordert, für die Kosovaren vor dem Nato-Einsatz aber durchaus. Hätte also das Fernsehen, bevor es in der letzten Woche doch wieder zu seinem Frieden, der exklusiv humanitären Andachtsübung nämlich, zurückfand, Krieg heraufbeschworen?

Hochmütige Frage. Moderne Massen- oder besser Einwegmedien sind genauso alt wie die Nationalstaaten, für deren Massenheere sie ein Jahrhundert lang getrommelt und mobil gemacht haben. 1966 sah ein Times-Reporter hoch im Kirchturm von Sadova mehr als Moltke, der Sieger, von seinem Feldherrnhügel. 1939 begann ein Weltkrieg im Aufnahmestudio des Senders Gleiwitz als seine eigene Simulation. Erst als aus Südvietnam zu viele Bilder toter Wehrpflichtiger in die USA zurückflossen, haben die Medien vom Kriegsbericht auf humanitäre Auslandsreportage und die Nationalstaaten (mit Ausnahmen wie Deutschland) von Massenheeren auf Berufsarmeen umgeschaltet.

Berufssoldaten aber machen schon darum keine Medienereignisse, weil sie selber aus Medien gemacht sind. Dafür sorgt seit dem Zweiten Golfkrieg, einmal wieder, die Pressezensur. Kampftruppen dürfen desto weniger im Fernsehen erscheinen, je ausschließlicher ihr Gefecht über Computermonitore, Nachtsichtgeräte oder Satellitenbilder läuft. Diesen ganzen Medienpark hat die U. S. Army in schöner Zweideutigkeit Vision 2000 getauft. Denn der Krieg als Television ist keine Ikonographie. Selbst unser Mann in Bagdad, der einsame CNN-Rporter auf seinem Hotelbalkon, sah weniger als die alte Times bei Königsgrätz. Um überhaupt noch Propaganda abzuwerfen, bleibt der Vision also nur, daß fernsehäugige Marschflugkörper kurz vorm Einschlag ihre eigenen Zielbilder zurückfunken. Für das Fernsehen übrigens eine gründlich verpaßte Gelegenheit, seine technische Identität mit dem Angreifer zu begreifen.

Aber jetzt ist der Krieg zurück nach Europa. Die Kombattanten haben dazugelernt. Die Nato, endlich, bekriegt keinen Feind, sondern einen Nationalstaat. Jugoslawische Luftabwehroffiziere sollen nach Bagdad zum Erfahrungsaustausch geflogen sein. Westliche Reporter sind ausgewiesen, ihre Kamera-Ausrüstungen demoliert (nicht ohne daß letzte Kamera-Einstellungen die Zerstörung selber übertragen hätten). Etwas geht vor im Medienpark, taubenfüßig und unscheinbar wie immer.

Der einzige Radiosender Belgrads, der sich Unabhängigkeit nachsagen läßt, hat Funkverbot, aber Internet-Zugang: B 92 darf die Bombenteppiche der B-52 ins Netz stellen, das älteste Kampfflugzeug also ins neueste Medium katapultieren. Ganz entsprechend ist es serbischen Hackern gelungen, die Ÿngste des Pentagons zwar nicht zu bewahrheiten, aber doch zu illustrieren. Anstatt Top-secret-Computer zu knacken, wie die halbamtlichen Zukunftsszenarien namens Information Warfare das vorsehen, haben jene Hacker die Nato-÷ffentlichkeitsarbeit, aber auch nur sie, mit Computerviren und E-Mail-Schrott bombardieren können. Stundenlang glänzte die Allianz durch Web-Absenz, bis die siegreiche Netzattacke (laut Nato-Sprecher Jame Shea) zu einer Belgrader Computeradresse zurückverfolgt werden konnte.

Im Medienpark geht etwas vor, das die eingesessenen Massenmedien mehr und mehr um Luhmanns doppeldeutige Realität bringt. Der Traum oder Alptraum des deutschen Fernsehens, am Kriegsausbruch mitschuldig zu sein, ist sprechend wie ein Symptom. Fünfzig Jahre lang haben sich Staaten auf die diskrete Solidarität von Anstalten verlassen dürfen, die schon aus Gründen miserabler Bildauflösung lieber Politikergesichter oder Flüchtlingskinder in Nahaufnahme "ausstrahlen", als eine Wüstensturmtotale aufzunehmen. Aber mit den Bildauflösungen wandeln sich die Zeiten. Computermonitore im Arbeitszimmer verkraften, anders als ihre betagten Doppelgänger vorm Wohnzimmersofa, ganze Megabytes. Nichts anderes heißt heute Ikonographie des Krieges.

"Ein Mausklick auf die Dateigrößenzeile, die Sie unter jedem Daumennagelbild finden", reicht "zum Downloaden hochwertiger Fotos in Druckerqualität" völlig hin. So wörtlich die Homepage der Nato, seit sie wieder freigekämpft ist. Mir indes reichen schon besagte Daumennagelbilder, winzige Zwillings-Ikonen also, die Luftabwehrraketenbatterien bei Belgrad oder Feldflugplätze bei Batajnica "vorher" und "nachher", "Post Strike" und "After Strike" vorführen, vollkommen hin, um der beigeschriebenen Nato-Bitte nachzukomen: "Please credit NATO photos".

Einer Militärallianz, die digitale Copyrights hält, muß man einfach glauben. (Um den zivilen Rest an Bildrechten kämpfen bekanntlich Microsoft Corporation und Getty Oil.) Ihren Aufklärungsfotos verweigert man schon darum keinen Quellennachweis, weil sie nur die Spitze eines Eisbergs sind. Denn was bei End Usern, Redaktionsschlüssen oder Nachrichtenstudios ankommt, enthält garantiert keine Information mehr. Nur Stäben der Nato (oder näherhin denen der U. S. Air Force) gehen die Meßwerte vom laufenden Luftkrieg neuerdings binnen 60 Sekunden, also fast in Echtzeit, zu.

Aber damit steht jene Medienmacht nicht mehr ganz allein. Im Bosnienkrieg waren es noch Hacker oder Freaks wie Geert Lovink, die von Amsterdam über Budapest Netzverbindungen zum Balkan schalteten. Dann konnten in der Nacht nach Scharmützeln oder Massakern zwischen Zagreb, Sarajevo und Belgrad, aller nationalstaatlichen und massenmedialen Abschirmung zum Trotz, doch noch verspätete E-Mails zirkulieren. Auch das ist anders geworden. Die Vielwegmedien von heute scheinen fast Nato-Echtzeit zu erreichen. Jemand, den wir eben Kosovarer zu nennen gelernt haben, braucht den Tod vor seinen Augen nur mehr einem kleinen tragbaren Medienverbund von Palm Pilot, Modem und Handy anzuvertrauen, um sein Dorf weltweit zu machen. Die Ablösung der Reporter durch Überlebende erfolgt mithin durch Aufrüstung, die das Equipment von Berufssoldaten noch zu den Opfern streut. Ohne Nato und Glasfasernetz, Satellitenfunk und Global Positioning System wäre von Globalisierung keine Rede. Insofern mag der laufende Luftkrieg nur ein Schleier sein, der gnädig, und das heißt erfahrbar, verhüllt, daß Information Warfare aller Erfahrbarkeit spottet.

Aber der Bodenkrieg, der Flüchtlingsstrom, also kurzum die Tagesthemen? Angst vor dem einen, Angst um den anderen - das bleibt als Schleier "den Medien", wie sie sich noch immer zu titulieren belieben. Bodentruppen und Flüchtlingswellen haben aber - schon vom vorletzten deutschen Krieg her - dasselbe Los: Sie müssen über diese alte Erde ziehen. Über eine Erde, die nach Martin Heideggers Wort "jedes Eindringen in sie an ihr selbst zerschellen läßt". Ach, verkarsteter Balkan, Europas untoter Ahne.