Frank Hartmann

Materialitäten der Kommunikation

Zur medientheoretischen Position Friedrich Kittlers

erschienen in:
INFORMATION PHILOSOPHIE
Feb. 1997


Nach eigener Aussage entkam Kittler in den sechziger Jahren durch die Lektüre von Jacques Lacan und Michel Foucault der Freiburger Heideggerei, wurde nicht verführt vom negativen Glücksversprechen der Frankfurter Schule, las weiters viel mehr Hegel als Marx und hörte gern psychedelische Musik von Pink Floyd und Jimi Hendrix. Über eine poststrukturalistisch inspirierte Diskursanalyse der siebziger Jahre entwickelte er dann jene Sachlichkeit der technischen Argumentation, die sich ebenso strikt wie bestimmt gegen jegliche Hermeneutik des Sinnverstehens richtet: nicht Intentionen, Gefühle, Worte etc. gilt es in der geisteswissenschaftlichen Interpretationsarbeit zu untersuchen, es können höchstens vorgängige Strukturen freigelegt werden. Und die sind, als Bedingungen der Hardware, vor allem auch technischer Natur.

Die Diskursanalyse wird materialistisch, indem sie Standards der zweiten industriellen Revolution gerecht wird und neben 'Arbeit' und 'Energie' auch 'Information' als Paradigma geltend macht. In theoretischer Konsequenz bedeutet dies jene "Aufräumarbeiten", die Kittler als eine strukturale Tätigkeit unter entwickelten technischen Bedingungen praktiziert: die Entschlüsselung des - wie er es nennt - "modernen Rätsels der Materialitäten von Kommunikation". Das ist der Ausgangspunkt für Kittlers Analysen. Nicht Subjekte oder deren Bewußtsein, sondern Schaltungen bestimmen, was wirklich ist. Kultur ist als ein Prozedere von Datenverarbeitung anzusehen.

Damit begründet sich der methodische Ðbergang von der Literatur- zu einer umfassenden Medienanalyse. Ohne Thematisierung des sie bedingenden technischen Raums (in dem gespeichert, übertragen, und berechnet wird) geraten philosophische Theorien heutzutage schlicht euphemistisch. Kittler ist nicht Aufklärer, sondern eher Entmythologisierer, der eine letztmögliche Form von Metaphysikkritik betreibt, indem er die Kulturtheorie dem technischen Stand der Dinge annähert. Kittler provoziert wohl die philosophische Zunft, indem er die Summa Theologiae des Thomas von Aquin als "historisch wohldatiertes Textverarbeitungsprogramm" vorstellt oder Hegels Phänomenologie des Geistes als Abschreibeprodukt, dessen auf eine enzyklopädische Exzerptensammlung des Philosophen verweisende Spuren von diesem selbst wohlweislich verwischt worden sind. Die Gelehrtenrepublik formiert sich über solche verborgenen medientechnischen Operationen: der geisteswissenschaftliche Text sucht die ihn miterzeugende Medientechnik unsichtbar werden zu lassen.

Daß der große philosophische Text aus bewußt getilgten Markierungen entsteht, aus materialen Bedingungen seiner Möglichkeit, fördert die Rückkopplungsschleife einer Wiederholungslektüre zutage. Die Gelehrtenrepublik entmystifiziert sich damit als "eine endlose Zirkulation, ein Aufschreibesystem ohne Produzenten und Konsumenten, das Wörter einfach umwälzt." Ihre Produkte, allem voran Bücher, sind Medien, nicht Träger irgendeines metaphysischen Wissens. Weiters existiert diese Gelehrtenrepublik mit einer schweren Hypothek: dem verführerischen Versprechen des hermeneutischen Verstehens, welches gewissermaßen als Diskurskontrolleur funktioniert. Nicht nur für die literarische Produktion gilt: "Der Nebel im Feld der Dichtung ist der Schein, Texte seien hermeneutisch verstehbar und nicht programmiert-programmierend."

Was, mit anderen Worten, geschrieben steht, ist immer auch ein Effekt dessen, was aufgrund unthematisierter Voraussetzungen geschrieben stehen soll. Die unerkannte Normativität der Buchkultur ist eine mittlerweile gebrochene. Denn: "Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken." - diese aus seinen Briefen überlieferte Einsicht Friedrich Nietzsches dient als Leitmotiv für die Mitte der achtziger Jahre erschienene Studie zu Grammophon, Film, Typewriter. Gerade die Geisteswissenschaften haben ihre Autonomie in den letzten Jahrhunderten auf ein systematisches Ausblenden der banalen Tatsache gebaut, daß die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis eben auch technischen Voraussetzungen unterliegt. Da diese Voraussetzungen mit dem Innovationssprung des Digitalcomputers (Alan Turings universeller diskreter Maschine) jetzt gründlich transformiert werden, bietet sich eine Möglichkeit zu ihrer kritischen Reflexion, die Chance einer Medienphilosophie. Doch Vorsicht - nicht Philosophie im akademisch disziplinären Sinn, sondern Erforschung der technischen Bedingungen medialer Kommunikation lautet bei Kittler das Programm, für welches die Bezeichung Medienarchäologie nicht unangebracht scheint.

Hier ist der theoretische Einfluß von Jacques Derrida unverkennbar; Kittler kritisiert an der Philosophie, daß sie den Pseudo-Humanismus des 'Gedankens' gelten läßt, ohne den medialen Aspekt zu berücksichtigen: dabei wäre gerade 'Schrift' das Bestimmende und nicht etwa das reine Denken. Was auch in der Philosophie als Argument oder Beweis gilt oder als zitierfähiger Beleg zur Verfügung stehen soll, dies alles läßt sich an technischen Unterschieden festmachen, an ihrem materiellen Gehalt.

Eine Philosophie der Medien hätte demnach bei den Medien der Philosophie zu beginnen. Damit hat Kittler die einst sloganhaft formulierte Einsicht Marshall McLuhans, daß das Medium selbst schon eine Botschaft sei, nicht nur ernstgenommen, sondern sogar noch radikalisiert: besonders unter den Bedingungen einer Immanenz der Nachrichtentechniken, die den von Philosophen systematisch übersehenen oder mißachteten Schematismus der Wahrnehmbarkeit bilden, zählen nicht Botschaften oder die konkreten Inhalte der Medien, "sondern einzig ihre Schaltungen". Nach der Zerlegung der Welt in Buchstaben und Zahlen, in Filmkader und Pixel bildet die systematische Schaltung das Hardwareprinzip, das alles zusammenhält. Dies ist eine andere Rede vom Tod des Subjekts (Foucault); nur da die analogen Speicher- und Ðbertragungsmedien menschliche Sensorien ersetzen (v.a. im kriegstechnischen Sinn, wie bereits Norbert Wiener erkannt hat), läßt sich die Illusion halten, hinter all dem stehe noch 'der Mensch'.

Die europäische Philosophie macht sich des Versäumnisses schuldig, das Verhältnis von Geist und Körper wie dasjenige von Software und Hardware zu sehen, während Technik (vom Papyrus über Stadtstrukturen bis zum Siliziumchip) die eigentliche Hardware des Geistes bildet. Ein Denken ohne Körper ist ihr also nicht vorstellbar, und so inszeniert sie das Leibliche letztlich als Einspruchsinstanz gegen die Technik. Eine aus Kittlers Ansatz folgende Forschungsfrage ist nun eher die, wie die Medientechnologie den menschlichen Habitus beeinflußt und damit Kulturgeschichte geschrieben hat. Bewußtsein verschwindet damit als metaphysisches Problem, da es ein Effekt des technischen Raums ist - keine Funktion des Leibes, sondern von ihrerseits medial determinierten Diskursstrategien.

Hier stellt sich die Frage, warum dieser (selbst)reflexive Schritt von den philosophischen Theoretikern selbst kaum je gemacht worden ist. Einerseits, so Kittler, brauchte es bislang gar keine Theorie der Medialität, weil symbolisches Handeln im Kontext traditioneller Theoriebildung fast unweigerlich auf Schreiben hinausgelaufen ist. Die Notwendigkeit einer Medientheorie ergibt sich, in Analogie auch zu McLuhan, erst aus dem Jenseits des Buches als Organisationsprinzip gesellschaftlichen Wissens. Die moderne Medienentwicklung macht deutlich, daß selbst Sprache ein historisch kontingentes Speichermedium darstellt. Gegenwärtig zieht sich mit der Mikrologisierung der Computertechnologie die Schrift vollends in die Maschine zurück, womit diese nicht nur die zeitliche und räumliche Wahrnehmung verschwinden macht, sondern auch den Schreibakt als solchen. Die Hardware-Konstrukteure der Intel-Corporation, so Kittler in seinen zuletzt erschienen Technischen Schriften, mögen in den späten siebziger Jahren den letzten historischen Schreibakt vollbracht haben, um die Architektur ihres ersten integrierten Mikroprozessors in Silizium aufzuzeichnen.

Diese Diagnose vom Verschwinden der Schrift radikalisiert, als Konsequenz der neuen technischen Ordnung der Dinge am Ende der industriellen Revolution, Foucaults Rede vom Verschwinden des Menschen. Indem sie sprachliche Codes transzendiert, ist die Computertechnologie mehr als eine bloße Infrastruktur des Wissens. Die Hermeneutik der Technologien, die Kittler betreibt, impliziert jedoch eine Decodierung der Sozialprozesse, die sich in diese 'eingeschrieben' haben. Die gegenwärtige Medienkultur indiziert eine kommunikative Transformation, die teils als befreiend erlebt wird und doch eine umfassende Industrialisierung des Bewußtseins betreibt. Kittler stellt nicht die Frage nach der 'kritischen Aufgabe' - stattdessen bleibt die technische Ordnung der Dinge unter jener Fragestellung zu umschreiben, auf die mit einer Theorie der Hardware zu antworten wäre.

Wo also die einen - im Sinne einer Demokratisierung des Zugangs zu Informationen - brauchbare graphische Benutzeroberflächen sehen, decouvriert Kittler Akte des Verbergens, nämlich der "zur Programmierung immer noch unumgänglichen Schreibakte", wobei letztlich "eine ganze Maschine ihren Benutzern entzogen" werde. Was können wir von den Informationsmaschinen selbst wissen? Die Frage verbindet sich mit einer grundsätzlichen Schwierigkeit: das Neue an der technischen Datenverarbeitung ist, daß die elektronisch vernetzten Medien sich funktionell nicht länger bloß als die "technischen Verstärker der sprachlichen Kommunikation" (wie es noch Jürgen Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns sah) begreifen lassen. Die neue Medienkultur, die vom Menschen als Produzenten von 'Sinn' damit dezidiert Abschied nimmt, so Kittler, "operiert auf der Basis nicht von Sprachen, sondern von Algorithmen und zeitigt deshalb Effekte, die keine Rede - auch unsere nicht - zureichend beschreiben kann."

Hier distanziert Kittler sich vorsichtig genug von der Gefahr einer neuen Metaphysik, die Zahlen (bzw. digitalisierte Information) verabsolutiert. Auch Zahlen sind historische Aprioris, die nicht an sich, sondern unter operativen und damit medialen Bedingungen existieren. Wenn unter diesen Bedingungen der fortgeschrittenen Technologien kein souveränes Subjekt mehr zu erkennen ist, dann stellt sich damit die Frage nach der Rolle der Experten und schließlich auch der Intellektuellen. Wird ihr Wissen bzw. dessen kritische Reflexion abgelöst von einem universalen Maschinengedächtnis, auf dessen Einrichtung die menschliche Existenz letzten Endes hinauszulaufen scheint?

Eine humanistische Ethik oder eine wohlmeinende Medienpädagogik, die immer wieder am Subjekt ansetzt, wird als abstrakte Kritik den Folgen der Medientransformation nicht mehr gerecht. Sie verkennt, daß Technologie jenes Wissen ist, das zuallererst Macht vergibt. Wenn Philosophie sich weigert, sich den u.a. von Kittler aufgeworfenen medientheoretischen Fragen zu stellen, bleibt ihr nurmehr die Erbaulichkeit und sie wird jede gesellschaftspolitische Relevanz an die Ingenieurswissenschaften abtreten müssen. Kritik scheint hier nach jenem Grad des Selbstbewußtseins greifbar, mit dem sich die Differenz zwischen dem seine vorgängige Programmierung vergessen machenden 'Worttext' und dem 'Klartext' seiner Programmierung überhaupt noch thematisieren läßt. Nicht die Differenz zwischen Wissen und Nichtwissen oder diejenige zwischen Informationsreichtum und Informationsarmut, sondern die zwischen Programmierern und Programmierten bestimmt die Medienwirklichkeit.

Unterstützt durch das Schweigen der Ingenieure im gesellschaftspolitischen Diskurs, lohnt es sich angeblich nicht, über Computertechnologie und ihre Funktionen zu streiten: "It's only a tool". Eine immanente Kritik der instrumentellen Vernunft muß jedoch zugestehen, daß die Werkzeuge der Symbolmanipulation selbst hochgradig symbolträchtig sind. Computer sind folgerichtig mehr als ein bloßes Werkzeug. Für eine Ideologiekritik des Computers heißt das, zu zeigen, daß sich der Lese- und Schreibakt in der Maschine verselbständigt hat. Deswegen wagt Kittler die extreme Behauptung, es gebe eigentlich gar keine Software, da sie gewissermaßen immer nur ein Effekt der bestehenden Hardware ist. Eine definitive Theorie der Hardware wird damit letztlich zum Paradox, wie Kittler (quasi schelmisch) explizit macht: da sie eine Ausdrucksform in Anspruch nehmen muß, die ihre eigene technische Implementierung stets wieder systematisch verdecken würde.

Die technische Rede führt Kittler mit subversivem Ernst, wobei er nie jene grundsätzliche Seriosität verliert, die darauf beruht, daß er sich nur auf Dinge einläßt, die er "wenigstens im Miniaturmodell selbst gemacht" hat. Dies ist seine gerechte Kritik an der intellektuellen Abstraktion, deren Diskurs an der Praxis jeder Medienrealität vorbeizielt. Seine Lektüre, die auf eine Ebene der Schaltpläne unterhalb der Benutzeroberflächen zielt, ähnelt daher - gemäß dem Verfahren von 'Trial and Error', wie es jedem Hacker geläufig ist - mehr einer Spurensuche, als daß sie einen hermeneutischen Anspruch auf zweiter Ebene bedient..

Dagegen bleibt einzuwenden, daß die technische Grundlage nicht zwingend die gesellschaftliche Bedeutung einer Technologie erschließt. So hat sich in jüngster Zeit das Internet als ein wesentlich soziales Phänomen entwickelt und nicht als ein rein technisches; seine Existenz verdankt es nicht ausschließlich den Besonderheiten der Hardware (der Computerarchitektur). Daß die technischen Produkte ein subversives Potential enthalten, das sich auch gegen die Macht ihrer Produzenten wenden läßt, ist allerdings eine Einsicht, der die hier dargestellte Position vermutlich keineswegs widersprechen würde. Plausibel ist diese Position als ein Akt der kritischen Vollendung strukturaler Ansätze, doch sie unterliegt dementsprechenden Einschränkungen. Kittler verfällt einem hoffnungslosen Technizismus, wenn er Medien als heimlichen Ersatz für ein geschichtsphilosophisches Subjekt einsetzt, und die quasi-Natürlichkeit ihrer Entwicklung in einen Geschichtsautomatismus auslaufen läßt, der jede Medientheorie im engeren Sinn obsolet werden läßt.

Aus den Materialitäten der Kommunikation erschließt sich deren Semantik ebensowenig, wie die hier immer wieder bemühte Faktizität des Krieges die Komplexität der Sozialprozesse vergessen machen kann, welche die Medienentwicklung bestimmen. Wäre es tatsächlich allein die Technologie, so müßte der Abschied vom Menschen nicht derart propagandistisch zelebriert werden, und schon gar nicht in technischen Schriften.

 

Publikationen von Friedrich Kittler:
Hg.: Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn 1980
Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1985 und 1987
Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986
Die Nacht der Substanz, Bern 1989
Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993
"Wenn die Freiheit wirklich existiert, dann soll sie doch ausbrechen" in: Rudolf Maresch, Am Ende vorbei. Gespräche, Wien 1994, S.95ff
"There is No Software" [C-Theory]


 © Frank Hartmann 1998

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