Bei Tanzmusik kommt es einem in die Beine
Friedrich Kittler
(Festvortrag anläßlich der Verleihung des 01-Awards 1998 an
Brian Eno im Rahmen des 2. Multimedia Forums, Berlin 20. November 1998)
Mr. Eno, meine Damen und Herren,
Musik ist eine Sache, Wissenschaft eine andere. Die eine geht unmittelbar in
die Beine, die andere kommt erst nach langen Umwegen über Bücher,
Geschichten oder Techniken wieder auf dieser Erde an. Verzeihen Sie es daher
einem Medienhistoriker, die Aktualität der Musik, die wir heute ehren, nur
über historische Arabesken und theoretische Überbauten zu
erreichen.
Immerhin hat besagte Theorie in ihrer historisch höchsten Form es schon
einmal geschafft, die Sache mit der Musik und den Beinen auf den Punkt zu
bringen. In den Vorlesungen, die Georg Friedrich Wilhelm Hegel hier in Berlin
seit 1828 über Philosophie der Kunst hielt, standen die denkwürdigen
Sätze:
"Die eigentümliche Gewalt der Musik ist eine elementarische Macht, d.h.
sie liegt in dem Elemente des Tones, in welchem sich hier die Kunst bewegt.
Von diesem Elemente wird das Subjekt nicht nur dieser oder jener Besonderheit
nach ergriffen oder bloß durch einen bestimmten Inhalt gefaßt,
sondern seinem einfachen Selbst, dem Zentrum seines geistigen Daseins nach in
das Werk hineingehoben und selber in Tätigkeit gesetzt. So haben wir z.B.
bei hervorstechenden, leicht fortrauschenden Rhythmen sogleich Lust, den Takt
mitzuschlagen, die Melodie mitzusingen, und bei Tanzmusik kommt es einem sogar
in die Beine".[1]
Der Grund solcher Lust aber ist unsere Widerstandslosigkeit gegenüber
Musik: Im Unterschied zu allen anderen Künsten, die ja nur Räume oder
Flächen mit Gebilden oder Zeichenketten füllen, fällt die Musik,
weil sie nichts als Zeit ist, mit dem Sein ihrer Hörer zusammen. Was Hegel
als ihre "elementarische Macht" feiert, folgt unmittelbar aus seinem Satz,
daß "das Ich in der Zeit", "die Zeit" aber "das Sein des Subjekts selber
ist".[2] Mit anderen Worten: Musik wirkt, ohne
daß irgend eine Ästhetik noch theoretische Brücken zu ihr
schlagen müßte. Nietzsche bei all seiner Hegelfeindschaft schrieb
daher nur Hegel fort, als er "Ästhetik" "nichts als eine angewandte
Physiologie" nannte und die rhetorische Frage stellte: "Was will
eigentlich meiner ganzer Leib von der Musik überhaupt? Denn es gibt
keine Seele..."[3]
Solche eleganten Schlußfolgerungen würde jeder Technofreak von heute
unterschreiben, wenn es mit der Austreibung der Seele aus Musik und
Ästhetik nur so einfach gewesen wäre. Aber das ganze Glück oder
Unglück Europas lag gerade darin, die von Hegel gefeierte elementarische
Macht der Musik immer schon aufgehoben zu haben. Elemente heißen zwar
jene unvordenklichen und unumgänglichen Gegebenheiten, die uns
buchstäblich umgeben - aber nicht schon immer. Bei den Griechen
nämlich besagte Element, lange bevor es zum gemeinsamen Namen von Wasser
und Feuer, Erde und Luft aufrückte, schlicht und einfach Buchstabe. Das
griechische Vokalalphabet, weil es als erste Totalanalyse einer gesprochenen
Sprache wiederkehrende Laute in eine abzählbare Menge von Zeichen
überführte, hatte den Begriff Element nachgerade hervorgerufen.
Folgerichtig standen seine vierundzwanzig Buchstaben schon seit Anbeginn
für Laute und Zahlen zugleich; die Pythagoreer brachten ihnen auch noch
bei, für musikalische Intervalle zu stehen. Die Musik geriet also in
Europa unter die höhere Macht eines Codes, der sie zwar anschreibbar,
abzählbar und speicherbar machte, aber gerade darum ihre Macht notwendig
verfehlte. Zum Zeichen dessen soll Pythagoras seine musiktheoretische
Inspiration zwar im Ambiente einer dröhnenden Schmiede empfangen haben,
aber was seine Mathematik ganzer Zahlen dann durchrechnen konnte, waren einzig
und allein die dünnen farblosen Töne eines Monochords. Weder die
Intervallbuchstaben der Griechen noch auch die Notenlinien und Notensymbole,
mit denen Guido von Arezzo zu Beginn unseres Jahrtausends die musikalische
Neuzeit einläutete, sind daher imstande, die akustisch-physikalische
Wirklichkeit von Musik mehr als bloß zu bezeichnen. Eher haben sie
umgekehrt dafür gesorgt, daß nur solche Musik gemacht wurde, die
sich auch schreiben ließ. Zumindest in der Hochkultur war das Medium
Papier wichtiger als instrumentale Klangfarben, physikalische Lautstärken
und absolute Tonhöhen. Denn dieses Papier gewährte der
europäischen Musik die einmalige Möglichkeit, aus der vergehenden
Zeit zu springen. Es machte die Zukunft einer Melodielinie oder Harmoniefolge
planbar und von dieser Zukunft her auch wieder die Gegenwart. Ohne solche
Rückläufigkeit, wie es sie nur in Speichermedien gibt, wären die
Krebsgänge bei Bach oder die Leitmotive bei Wagner gar nicht zu schreiben
gewesen. Die Zeit selber ließ sich verwürfeln wie sonst nur noch die
Buchstaben im Anagramm oder Palindrom, also auf dem Papier. Für dieses
Vorrecht namens Komposition zahlte die europäische Musik jedoch den hohen
Preis, daß alles, was Hegels Beine oder Nietzsches ganzer Leib von ihr
erwarteten, frommer Wunsch bleiben mußte.
Sicher, schon das neunzehnte Jahrhundert in seiner Liebe zu allen achtzig
neuentdeckten Elementen hat alles menschenmögliche unternommen, um den
frommen Wunsch seiner Philosophen zu erhören. Was die Partituren an
elementarischer Macht nicht hergaben, lieferten neue Berufe wie der Virtuose
oder Dirigent aus freien Stücken nach. Was die alteuropäischen
Opernhäuser und Konzertsäle nicht hergaben, gingen Architekten wie
Langhans, der ja nicht nur das Brandenburger Tor baute, mit physikalisch
optimierter Akustik an. So gelang es doch noch, der Musik jene Seele
einzuflößen, die es laut Nietzsche gar nicht gibt. Ohne seine
Dirigenten und Virtuosen, seine Architekten und Akustiker wäre Bayreuth
auch in den Sommerwochen ein verschlafenes Provinznest geblieben. Nur am
Notenpapier, der materiellen Basis aller europäischen E-Musik, hat nicht
einmal Richard Wagner gerüttelt.
Dabei hätte er es können. Sechs Jahre, bevor der Herr aller
Trommelfelle dem Tod in Venedig begegnete, bastete ein Zeitgenosse Wagners den
ersten papierlosen Musikspeicher zusammen: 1877 konnte Thomas Alva Edison einer
staunenden Zeitungsöffentlichkeit den Prototypen seines sogenannten
Phonographen vorstellen. Damit war die physikalische Akustik, wie sie schon
Theaterarchitekten wie Langhans inspiriert hatte, endlich in Hardware gegossen.
Musik schrieb sich von selber auf, ohne den Umweg griechischer Buchstaben oder
mittelalterlicher Noten nehmen zu müssen. Was das an Neuerungen versprach,
scheint Edison, offenbar gerade weil er halbtaub und unmusikalisch war, sofort
erkannt zu haben. Denn seine Tonwalze hat nicht nur Opernsänger wie Caruso
oder Blaskapellmeister wie Sousa unsterblich gemacht, sondern auch so
notenpapierlose Komponisten wie den Mississippi.
Ol' Man River, dieser Held der frühen Jazz-Songs, ist genau das Rauschen,
das Edison und seine Fortsetzer, also Phonograph und Grammophon, musikalisch
allererst möglich gemacht haben. Ol' Man River ist zugleich das
Eingedenken daran, daß der gute alte Jazz ohne Schallplatte gar nicht
denkbar gewesen wäre. Der Wind hätte sie alle längst verweht,
jene musikalischen Analphabeten, die seit der Jahrhundertwende zur Trompete
oder Posaune griffen, um Musik ohne Notenpapier und Harmonielehre zu machen.
Improvisation, ob in New Orleans oder später in Chicago oder New York,
hieß ganz schlicht, der vergehenden Zeit vertrauen zu können,
einfach weil die andere, kompositorische Seite von Musik der mechanischen
Aufzeichnung selber überlassen bleiben durfte. Damit hat der Jazz nicht
bloß Philosophen erbost, die wie Adorno das musikalische Material
weiterhin nur in Papierform zuließen, sondern seinen eigenen
Möglichkeiten auch eine Grenze gesetzt. Mit leichter Übertreibung
gesagt: die Musik war immer nur so komplex, dynamisch und obertonhaltig, wie
ihre technischen Medien das erlaubten. Wenn Tenorsaxophonisten wie Lester Young
ihr Instrument ausreizten, blieben sie doch in der akustisch ziemlich
bescheidenen Frequenzbandbreite jenes Mittelwellenradios, das ihre
Schallplatten in den Dreißigern auflegte. Erst als das UKW diese
Brandbreiten aus guten militärischen Gründen im Zweiten Weltkrieg
weit nach oben trieb, wurde auch der BeBop von Gillespie und Parker zur
Möglichkeit. Mit Undezimen und Tredezimen über dem Grundton feierte
sich die Frequenzbandbreite von UKW als solche.
Aber während in den Clubs von Harlem der BeBop mit Obertönen und
Kokain experimentierte, lief besagter Weltkrieg weiter. Es waren keine
Schallplattenkäufer, sondern Bomberpiloten im Coastal Command der Royal
Air Force, denen ein unerhörtes akustisches Experiment erstmals zu Ohren
kam. Für die Schlacht um England hatte die Decca zwischen 1941 und 1942
eine Schallplatte entwickeln müssen, deren Frequenzbandbreite weit
über Edisons Phonograph und Berliners Grammophon hinausging. Sie versprach
nämlich - und das schon im Markennamen selber - full frequency range
reproduction, die volle Wiedergabe aller für Menschen hörbaren
Frequenzen. An ffrr-Schallplatten sollten die Bomberpiloten noch in ihrer
Trainingsphase lernen, abgetauchte, also unsichtbare deutsche U-Boote von ihren
abgetauchten britischen Zwillingen akustisch zu unterscheiden. Denn nur wenn
das Motorengeräusch, wie es am untersten Ende des Hörbereichs
erklang, ein U-Boot des Gegners verriet, durften die Wasserbomben ausgeklinkt
werden. Aus dieser Minimierung von friendly fire ist dann unmittelbar nach
Kriegsende das freundliche Feuer unserer alltäglichen HiFi-Qualität
hervorgegangen.
Aber auch Britanniens Gegner schliefen nicht. Ein großer Kunsthistoriker,
der damals im Auftrag seines Geheimdienstes deutsche Soldatensender
abhörte, hat von seiner Verblüffung berichtet, als die
Tonqualität dieser Stationen 1943 einen technischen Sprung nach vorn
machte. Feindsendungen, die nachweislich gar nicht vor dem Mikrophon hatten
stattfinden können, sondern als Tonkonserven abgespielt sein mußten,
klangen mit einemmal live. Erst 1944, als Eisenhowers Panzerspitzen Paris
befreiten, lichtete sich dieses Geheimnis. Auch im Soldatensender Paris stand
jenes brandneue Gerät, das die akustische Anwesenheit von Abwesenden
einfach deshalb simulieren konnte, weil seine Frequenzbandbreite mit der von
Menschenohren fast zusammenfiel. Das Tonbandgerät, wie es damals noch in
umständlichem Technikerdeutsch hieß, lief aber nicht nur in
öffentlichen Sendern, sondern auch in den Folterkammern der Gestapo und in
den Funkerräumen der Kriegsflotte. Dort hatte es den noch geheimeren
Auftrag, die Zeit selber zu verwürfeln. Tonbandmitschnitte ließen
sich - im Unterschied zu allen Tonwalzen oder Schallplatte - mit Schere und
Klebeband so kleinteilig bearbeiten, bis aus einer empirisch abgelaufenen
Zeitfolge all ihre Anagramme oder Palindrome zusammengebastelt waren. Genau
jene Zauberei also, die die europäische Musik nur im Medium ihres
Notenpapiers, also nur für abstrakte Intervalle hatte vollbringen
können, erfaßte erstmals das weite, ja unermeßliche Feld
konkreter Klänge.
Diese Konkretion der Montage ist bekanntlich unmittelbar nach Kriegsende zum
Eigennamen einer ganzen Musikart aufgestiegen. Weniger bekanntlich bleibt,
daß Pierre Schaeffers musique concrète auf der medientechnischen
Basis einer Kriegsbeute entstand. Ohne die vormagnetisierten Tonbänder der
BASF hätten weder Schaeffer noch der frühe Stockhausen ihr
musikalisches Neuland betreten können. Denn Bandaufnahmen erlauben nicht
nur, die Zeit zu verwürfeln; ihre durchregelbaren Laufgeschwindigkeiten
machen es auch möglich, die Mikrozeit des Hörens ganz so zu
manipulieren wie sonst nur der Film die Mikrozeit des Sehens. Zum erstenmal in
der Musikgeschichte waren Töne keine letzten unzerlegbaren Elemente mehr,
sondern Summen von lauter unerhörbaren Sekundenbruchteilen, die der
Komponist allesamt einzeln beschleunigt oder verlangsamt hatte.
In der E-Musik hat sich diese Tonbandzauberei, dieser Gesang der
Jünglinge im Feuerofen bald herumgesprochen. Aber nur ein einziges
Buch über Pop Musik erwähnt, daß ihre medientechnische
Ursprünge exakt dieselben waren. In seiner Geschichte der Abbey Road
Studios erwähnt Brian Southall "eine interessante Entwicklung, die bewies,
daß aus Gegnerschaft manchmal auch Gutes kommen kann. 1946 [nämlich]
flog eine Gruppe von Toningenieuren aus den USA und England, darunter auch
Berth Jones von Abbey Road, nach Berlin, um dort jene Magnetaufzeichnungen zu
studieren, die in Deutschland während des Krieges stattgefunden hatten.
Unter dem erbeuteten Kriegsgerät entdeckten sie ein Gerät mit
magnetischem Band, mit dem sich das Oberkommando der Wehrmacht an der
Entschlüsselung von Geheimcodes versucht hatte. Die dadurch gewonnenen
Informationen erlaubten es der EMI, jene berühmten Magnetbänder und
Tonbandgeräte auf den Markt zu bringen, die als British Tape Recorder dann
25 Jahre lang in den Abbey Road Studios liefen."[4]
Soviel zur Erinnerung an die Beatles auf ihrem Höhepunkt und Berlin auf
seinem Tiefpunkt, ohne der Popmusik damit einen anderen Ursprung andichten zu
wollen. Denn auch die Musik, die wir heute ehren, reicht in ihren Wurzeln (um
nicht roots zu sagen) in die Leinwandplantagen und Negerviertel der
amerikanischen Südstaaten zurück. Pop Musik gibt es seit dem Zweiten
Weltkrieg, als weiße Kinder, wenn sie am Radio drehten, zum erstenmal auf
den falschen Sender stoßen konnten: Die zahllosen Schwarzen, die der
Krieg in die Kriegsindustrie der Nordstaaten verschlagen hatte, mußten
auch in weißen Gegenden mit ihrem vertrauten Jazz versorgt werden. Und
doch ist die Pop Musik, wie wir sie heute ehren, unverwechselbar anders als
aller Jazz. Sie hat in Londoner Aufnahmestudios wie der berühmten Abbey
Road etwas gelernt, was keine Improvisation jemals vermochte: die Analyse oder
Zerlegung der musikalischen Zeit - als Komposition mit und auf einer Unzahl an
Tonbandgeräten. Was Schallplatte und Radio für den Jazz waren, sind
Bandmaschinen und HiFi-Qualität, Synthesizer und Computer für eine
Pop Musik geworden, die erst London und nicht schon New Orleans der Welt
geschenkt hat. Insofern ist und bleibt Musik die genaue Zeitgenossin eines
Maschinenparks, der im Fall Brian Enos zeitweise sage und schreibe
einunddreißig Tonbandgeräte gezählt haben soll. Nur hat gerade
der Milliardenerfolg der Pop Musik ihre Hörer, Konsumenten und Theoretiker
dazu verleitet, aus dieser Zeitgenossenschaft in archaische Träume zu
fliehen. Ausgebrochen sein soll eine Kultur der sekundären Oralität,
die das Schreiben, wo nicht gar das Sprechen fortan erspart. Dieser Traum aber
hat zur dramatischen Folge, daß ausnahmsweise auch Pop Musiker die
Sprache der Theorie oder Wissenschaft sprechen müssen.
"Wann immer" Brian Eno "über den Klang sprach", sprach er über "die
Unangemessenheit jener klassischen Sprachen, die Komponisten zu seiner
Beschreibung benutzt hatten. Denn die Entwicklung elektronischer Instrumente
und Aufnahmeverfahren hat eine Lage geschaffen, in der die ganze Frage des
Timbres, der physikalischen Qualität von Klängen, ein Ort
höchster kompositorischer Aufmerksamkeit geworden ist. Was die E-Musiker
verkennen oder zumindest unterschätzen, ist, daß ihre Sprache, die
Sprache der klassischen schriftlich niedergelegten Komposition, schlicht und
einfach keine Begriffe hat, um den Gitarrensound von Jimi Hendrix' Voodoo
Chile oder Phil Spectors Produktion von Da Doo Ron Ron zu
beschreiben."[5]
Eine Sprache für Sound, also für unvorhersehbare, unausdenkbare,
unvorstellbare akustische Ereignisse war aber auch das Tonbandgerät noch
nicht. Es bot mit seinen Knöpfen und Reglern, seinen Scheren und
Echoschleifen bestenfalls Elemente, um den chaotischen Innenraum von Maxwells
Dämon einigermaßen zu codieren. Erst Digitalcomputer bieten eine
Sprache für Sound, die all seine fraktalen Dimensionen zugleich analytisch
und synthetisch, elementar und konstruktiv erfaßt. Nicht umsonst erwog
schon Alan Turing, der 1936 ihrer aller Prinzipschaltung angegeben hat, die
Kriegsbeute namens Magnetband zur Speicherung digitaler Nullen und Einsen zu
mißbrauchen.[6] Nicht umsonst tasten
digitale Signalprozessoren die Musik in der Mikrozeit von
einundvierzigtausendsteln Sekunden ab, um ihre Signale wahrhaft, nämlich
jenseits menschlicher Ohren manipulieren zu können. Nicht umsonst
schließlich läuft Brian Enos vermutlich meistgehörte
Komposition in der Mikrozeit von dreieinviertel Sekunden: Sie ist Musik aus
Computern für Computer und trägt einen Titel, in dem vier von
fünf Wörtern als Copyright oder Trademark geschützt sind:
Microsoft Windows Ninety Five Sound.[7] Damit
ist nicht bloß die übliche Songlänge von dreieinhalb Minuten
digitalisiert und d.h. miniaturisiert. Damit macht wo schon kein
hochgefahrenes, so doch ein hochfahrendes Betriebssystem auch Spaß.
Die Kultur ist also wie ein Meteorit aus der Erhabenheit pythagoreischer
Geheimbünde in den Alltag von heute gestürzt. Sie hat sich, wie Eric
Satie und Brian Eno sagen würden, in Ambiente verwandelt. Was der Sound
immer schon war, nämlich ebenso allgegenwärtig wie unauffällig,
ist in der Popkultur auch noch auf den technischen Begriff gekommen. Nur
daß die Wissenschaft, ausgerechnet die Wissenschaft, daraus die
dümmste aller Lehren zieht. Ab sofort soll es niemand mehr angehen, was
einst der pythagoreische Geheimbund unter Intervallen und Sphärenharmonien
verstand oder was heute die Computerwissenschaft an Algorithmen und
Differentialgleichungen entwickelt. Denn der Endeffekt all solcher Theorien,
das musikalische Ambiente nämlich, geht zwar mehr oder minder, aber ganz
automatisch in die Beine. Also läuft die Wissenschaft selber zur
Seinsweise von Muzak über. Sie erweitert ihren ehedem elitären
Kulturbegriff so radikal, bis alle Katzen grau und alle Alltage Kulturen sind.
Sie bezieht ihren Begriff von Popkultur aus dem statistisch gemittelten
Sozialverhalten in Diskotheken und ihren eigenen Daseinsgrund aus einer
verklungenen Studentenrevolution, der Roxy Music einst in die Beine
fuhr.
Die Musik, die wir heute ehren, lehrt anderes. Sie lehrt frei nach Hegel,
daß eine Kultur nur so populär ist, wie sie sich in ihre
Technologien zu verlieren getraut. Daß die Musik heute mehr denn je in
die Beine fährt, verdankt sie Musikern, deren ganzes Denken in Computer
gefahren ist. Diese Entäußerung wird eine historische Schwelle der
Musikgeschichte gewesen sein, weil universale programmierbare Maschinen das
Denken selber verändern. Eine Erleuchtung so jäh wie jene, die
Pythagoras einst im Dröhnen der Schmiedehämmer erfahren haben soll,
überkommt die Musiker von heute: Alles was erklingt, ist programmierbar.
Und wir anderen können nur sagen, daß wir dabeigewesen sind.
[1] Georg Wilhelm Friedrich Hegel,
Ästhetik, hrsg. Friedrich Bassenge. Berlin-Weimar 1965, Bd. II, S. 276.
Vgl. auch S. 245.
[2] Hegel, Ästhetik, Bd.II, S.
277.
[3] Friedrich Nietzsche, Nietzsche contra
Wagner. Werke, hrsg. Karl Schlechta. München 1959-61, Bd. II, S.
1041.
[4] Brian Southall, Abbey Road: The Story of
the World's Most Famous Recording Studios. 1986, S. 137.
[5] Brian Eno, zit. nach: www, zu Eno siehe u.a.:
Eno-Archiv (allgemeine Information),
Nervenet (viele Interviews) oder
Enos Generative Music (Software).
[6] Vgl. Andrew Hodges, Alan Turing: The
Enigma. New York 1983, S. 314.
[7] Zitat Brian Eno.
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