Foreign Body Vol. 3:
Heidegger und das Tier
Michael Schumann
ABSTRACT
In jedem Falle sind die Lebewesen, wie sie sind, ohne daß sie aus
ihrem Sein als solchem her in der Wahrheit des Seins stehen und in solchem
Stehen das Wesende ihres Seins verwahren. Vermutlich ist für uns von
allem Seienden, das ist, das Lebe-Wesen am schwersten zu denken, weil es
uns einerseits in gewisser Weise am nächsten verwandt und andererseits
doch zugleich durch einen Abgrund von unserem ek-sistenten Wesen geschieden
ist.
Martin Heidegger, Brief über den Humanismus, 325 / 326.
DISTRACT
Die Deutung der Hand, der Gegensatz zwischen menschlichem Dasein und Tier,
beherrscht implizit oder explizit den gesamten Heideggerschen Diskurs [..]
Jedes Mal, wenn nach der Hand und nach dem Tier gefragt wird - Themen, die
sich nicht umgrenzen lassen -, scheint sich Heideggers Diskurs einer Rhetorik
zu beugen, die um so herrischer und um so stärker autoritär geprägt
ist, als sie eine Schwierigkeit, eine Verlegenheit verdeckt. Diese Rhetorik
läßt die Axiome des tiefsten metaphysischen Humanismus - ich
sage ausdrücklich: des tiefsten Humanismus - unangetastet, im Schutz
der Dunkelheit.
Jacques Derrida, Vom Geist: Heidegger und die Frage, 19 / 20.
I. INTROITUS
Wie nähert man sich der Heideggerschen Schrift und wie dem Heideggerschen
Schreiben? Das sind Fragen, die alle Besinnung auf Heidegger begleiten müssen,
die Antwort fordern von dem, der sich anschickt, dem Heideggerschen Denken
nachzudenken. Wie begegnet man Texten, die mit jeder Faser ihrer Textur
den Leser in Versuchung führen, ihn dazu verleiten wollen, sie aus-
und fortzuschreiben - Texten, in welchen eine Kraft zu wohnen scheint, die
es erlaubt, jede ihnen zugedachte Rede mühelos sich anzuverwandeln?
Was tut man? Hält man Abstand? Setzt man auf Entfernung? Oder soll
man vielleicht gar übersetzen, das Fremde, sofern man es vermag, in
den eigenen Diskurs hinüberschaffen und das, was widersteht, was Widerstand
leistet, in seiner Widerspenstigkeit flankiert von Gänsefüßchen
als gebändigtes Zitat vor Augen führen? Demnach Vorführung
statt Verführung? Bedenken stellen sich ein und sind wohl unvermeidbar.
Was aber ist die Antwort, was der zu gehende Weg?
Vielleicht gibt es sie gar nicht, weder Antwort noch richtigen Weg, vielleicht
sind all die sich aufdrängenden Fragen, die einen schon zu Beginn nicht
zu Wort kommen lassen, selbst noch Strategeme der Heideggerschen ecriture
, welche sich mit ihnen gegen allen Anschein in sich einschließt,
Finten und Listen, die die Einladung zum Weiterschreiben unterlaufen, es
unmöglich werden lassen und den Leser zwingen möchten, in stummem
Einverständnis zu bewundern oder in blinder Wut zu polemisieren gegen
das, was ihm immer schon voraus, schon überlegen ist. Eine Falle also,
die man zu umgehen hat? Kann man es? Man sollte einmal versuchen, das Fragen
und Entscheiden aufzuschieben, sich nicht abzugeben mit der Wahl, weder
vorzufuehren noch sich bloß verführen zu lassen. Man sollte einmal
versuchen anzufuehren, einen Streich zu spielen, dem Denker gleichsam den
Schelm ins Ohr und in die Schrift zu pflanzen und dort gewähren zu
lassen. Was hätte man gewonnen? Zumindest eines, den Anfang.
In diesem Sinne mag ein Text, der es mit so Vertracktem wie Heideggers Ausführungen
ueber Leben und Tierheit zu tun hat, einleitend einen urheideggerschen Gestus
imitieren und den eigenen etymologischen Schopfe packen, jedoch nicht, um
sich an diesem aus dem alltagssprachlichen Sumpf zu ziehen, sondern um sein
Anliegen und Treiben näher vorzustellen. Es wird darum gehen, etwas
zurückzutragen und etwas wiederzugeben, etwas wiederzuholen und zu
wiederholen. Genauer, es wird darum gehen, das Problem des Lebewesens in
all seiner Schärfe wieder in das Denken zurückzutragen, aus dem
das Heideggersche Schreiben und die Heideggersche Schrift es gleichsam hinausgetragen
haben. Es wird ferner darum gehen, den Lebewesen einen Reichtum wiederzugeben,
der jener ecriture in Armut zerflossen ist. Und schließlich
wird es darum gehen, eine Kritik zu wiederholen und in ihrer Aktualität
zu bestärken, die dem klassischen Besinnen auf Heidegger von Sinnen,
ja sogar in ihrer Vorliebe für Heimsuchungen von allen guten Geistern
verlassen dünkt.
Die Rede wird sein von Dekonstruktion,von Jacques Derrida, vom
Geist,der Handund vom Ende des Menschen. (1)
II. DER PARASIT
Zunächst zu Sein und Zeit! Was lebt in Sein und Zeit? Das, was nicht
da und nicht vorhanden ist. Lebendiges wird spärlich und nur dort in
den Blick genommen, wo es gilt, Schranken aufzurichten, etwas auszuschließen
und etwas reinzuhalten, vor Kontamination zu schueützen, vornehmlich
an zwei Orten: in der Absetzung der vorbereitenden Fundamentalanalyse von
anthropologischen, psychologischen und biologischen Fragestellungen, also
von den positiven Wissenschaften vom Menschen und vom Organismus (10), und
in der Wiederholung dieser Grenzziehung anläßlich der existenzialen
Klärung des Todes (49). Der Ton ist forsch, die Begriffe scheinen klar
umrissen, der Gedanke präsentiert sich bestimmt und mit Bestimmung:
Leben ist eine Seinsart für sich, "weder pures Vorhandensein,
noch aber auch Dasein." (2)
Leben umgrenzt "den Seinsbezirk, den wir als Tier- und Pflanzenwelt
kennen." (3) Gewiß,
auch Dasein läßt sich als Leben betrachten, doch verfehlt solche
Betrachtung das Wesen seines Seins. Dasein "ist ontologisch nie so
zu bestimmen, daß man es ansetzt als Leben [..] und als überdies
noch etwas anderes." (4) -
Lebendiges bedarf vielmehr einer eigenen - obgleich nicht eigenständigen
- Sichtung, seine Weise zu sein ist "auf dem Wege reduktiver Privation
aus der Ontologie des Daseins aufzurollen." aufzurollen."
(5)
Heideggers Anliegen spricht sich nicht aus, ist aber leicht rekonstruierbar.
Er möchte im Rahmen der Destruktion der Geschichte der Ontologie und
des auf die Moderne überkommenen cartesianischen Erbes mit der Subjekt/Objekt-Differenz
auch die Differenz von Denken und Materie, in der das Leben als ausgeschlossenes
eingeschlossenes Drittes immer schon sein (Un-)Wesen getrieben hat hat (6), überwinden, allerdings ohne
dabei den Aporien der Lebensphilosophen zu verfallen, von deren anfänglichem
Einfluß auf ihn er sich gerade abzusetzen anschickt.
(7) Der binären Opposition und ihrem Parasiten
stellt er daher die Triade Dasein-Leben-Vorhandensein entgegen, in welcher
das Leben - allem Anschein nach in einer ihm eignenden Würde restituiert
- nun inter pares vor das Denken kommt. Allein, denken läßt
es sich gerade nicht in Sein und Zeit, weder in privativer Orientierung
am Dasein noch in der Ausrichtung am bloß Vorhandenen. Das Leben,
das Lebendige, entzieht sich und ist wesentlich entzogen, ist das, was Kategorien
und Existenzialien zu greifen verwehrt bleibt, was sie nicht fassen koennen,
sich nicht fassen läßt, mithin das Unfaßbare.
(8) Als solches bleibt es präsent, an der Peripherie,
an der Grenze, gegenwärtig in seiner Abwesenheit, Markierung einer
Ferne, deren ontologische Unheimlichkeit nicht in ontische Nähe aufgelöst
werden kann.
Leben - ein Störenfried, der das Denken heimsucht und es
aus der Ruhe bringt?
Ruhelosigkeit, dies ist gelegentlich bemerkt worden,
(9), ist in der Tat ein recht auffallender Zug an Sein
und Zeit, der ungeachtet all ihrer gedanklichen Eleganz und begrifflichen
Strenge die Schrift über lange Strecken hinweg prägt. Es mutet
an, als ob das Denken, das sich in ihr auf den Weg gemacht hat, von einer
eigentümlichen Getriebenheit vorangetrieben werde, unermüdlich
nach dem Sinn von Sein schürfend, hastet und prescht es der Eigentlichkeit
des Daseins entgegen. Was freigelegt wird und nicht zu verwerten ist, wird
abgelegt, am Wegesrand, zur späteren Erledigung. So auch das Leben.
Doch das Leben kehrt wieder, steigt auf und macht sich gleichfalls auf den
Weg. Unterwegs wird es Gespenst, zum Schatten, der sich dem enteilenden
Denken an die Fersen heftet, ihm folgt, es verfolgt und es gleichsam an
den Rockschößen zu halten trachtet. Dazu braucht es zwei lange
Jahre. Schließlich kommt es aber zur Begegnung. Ort und Zeit: das
winterliche Freiburg im Semester 1929/30. Die Bühne: das Katheder.
Das Stück: eine Vorlesung, Die Grundbegriffe der Metaphysik.
Es treten auf: das Denken, das Dasein und das Tier. Listener discretion
is advised.
III. AM ABGRUND
Erhellt werden soll der Begriff der Welt und zwar am Leitfaden dreier Thesen.
Diese sind: "Der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch
ist weltbildend" (vgl. 42). Tradition und communis opinio, so
heißt es in gewohnter Manier, umlagern und verfälschen die Frage
nach dem Lebendigen und seiner Differenz zum bloß Vorhandenen und
zum Dasein. Gegen Biologismus und Anthropomorphismus sowie ihre politischen
Derivate gilt es, dem Leben, welches hier verkürzt auf die Tierheit
in Erscheinung tritt, "sein eigenständiges Recht zurueckzugeben"
und es von ihm selbst her "in seinem Wesensgehalt" zu sichern
(vgl. 45b). Das heißt konkret, daß das Verhältnis von Weltlosigkeit,
Weltarmut und Weltbildung nicht im Sinne eines graduellen Unterschieds verstanden
werden darf. Herder läßt grueßen. Welt ist nicht Summe
oder Grad der Zugänglichkeit von Seiendem (vgl. 46).
Auf verschlungenen, gut zwanzig Paragraphen umfassenden Pfaden und mit den
üblichen feingliedrigen Begriffsverästelungen bastelt Heidegger
im folgenden an einem phänomenologischen Aufweis der Tierhaftigkeit
des Tiers. Dabei kommen auch die positiven Wissenschaften zur Sprache, werden
biologische Erkenntnisse zum Ganzheitscharakter des Organismus und seiner
Verflechtung mit einer ihm zugehörigen Umwelt herangezogen, und es
werden Tierversuche befragt, die, einmal ins rechte Licht gerueckt, gestatten
sollen, die Tierheit selbst noch aus dem Sein der Insekten zu ent/wickeln.
Das Wesen des Tieres wird alsdann bestimmt als Benommenheit (vgl. 58b).
Und die Benommenheit des Tieres besteht darin, daß ihm die Möglichkeit
der Offenbarkeit von Seiendem als Seiendes genommen und es damit in die
Hingenommenheit durch sein Treiben und die Eingenommenheit in den Ring,
in das Ganze der es umtreibenden Triebe entlassen ist (vgl. 61a). Das Tier,
obgleich es sich wesentlich auf etwas bezieht (das seine Triebe Enthemmende),
hat demnach dennoch für sich keinerlei Bezug zum Seienden. Darin liegt
seine wesenhafte Armut, die von der das "Als" der Auslegung fundierenden
Privation, um eine Wendung Heideggers aufzugreifen, "durch einen Abgrund"
geschieden ist. (10)
Abgrund, Armut, Benommenheit, Entbehrung, Leid. Wer spricht, wer schreibt,
wenn das Tier in den Text tritt? Ein Dasein, ein Denken? Was für ein
Denken? Ein Denken des Tieres, ein Denken des Menschen? Läßt
sich unterscheiden? Wieder eine Unruhe, die Fragen aufwirft, etwa die nach
Herkunft und Legitimation der Axiologie, welche Heideggers Begriffswahl
zu leiten scheint und die so gar nicht zur postulierten Wiedereinsetzung
des Lebendigen in sein Recht auf Alterität passen will. Oder die nach
der merkwürdigen Korrespondenz, die sich zwischen der in Sein und Zeit
vorgelegten Daseinsanalytik und der nun in Angriff genommenen "abbauenden
Betrachtung" des Lebens einzustellen beginnt. Hier wie dort das Zuschlagen
der Möglichkeit bzw. Fähigkeit zum Wesen des betrachteten Seienden.
Hier wie dort das Vorherrschen der topologischen Metapher. Wie das Dasein
in der Lichtung stehend diese ist, ist das Tier treibend der Umring seiner
Triebe. (11) Und endlich die
Frage nach dem Abgrund! Das Denken begegnet dem von ihm heraufbeschworenen
und herangerückten Schatten erneut mit einer Grenze. Diesmal allerdings
mit einer abgründigen, unüberbrückbaren. Allein, nicht bloß
das Gespenst, auch das Denken steht am Abgrund. Und wie leicht machen einen
Abgründe schwindeln! Ein falscher Schritt nur, eine unbedachte Bewegung,
und schon kann es um das Denken geschehen sein ...
IV. LEBENSRÄTSEL
Doch welche Wege Heidegger von nun an auch gehen wird, welche Fragen er
auch immer dem Denken vorzulegen gedenkt, am Gedanken des Abgrunds wird
er festhalten, ihn wird er "nicht und nie" in Frage stellen. Dabei
ist das Problem des Lebens und der Tierheit für ihn keineswegs erschöpfend
behandelt, abgehandelt. Auch nach den Grundbegriffen kehrt es wieder, stets
am Rande, aber gleichwohl einen Faden spinnend, an welchem sich mehrere,
sonst sehr divergente Texte aufreihen lassen. So wird in der Einführung
in die Metaphysik (1935) - nunmehr ist der Geist, ein anderer Geist, in
die Welt gefahren - das zum Tier bereits Gesagte noch verschärft, dem
Lebenden jedwede Welt versagt: "Welt ist immer geistige Welt. Das Tier
hat keine Welt, auch keine Umwelt". (12)
Und bekannt ist wohl auch die Rolle des Tieres in den Vorlesungen der Jahre
1951/1952, in der Fassung des Denkens als Hand-Werk und im Denken der Hand:
"Die Hand ist von allen Greiforganen: Tatzen, Krallen, Fängen,
unendlich, d.h. durch einen Abgrund des Wesens verschieden."
(13) Jacques Derrida hat auf diese und ähnliche
Passagen wie auch auf die im wahrsten Sinne des Wortes frag/würdigen
Voraussetzungen und Folgen der Privilegierung des Handlichen und Handwerklichen
in Heideggers Denken aufmerksam gemacht. (14)
Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang allerdings ein früherer
Text - 1946 verfaßt als Gruß aus der Armut, als Antwort aus
Trümmern -, keine Postkarte, sondern gleich ein Brief von beträchtlicher
Länge, Heideggers Schrift über den Humanismus. Grundlegende Themen
aus Sein und Zeit, die Cartesianismus- und Anthropologiekritik, werden dort
wieder aufgegriffen, werden in Abhebung vom französischen Existenzialismus
oder dem, was Heidegger dafür hält, präzisiert und mit neuer
Sprachgewandtheit präsentiert. Im Blickfeld steht das Denken des Menschen,
über den Menschen, vom Menschen her, das sich für Heidegger nun
nahtlos in den Traditionsstrang abendländischen Philosophierens fügt,
den er mit dem mittlerweile abgewerteten Begriff der Metaphysik belegt hat.
"Jeder Humanismus", schreibt er, "gründet entweder in
einer Metaphysik oder er macht sich selbst zum Grund einer solchen."
(15) Jede Definition, jede essentielle Bestimmung
des Daseins als Subjekt, Leib und Seele, vernunftbegabtes Tier oder mit
Sprache versehenes Gesellschaftswesen schleppt einen Sack voll metaphysischer
Philosopheme mit sich, trübt den Blick und verfehlt die Art und Weise,
in der Dasein ist, tut dieser Zwang, tut ihr Gewalt an, vergewaltigt. Mehr
noch, jedes Denken, das dem Dasein einen Vorrang vor dem Sein, ein Recht,
einen Anspruch dem Sein gegenüber zuspricht, geht nach Heidegger gleichfalls
fehl, bleibt ebensosehr traditionsverhaftet. Kurzum, der Anthropozentrismus
wird verdächtig. Er rückt ins Zwielicht. Ihm gilt es zu begegnen,
das Denken muß sich von ihm trennen.
Und nun geschieht etwas Merkwürdiges und Bezeichnendes. Wie in den
Grundbegriffen sich das Denken in den Gedanken des Lebewesens legte vornehmlich,
um das Phänomen der Welt zu konturieren, so wird Lebendiges jetzt erneut
in den Dienst genommen, bedient man sich seiner, um die Unzulänglichkeit
der Humanismen aufzuweisen und ex negativo das Denken eines wahren, echten,
reinen Menschentums zu postulieren. "Gegen den Humanismus wird gedacht,"
heißt es, "weil er die Humanitas des Menschen nicht hoch genug
ansetzt." (16) "Sind
wir überhaupt auf dem rechten Wege [..]," fragt man, "wenn
wir den Menschen und solange wir den Menschen als ein Lebewesen unter anderen
gegen Pflanze, Tier und Gott abgrenzen?" (17)
"Die Metaphysik", wird schließlich gescholten, "denkt
den Menschen von der animalitas her und denkt nicht zu seiner humanitas
hin."hin." (18) Eine
kuriose, eine rätselhafte Strategie der sich verschränkenden Schranken!
Die vom Humanismus um den Anthropos gezogene Grenze, die diesen erst begründet,
ist noch nicht Grenze genug, muß erst Abgrund werden, der er es dann
ermöglichen soll, den Humanismus selbst zu überwinden, zwischen
ihm und dem eigentlichen Denken des Daseins neue Grenzen zu ziehen, den
metaphysischen Ab- und Verschluß in einen Aufschluß zu verwandeln,
in umgrenzte Offenheit für die Ankunft des vom Sein geschickten Seienden.
Bei all dem ist unschwer zu erkennen, daß auch in solchem Denken des
Daseins etwas vom Humanismus, etwas Metaphysisches verbleibt bzw. wiederkehrt:
dogmatisches Festhalten an einer Ökonomie der Grenze. Das Lebendige,
das Tier, auf dessen Rücken hier verhandelt wird, scheint also auch
imstande, anderes Gespenst werden zu lassen.
- Aber
- vielleicht
- sind
- all
- die
- Wiederkehrer
- ja
- insgeheim
- Verwandte,
- Brüder im Geiste,
- sozusagen.
V. FAR AWAY, SO CLOSE
Woraus speist und nährt sich dieses Insistieren auf der Grenze? Woher
stammt eigentlich die Beharrlichkeit, mit der Heidegger die Tierheit als
distinkte Seinsweise zu denken sucht? Diese Fragen finden sich bereits bedacht
an einem Ort, der sich auch einer Heimsuchung verdankt, an dem gleichfalls
Gespenster umgehen, nur andere: der Geist Vietnams, der Geist des Widerspruchs,
in einem Aufsatz Derridas zum Ende des Menschen, der im Mai 1968 entstanden
ist. Dort ist unter anderem die Rede von den Spuren einer eigentümlichen
Magnetisierung, die in Heideggerschen Texten das Denken der Eigentlichkeit
des Daseins und das Denken der Warheit des Seins in einer Semantik der Nähe
und der Selbstpräsenz zusammenführt. (20)
Bereits in Sein und Zeit unterwirft sich das Denken dieser Attraktion,
in der Wahl des ausgezeichnet Seienden, das sich ontisch je das Nächste
ist, wie in der Durchführung der Existenzialanalytik als Rück-
und Heimführung Daseins aus ontologischer Ferne. (20) Sicht, Stimme
und Gehör, Lichtung, Leuchten und Erhellung, Nachbarschaft, Behausung,
Haus, Anwesen und Versammlung, immer sind es ähnliche Markierungen,
immer sind es Metaphern einer unbefragt bejahten Gegenwart, die das Heideggersche
Denken regeln, Zeichen einer Nähe des Daseins zu sich selbst und zum
Sinn von Sein. Erst im Dasein - und nur im Sein des Da - kommt das Sein
selbst zu sich, gelangt es zu sich selbst. Sein und Dasein sind zusammen
im Geheimnis, sind Verbündete in ausgezeichneter Verbindung:
...Dial B for Being!... (21)
Dieses Dasein, das kein Wer und kein Was, das nicht Subjekt und nicht Person
ist, welches - in der Sprache als dem Haus des Seins wohnend - ek-sistierend
"der Wahrheit des Seins, sie hütend, gehoert"
(22), dieses Dasein, daran läßt spätestens
der "Brief ueber den Humanismus" keinen Zweifel mehr, ist wenn
nicht der Mensch der Tradition, so doch nichts anderes als der Mensch.Mensch. (23) Und dieser Mensch wird
vorgestellt zugleich als Besitz und als Besitzer, besessen vom Sein und
im Nahen des Seins sich zu eigen. Aber gerade solches Denken des Seins und
der Nähe als Eigentum, zusammengenommen mit dem Denken in Bezügen
von Ort und Erscheinung, zwingt zu einem Denken der Grenze, das sich durch
nichts auszuweisen vermag, das in seiner konkreten Füllung auf ein
positives Wissen rekurrieren muß, welches es, zumindest im Denken
des Daseins, fernzuhalten sich sonst stets genötigt sieht. Die Frage,
die Derrida hieran anknüpfend Heidegger 1968 gestellt hat, die Frage,
ob nicht möglicherweise gerade "diese Sicherheit des Nahen, diese
gemeinsame Zugehörigkeit und Eigentlichkeit des Namens des Menschen
und des Namens des Seins, wie sie in der Sprache des Okzidents, in ihrer
oikonomia , wohnt und bewohnt wird" gegenwärtig ins Wanken
gerate gerate (24), diese Frage
hat noch nichts an Aktualität verloren. Im Gegenteil, sie verdient,
wieder und wieder gehört zu werden. Abschließend zur Sprache
gekommen, vermag sie vielleicht, so vorgeführt, den einen oder anderen
anzuführen.
VI. PFOTEN/NOTEN
- 1. Jacques Derrida, Vom Geist: Heidegger und die
Frage (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992); "Geschlecht: Sexuelle Differenz,
ontologische Differenz" und "Heideggers Hand (Geschlecht II)",
beide in: J.D., Geschlecht (Heidegger) (Wien: Passagen-Verlag, 1988), S.
11-43 bzw. 45-99; "Fines hominis", in: J.D., Randgänge der
Philosophie, hg. Peter Engelmann (Wien: Passagen-Verlag, 1988), S. 119-141.
- Zurück zum Text.
- 2. Martin Heidegger, Sein und Zeit (Tuebingen: Niemeyer,
1986), S. 50. - Zurück zum Text.
- 3. Ebd., S. 246. - Zurück zum Text.
- 4. Ebd., S. 50. - Zurück zum Text.
- 5. Ebd., S. 194. - Zurück zum Text.
- 6. "Der Begriff des Lebens", schreibt
Josef Simon, "ist der Begriff, der das an dieser Dichotomie [von Denken
und Materie] orientierte europäische Philosophieren als Grenzbegriff
begleitet. Die weder als reine Selbst- noch als reine Fremderfahrung zu
begreifende Erfahrung des Lebens weist den so konzipierten Begriff des Denkens
wie des Gegenstandes als ungenuegend aus." J.S., "Leben",
in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hg. Hermann Krings, Hans Michäl
Baumgartner und Christoph Wild. Bd. II (Muenchen: Koesel, 1973), S. 849.
- Zur Figur des Parasiten in der Logik binärer Oppositionen vgl. Michel
Serres, Der Parasit (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987), S. 41-45. - Zurück
zum Text.
- 7. Zu Heideggers Verhältnis zur Lebensphilosophie
vgl. David F. Krell, Daimon Life: Heidegger and Life-Philosophy (Bloomington:
Indiana University Press, 1992); Michael Großheim, Von Georg Simmel
zu Martin Heidegger: Philosophie zwischen Leben und Existenz (Bonn: Bouvier,
1991). - Zurück zum Text.
- 8. Vgl. Derrida, Vom Geist, S. 69, und "Geschlecht:
Sexuelle Differenz, ontologische Differenz", in: Geschlecht (Heidegger),
S. 37/38. - Zurück zum Text.
- 9. Vgl. G. Figal, Heidegger zur Einfuehrung (Hamburg:
Junius, 1992), S. 52. - Zurück zum Text.
- 10. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 149, und
Derrida, Vom Geist, S. 63. Zu Heideggers Rede vom "Abgrund" vgl.
seine Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt-Endlichkeit-Einsamkeit,
hg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Gesamtausgabe, Bd. 29/30 (Frankfurt/M.:
Klostermann, 1983), S. 384 und 409. - Zurück zum Text.
- 11. Die begrifflichen "Entsprechungen"
greifen weiter, die Signifikantenstränge verweben, verwirren und verknoten
sich. Auch am Dasein wird sich bald Armut zeigen: die Armut des Hirten,
als welcher das Dasein berufen, das Sein zu hueten. Vgl. Heidegger, "Brief
ueber den Humanismus", in: M.H., Wegmarken, hg. Friedrich-Wilhelm von
Herrmann, Gesamtausgabe, Bd. 9 (Frankfurt/M.: Klostermann, 1976), S. 342.
- Zurück zum Text.
- 12. Heidegger, Einfuehrung in die Metaphysik (Tuebingen:
Niemeyer, 1976), 54. - Zurück zum Text.
- 13. Heidegger, Was heißt Denken? (Tuebingen:
Niemeyer, 1984), S. 51. - Zurück zum Text.
- 14. Vgl. Derrida, "Heideggers Hand (Geschlecht
II)", in: Geschlecht (Heidegger), S. 70: "Mehr oder weniger direkt,
auf eine mehr oder weniger sichtbare Weise, spielt die Hand oder das Wort
Hand eine unermeßliche Rolle in der gesamten Heideggerschen Begrifflichkeit
seit Sein und Zeit, insbesondere in der Bestimmung der Gegenwärtigkeit
ueber den Modus der Vorhandenheit oder der Zuhandenheit." Ebd, S. 64:
"Diese Strategie zeitigt zweifelhafte Wirkungen, daran besteht kein
Zweifel: sie oeffnet einer archaisierenden Rueckwendung hin zum ländlichen
Handwerk Tür und Tor und denunziert das Gewerbe beziehungsweise das
Kapital - und womit diese Bezeichnungen damals assoziiert wurden, ist ja
wohl bekannt. Des weiteren wird zusammen mit der Arbeitsteilung auf diese
Weise implizit dies, was man intellektuelle Arbeit nennt, in Mißkredit
gebracht." Ebd., S. 78: Es wird "ersichtlich, wie um die Hand
und das Wort herum und mit einer stark ausgeprägten Kohärenz all
jene Züge organisiert werden, auf deren unaufhörliche Wiederkehr
ich an anderer Stelle unter dem Namen des Logozentrismus und des Phonozentrismus
aufmerksam gemacht habe. Welche lateralen und marginalen Motive es auch
immer sein mögen, die gleichzeitig darin arbeiten und wirken, so wird
doch ein bestimmter, strikt durchgehaltener Diskurs Heideggers von Logozentrismus
und Phonozentrismus beherrscht - und dies seit der Wiederholung der Frage
nach dem Sinn von Sein, der Destruktion der klassischen Ontologie, der existenzialen
Analytik und ihrer Neuverteilung der (existenzialen und kategorialen) Bezüge
zwischen Dasein, Vorhandensein und Zuhandensein." - Zurück zum
Text.
- 15. Heidegger, "Brief über den Humanismus",
in: Wegmarken, S. 321. - Zurück zum Text.
- 16. Ebd., S. 330. - Zurück zum Text.
- 17. Ebd., S. 323. - Zurück zum Text.
- 18. Ebd., S. 323. - Zurück zum Text.
- 19. Derrida, "Fines hominis", in: Randgänge
der Philosophie, S. 131-133. - Zurück zum Text.
- 20. Ebd., S. 134/135. - Zurück zum Text.
- 21. Vgl. Avital Ronell, The Telephone Book: Technology,
Schizophrenia, Electric Speech (Lincoln: University of Nebraska Press, 1989).
- Zurück zum Text.
- 22. Heidegger, "Brief über den Humanismus",
in: Wegmarken, S. 333. - Zurück zum Text.
- 23. Vgl. Derrida, "Fines hominis", in:
Randgänge der Philosophie, S. 134. - Zurück zum Text.
- 24. Ebd., 138. - Zurück zum Text.
This compilation © Peter Krapp 1994 - 1996
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