Foreign Body Vol. 3:

Heidegger und das Tier

Michael Schumann

ABSTRACT

In jedem Falle sind die Lebewesen, wie sie sind, ohne daß sie aus ihrem Sein als solchem her in der Wahrheit des Seins stehen und in solchem Stehen das Wesende ihres Seins verwahren. Vermutlich ist für uns von allem Seienden, das ist, das Lebe-Wesen am schwersten zu denken, weil es uns einerseits in gewisser Weise am nächsten verwandt und andererseits doch zugleich durch einen Abgrund von unserem ek-sistenten Wesen geschieden ist.

Martin Heidegger, Brief über den Humanismus, 325 / 326.

DISTRACT

Die Deutung der Hand, der Gegensatz zwischen menschlichem Dasein und Tier, beherrscht implizit oder explizit den gesamten Heideggerschen Diskurs [..] Jedes Mal, wenn nach der Hand und nach dem Tier gefragt wird - Themen, die sich nicht umgrenzen lassen -, scheint sich Heideggers Diskurs einer Rhetorik zu beugen, die um so herrischer und um so stärker autoritär geprägt ist, als sie eine Schwierigkeit, eine Verlegenheit verdeckt. Diese Rhetorik läßt die Axiome des tiefsten metaphysischen Humanismus - ich sage ausdrücklich: des tiefsten Humanismus - unangetastet, im Schutz der Dunkelheit.

Jacques Derrida, Vom Geist: Heidegger und die Frage, 19 / 20.

I. INTROITUS

Wie nähert man sich der Heideggerschen Schrift und wie dem Heideggerschen Schreiben? Das sind Fragen, die alle Besinnung auf Heidegger begleiten müssen, die Antwort fordern von dem, der sich anschickt, dem Heideggerschen Denken nachzudenken. Wie begegnet man Texten, die mit jeder Faser ihrer Textur den Leser in Versuchung führen, ihn dazu verleiten wollen, sie aus- und fortzuschreiben - Texten, in welchen eine Kraft zu wohnen scheint, die es erlaubt, jede ihnen zugedachte Rede mühelos sich anzuverwandeln? Was tut man? Hält man Abstand? Setzt man auf Entfernung? Oder soll man vielleicht gar übersetzen, das Fremde, sofern man es vermag, in den eigenen Diskurs hinüberschaffen und das, was widersteht, was Widerstand leistet, in seiner Widerspenstigkeit flankiert von Gänsefüßchen als gebändigtes Zitat vor Augen führen? Demnach Vorführung statt Verführung? Bedenken stellen sich ein und sind wohl unvermeidbar. Was aber ist die Antwort, was der zu gehende Weg?

Vielleicht gibt es sie gar nicht, weder Antwort noch richtigen Weg, vielleicht sind all die sich aufdrängenden Fragen, die einen schon zu Beginn nicht zu Wort kommen lassen, selbst noch Strategeme der Heideggerschen ecriture , welche sich mit ihnen gegen allen Anschein in sich einschließt, Finten und Listen, die die Einladung zum Weiterschreiben unterlaufen, es unmöglich werden lassen und den Leser zwingen möchten, in stummem Einverständnis zu bewundern oder in blinder Wut zu polemisieren gegen das, was ihm immer schon voraus, schon überlegen ist. Eine Falle also, die man zu umgehen hat? Kann man es? Man sollte einmal versuchen, das Fragen und Entscheiden aufzuschieben, sich nicht abzugeben mit der Wahl, weder vorzufuehren noch sich bloß verführen zu lassen. Man sollte einmal versuchen anzufuehren, einen Streich zu spielen, dem Denker gleichsam den Schelm ins Ohr und in die Schrift zu pflanzen und dort gewähren zu lassen. Was hätte man gewonnen? Zumindest eines, den Anfang.

In diesem Sinne mag ein Text, der es mit so Vertracktem wie Heideggers Ausführungen ueber Leben und Tierheit zu tun hat, einleitend einen urheideggerschen Gestus imitieren und den eigenen etymologischen Schopfe packen, jedoch nicht, um sich an diesem aus dem alltagssprachlichen Sumpf zu ziehen, sondern um sein Anliegen und Treiben näher vorzustellen. Es wird darum gehen, etwas zurückzutragen und etwas wiederzugeben, etwas wiederzuholen und zu wiederholen. Genauer, es wird darum gehen, das Problem des Lebewesens in all seiner Schärfe wieder in das Denken zurückzutragen, aus dem das Heideggersche Schreiben und die Heideggersche Schrift es gleichsam hinausgetragen haben. Es wird ferner darum gehen, den Lebewesen einen Reichtum wiederzugeben, der jener ecriture in Armut zerflossen ist. Und schließlich wird es darum gehen, eine Kritik zu wiederholen und in ihrer Aktualität zu bestärken, die dem klassischen Besinnen auf Heidegger von Sinnen, ja sogar in ihrer Vorliebe für Heimsuchungen von allen guten Geistern verlassen dünkt.
Die Rede wird sein von Dekonstruktion,von Jacques Derrida, vom Geist,der Handund vom Ende des Menschen. (1)

II. DER PARASIT

Zunächst zu Sein und Zeit! Was lebt in Sein und Zeit? Das, was nicht da und nicht vorhanden ist. Lebendiges wird spärlich und nur dort in den Blick genommen, wo es gilt, Schranken aufzurichten, etwas auszuschließen und etwas reinzuhalten, vor Kontamination zu schueützen, vornehmlich an zwei Orten: in der Absetzung der vorbereitenden Fundamentalanalyse von anthropologischen, psychologischen und biologischen Fragestellungen, also von den positiven Wissenschaften vom Menschen und vom Organismus (10), und in der Wiederholung dieser Grenzziehung anläßlich der existenzialen Klärung des Todes (49). Der Ton ist forsch, die Begriffe scheinen klar umrissen, der Gedanke präsentiert sich bestimmt und mit Bestimmung: Leben ist eine Seinsart für sich, "weder pures Vorhandensein, noch aber auch Dasein." (2) Leben umgrenzt "den Seinsbezirk, den wir als Tier- und Pflanzenwelt kennen." (3) Gewiß, auch Dasein läßt sich als Leben betrachten, doch verfehlt solche Betrachtung das Wesen seines Seins. Dasein "ist ontologisch nie so zu bestimmen, daß man es ansetzt als Leben [..] und als überdies noch etwas anderes." (4) - Lebendiges bedarf vielmehr einer eigenen - obgleich nicht eigenständigen - Sichtung, seine Weise zu sein ist "auf dem Wege reduktiver Privation aus der Ontologie des Daseins aufzurollen." aufzurollen." (5)

Heideggers Anliegen spricht sich nicht aus, ist aber leicht rekonstruierbar. Er möchte im Rahmen der Destruktion der Geschichte der Ontologie und des auf die Moderne überkommenen cartesianischen Erbes mit der Subjekt/Objekt-Differenz auch die Differenz von Denken und Materie, in der das Leben als ausgeschlossenes eingeschlossenes Drittes immer schon sein (Un-)Wesen getrieben hat hat (6), überwinden, allerdings ohne dabei den Aporien der Lebensphilosophen zu verfallen, von deren anfänglichem Einfluß auf ihn er sich gerade abzusetzen anschickt. (7) Der binären Opposition und ihrem Parasiten stellt er daher die Triade Dasein-Leben-Vorhandensein entgegen, in welcher das Leben - allem Anschein nach in einer ihm eignenden Würde restituiert - nun inter pares vor das Denken kommt. Allein, denken läßt es sich gerade nicht in Sein und Zeit, weder in privativer Orientierung am Dasein noch in der Ausrichtung am bloß Vorhandenen. Das Leben, das Lebendige, entzieht sich und ist wesentlich entzogen, ist das, was Kategorien und Existenzialien zu greifen verwehrt bleibt, was sie nicht fassen koennen, sich nicht fassen läßt, mithin das Unfaßbare. (8) Als solches bleibt es präsent, an der Peripherie, an der Grenze, gegenwärtig in seiner Abwesenheit, Markierung einer Ferne, deren ontologische Unheimlichkeit nicht in ontische Nähe aufgelöst werden kann.
Leben - ein Störenfried, der das Denken heimsucht und es aus der Ruhe bringt?
Ruhelosigkeit, dies ist gelegentlich bemerkt worden, (9), ist in der Tat ein recht auffallender Zug an Sein und Zeit, der ungeachtet all ihrer gedanklichen Eleganz und begrifflichen Strenge die Schrift über lange Strecken hinweg prägt. Es mutet an, als ob das Denken, das sich in ihr auf den Weg gemacht hat, von einer eigentümlichen Getriebenheit vorangetrieben werde, unermüdlich nach dem Sinn von Sein schürfend, hastet und prescht es der Eigentlichkeit des Daseins entgegen. Was freigelegt wird und nicht zu verwerten ist, wird abgelegt, am Wegesrand, zur späteren Erledigung. So auch das Leben. Doch das Leben kehrt wieder, steigt auf und macht sich gleichfalls auf den Weg. Unterwegs wird es Gespenst, zum Schatten, der sich dem enteilenden Denken an die Fersen heftet, ihm folgt, es verfolgt und es gleichsam an den Rockschößen zu halten trachtet. Dazu braucht es zwei lange Jahre. Schließlich kommt es aber zur Begegnung. Ort und Zeit: das winterliche Freiburg im Semester 1929/30. Die Bühne: das Katheder. Das Stück: eine Vorlesung, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Es treten auf: das Denken, das Dasein und das Tier. Listener discretion is advised.

III. AM ABGRUND

Erhellt werden soll der Begriff der Welt und zwar am Leitfaden dreier Thesen. Diese sind: "Der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend" (vgl. 42). Tradition und communis opinio, so heißt es in gewohnter Manier, umlagern und verfälschen die Frage nach dem Lebendigen und seiner Differenz zum bloß Vorhandenen und zum Dasein. Gegen Biologismus und Anthropomorphismus sowie ihre politischen Derivate gilt es, dem Leben, welches hier verkürzt auf die Tierheit in Erscheinung tritt, "sein eigenständiges Recht zurueckzugeben" und es von ihm selbst her "in seinem Wesensgehalt" zu sichern (vgl. 45b). Das heißt konkret, daß das Verhältnis von Weltlosigkeit, Weltarmut und Weltbildung nicht im Sinne eines graduellen Unterschieds verstanden werden darf. Herder läßt grueßen. Welt ist nicht Summe oder Grad der Zugänglichkeit von Seiendem (vgl. 46).

Auf verschlungenen, gut zwanzig Paragraphen umfassenden Pfaden und mit den üblichen feingliedrigen Begriffsverästelungen bastelt Heidegger im folgenden an einem phänomenologischen Aufweis der Tierhaftigkeit des Tiers. Dabei kommen auch die positiven Wissenschaften zur Sprache, werden biologische Erkenntnisse zum Ganzheitscharakter des Organismus und seiner Verflechtung mit einer ihm zugehörigen Umwelt herangezogen, und es werden Tierversuche befragt, die, einmal ins rechte Licht gerueckt, gestatten sollen, die Tierheit selbst noch aus dem Sein der Insekten zu ent/wickeln. Das Wesen des Tieres wird alsdann bestimmt als Benommenheit (vgl. 58b). Und die Benommenheit des Tieres besteht darin, daß ihm die Möglichkeit der Offenbarkeit von Seiendem als Seiendes genommen und es damit in die Hingenommenheit durch sein Treiben und die Eingenommenheit in den Ring, in das Ganze der es umtreibenden Triebe entlassen ist (vgl. 61a). Das Tier, obgleich es sich wesentlich auf etwas bezieht (das seine Triebe Enthemmende), hat demnach dennoch für sich keinerlei Bezug zum Seienden. Darin liegt seine wesenhafte Armut, die von der das "Als" der Auslegung fundierenden Privation, um eine Wendung Heideggers aufzugreifen, "durch einen Abgrund" geschieden ist. (10)

Abgrund, Armut, Benommenheit, Entbehrung, Leid. Wer spricht, wer schreibt, wenn das Tier in den Text tritt? Ein Dasein, ein Denken? Was für ein Denken? Ein Denken des Tieres, ein Denken des Menschen? Läßt sich unterscheiden? Wieder eine Unruhe, die Fragen aufwirft, etwa die nach Herkunft und Legitimation der Axiologie, welche Heideggers Begriffswahl zu leiten scheint und die so gar nicht zur postulierten Wiedereinsetzung des Lebendigen in sein Recht auf Alterität passen will. Oder die nach der merkwürdigen Korrespondenz, die sich zwischen der in Sein und Zeit vorgelegten Daseinsanalytik und der nun in Angriff genommenen "abbauenden Betrachtung" des Lebens einzustellen beginnt. Hier wie dort das Zuschlagen der Möglichkeit bzw. Fähigkeit zum Wesen des betrachteten Seienden. Hier wie dort das Vorherrschen der topologischen Metapher. Wie das Dasein in der Lichtung stehend diese ist, ist das Tier treibend der Umring seiner Triebe. (11) Und endlich die Frage nach dem Abgrund! Das Denken begegnet dem von ihm heraufbeschworenen und herangerückten Schatten erneut mit einer Grenze. Diesmal allerdings mit einer abgründigen, unüberbrückbaren. Allein, nicht bloß das Gespenst, auch das Denken steht am Abgrund. Und wie leicht machen einen Abgründe schwindeln! Ein falscher Schritt nur, eine unbedachte Bewegung, und schon kann es um das Denken geschehen sein ...

IV. LEBENSRÄTSEL

Doch welche Wege Heidegger von nun an auch gehen wird, welche Fragen er auch immer dem Denken vorzulegen gedenkt, am Gedanken des Abgrunds wird er festhalten, ihn wird er "nicht und nie" in Frage stellen. Dabei ist das Problem des Lebens und der Tierheit für ihn keineswegs erschöpfend behandelt, abgehandelt. Auch nach den Grundbegriffen kehrt es wieder, stets am Rande, aber gleichwohl einen Faden spinnend, an welchem sich mehrere, sonst sehr divergente Texte aufreihen lassen. So wird in der Einführung in die Metaphysik (1935) - nunmehr ist der Geist, ein anderer Geist, in die Welt gefahren - das zum Tier bereits Gesagte noch verschärft, dem Lebenden jedwede Welt versagt: "Welt ist immer geistige Welt. Das Tier hat keine Welt, auch keine Umwelt". (12) Und bekannt ist wohl auch die Rolle des Tieres in den Vorlesungen der Jahre 1951/1952, in der Fassung des Denkens als Hand-Werk und im Denken der Hand: "Die Hand ist von allen Greiforganen: Tatzen, Krallen, Fängen, unendlich, d.h. durch einen Abgrund des Wesens verschieden." (13) Jacques Derrida hat auf diese und ähnliche Passagen wie auch auf die im wahrsten Sinne des Wortes frag/würdigen Voraussetzungen und Folgen der Privilegierung des Handlichen und Handwerklichen in Heideggers Denken aufmerksam gemacht. (14)

Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang allerdings ein früherer Text - 1946 verfaßt als Gruß aus der Armut, als Antwort aus Trümmern -, keine Postkarte, sondern gleich ein Brief von beträchtlicher Länge, Heideggers Schrift über den Humanismus. Grundlegende Themen aus Sein und Zeit, die Cartesianismus- und Anthropologiekritik, werden dort wieder aufgegriffen, werden in Abhebung vom französischen Existenzialismus oder dem, was Heidegger dafür hält, präzisiert und mit neuer Sprachgewandtheit präsentiert. Im Blickfeld steht das Denken des Menschen, über den Menschen, vom Menschen her, das sich für Heidegger nun nahtlos in den Traditionsstrang abendländischen Philosophierens fügt, den er mit dem mittlerweile abgewerteten Begriff der Metaphysik belegt hat. "Jeder Humanismus", schreibt er, "gründet entweder in einer Metaphysik oder er macht sich selbst zum Grund einer solchen." (15) Jede Definition, jede essentielle Bestimmung des Daseins als Subjekt, Leib und Seele, vernunftbegabtes Tier oder mit Sprache versehenes Gesellschaftswesen schleppt einen Sack voll metaphysischer Philosopheme mit sich, trübt den Blick und verfehlt die Art und Weise, in der Dasein ist, tut dieser Zwang, tut ihr Gewalt an, vergewaltigt. Mehr noch, jedes Denken, das dem Dasein einen Vorrang vor dem Sein, ein Recht, einen Anspruch dem Sein gegenüber zuspricht, geht nach Heidegger gleichfalls fehl, bleibt ebensosehr traditionsverhaftet. Kurzum, der Anthropozentrismus wird verdächtig. Er rückt ins Zwielicht. Ihm gilt es zu begegnen, das Denken muß sich von ihm trennen.

Und nun geschieht etwas Merkwürdiges und Bezeichnendes. Wie in den Grundbegriffen sich das Denken in den Gedanken des Lebewesens legte vornehmlich, um das Phänomen der Welt zu konturieren, so wird Lebendiges jetzt erneut in den Dienst genommen, bedient man sich seiner, um die Unzulänglichkeit der Humanismen aufzuweisen und ex negativo das Denken eines wahren, echten, reinen Menschentums zu postulieren. "Gegen den Humanismus wird gedacht," heißt es, "weil er die Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt." (16) "Sind wir überhaupt auf dem rechten Wege [..]," fragt man, "wenn wir den Menschen und solange wir den Menschen als ein Lebewesen unter anderen gegen Pflanze, Tier und Gott abgrenzen?" (17) "Die Metaphysik", wird schließlich gescholten, "denkt den Menschen von der animalitas her und denkt nicht zu seiner humanitas hin."hin." (18) Eine kuriose, eine rätselhafte Strategie der sich verschränkenden Schranken! Die vom Humanismus um den Anthropos gezogene Grenze, die diesen erst begründet, ist noch nicht Grenze genug, muß erst Abgrund werden, der er es dann ermöglichen soll, den Humanismus selbst zu überwinden, zwischen ihm und dem eigentlichen Denken des Daseins neue Grenzen zu ziehen, den metaphysischen Ab- und Verschluß in einen Aufschluß zu verwandeln, in umgrenzte Offenheit für die Ankunft des vom Sein geschickten Seienden. Bei all dem ist unschwer zu erkennen, daß auch in solchem Denken des Daseins etwas vom Humanismus, etwas Metaphysisches verbleibt bzw. wiederkehrt: dogmatisches Festhalten an einer Ökonomie der Grenze. Das Lebendige, das Tier, auf dessen Rücken hier verhandelt wird, scheint also auch imstande, anderes Gespenst werden zu lassen.
Aber
vielleicht
sind
all
die
Wiederkehrer
ja
insgeheim
Verwandte,
Brüder im Geiste,
sozusagen.

V. FAR AWAY, SO CLOSE

Woraus speist und nährt sich dieses Insistieren auf der Grenze? Woher stammt eigentlich die Beharrlichkeit, mit der Heidegger die Tierheit als distinkte Seinsweise zu denken sucht? Diese Fragen finden sich bereits bedacht an einem Ort, der sich auch einer Heimsuchung verdankt, an dem gleichfalls Gespenster umgehen, nur andere: der Geist Vietnams, der Geist des Widerspruchs, in einem Aufsatz Derridas zum Ende des Menschen, der im Mai 1968 entstanden ist. Dort ist unter anderem die Rede von den Spuren einer eigentümlichen Magnetisierung, die in Heideggerschen Texten das Denken der Eigentlichkeit des Daseins und das Denken der Warheit des Seins in einer Semantik der Nähe und der Selbstpräsenz zusammenführt. (20) Bereits in Sein und Zeit unterwirft sich das Denken dieser Attraktion, in der Wahl des ausgezeichnet Seienden, das sich ontisch je das Nächste ist, wie in der Durchführung der Existenzialanalytik als Rück- und Heimführung Daseins aus ontologischer Ferne. (20) Sicht, Stimme und Gehör, Lichtung, Leuchten und Erhellung, Nachbarschaft, Behausung, Haus, Anwesen und Versammlung, immer sind es ähnliche Markierungen, immer sind es Metaphern einer unbefragt bejahten Gegenwart, die das Heideggersche Denken regeln, Zeichen einer Nähe des Daseins zu sich selbst und zum Sinn von Sein. Erst im Dasein - und nur im Sein des Da - kommt das Sein selbst zu sich, gelangt es zu sich selbst. Sein und Dasein sind zusammen im Geheimnis, sind Verbündete in ausgezeichneter Verbindung:
...Dial B for Being!... (21)
Dieses Dasein, das kein Wer und kein Was, das nicht Subjekt und nicht Person ist, welches - in der Sprache als dem Haus des Seins wohnend - ek-sistierend "der Wahrheit des Seins, sie hütend, gehoert" (22), dieses Dasein, daran läßt spätestens der "Brief ueber den Humanismus" keinen Zweifel mehr, ist wenn nicht der Mensch der Tradition, so doch nichts anderes als der Mensch.Mensch. (23) Und dieser Mensch wird vorgestellt zugleich als Besitz und als Besitzer, besessen vom Sein und im Nahen des Seins sich zu eigen. Aber gerade solches Denken des Seins und der Nähe als Eigentum, zusammengenommen mit dem Denken in Bezügen von Ort und Erscheinung, zwingt zu einem Denken der Grenze, das sich durch nichts auszuweisen vermag, das in seiner konkreten Füllung auf ein positives Wissen rekurrieren muß, welches es, zumindest im Denken des Daseins, fernzuhalten sich sonst stets genötigt sieht. Die Frage, die Derrida hieran anknüpfend Heidegger 1968 gestellt hat, die Frage, ob nicht möglicherweise gerade "diese Sicherheit des Nahen, diese gemeinsame Zugehörigkeit und Eigentlichkeit des Namens des Menschen und des Namens des Seins, wie sie in der Sprache des Okzidents, in ihrer oikonomia , wohnt und bewohnt wird" gegenwärtig ins Wanken gerate gerate (24), diese Frage hat noch nichts an Aktualität verloren. Im Gegenteil, sie verdient, wieder und wieder gehört zu werden. Abschließend zur Sprache gekommen, vermag sie vielleicht, so vorgeführt, den einen oder anderen anzuführen.

VI. PFOTEN/NOTEN

1. Jacques Derrida, Vom Geist: Heidegger und die Frage (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992); "Geschlecht: Sexuelle Differenz, ontologische Differenz" und "Heideggers Hand (Geschlecht II)", beide in: J.D., Geschlecht (Heidegger) (Wien: Passagen-Verlag, 1988), S. 11-43 bzw. 45-99; "Fines hominis", in: J.D., Randgänge der Philosophie, hg. Peter Engelmann (Wien: Passagen-Verlag, 1988), S. 119-141. - Zurück zum Text.
2. Martin Heidegger, Sein und Zeit (Tuebingen: Niemeyer, 1986), S. 50. - Zurück zum Text.
3. Ebd., S. 246. - Zurück zum Text.
4. Ebd., S. 50. - Zurück zum Text.
5. Ebd., S. 194. - Zurück zum Text.
6. "Der Begriff des Lebens", schreibt Josef Simon, "ist der Begriff, der das an dieser Dichotomie [von Denken und Materie] orientierte europäische Philosophieren als Grenzbegriff begleitet. Die weder als reine Selbst- noch als reine Fremderfahrung zu begreifende Erfahrung des Lebens weist den so konzipierten Begriff des Denkens wie des Gegenstandes als ungenuegend aus." J.S., "Leben", in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hg. Hermann Krings, Hans Michäl Baumgartner und Christoph Wild. Bd. II (Muenchen: Koesel, 1973), S. 849. - Zur Figur des Parasiten in der Logik binärer Oppositionen vgl. Michel Serres, Der Parasit (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987), S. 41-45. - Zurück zum Text.
7. Zu Heideggers Verhältnis zur Lebensphilosophie vgl. David F. Krell, Daimon Life: Heidegger and Life-Philosophy (Bloomington: Indiana University Press, 1992); Michael Großheim, Von Georg Simmel zu Martin Heidegger: Philosophie zwischen Leben und Existenz (Bonn: Bouvier, 1991). - Zurück zum Text.
8. Vgl. Derrida, Vom Geist, S. 69, und "Geschlecht: Sexuelle Differenz, ontologische Differenz", in: Geschlecht (Heidegger), S. 37/38. - Zurück zum Text.
9. Vgl. G. Figal, Heidegger zur Einfuehrung (Hamburg: Junius, 1992), S. 52. - Zurück zum Text.
10. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 149, und Derrida, Vom Geist, S. 63. Zu Heideggers Rede vom "Abgrund" vgl. seine Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt-Endlichkeit-Einsamkeit, hg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Gesamtausgabe, Bd. 29/30 (Frankfurt/M.: Klostermann, 1983), S. 384 und 409. - Zurück zum Text.
11. Die begrifflichen "Entsprechungen" greifen weiter, die Signifikantenstränge verweben, verwirren und verknoten sich. Auch am Dasein wird sich bald Armut zeigen: die Armut des Hirten, als welcher das Dasein berufen, das Sein zu hueten. Vgl. Heidegger, "Brief ueber den Humanismus", in: M.H., Wegmarken, hg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Gesamtausgabe, Bd. 9 (Frankfurt/M.: Klostermann, 1976), S. 342. - Zurück zum Text.
12. Heidegger, Einfuehrung in die Metaphysik (Tuebingen: Niemeyer, 1976), 54. - Zurück zum Text.
13. Heidegger, Was heißt Denken? (Tuebingen: Niemeyer, 1984), S. 51. - Zurück zum Text.
14. Vgl. Derrida, "Heideggers Hand (Geschlecht II)", in: Geschlecht (Heidegger), S. 70: "Mehr oder weniger direkt, auf eine mehr oder weniger sichtbare Weise, spielt die Hand oder das Wort Hand eine unermeßliche Rolle in der gesamten Heideggerschen Begrifflichkeit seit Sein und Zeit, insbesondere in der Bestimmung der Gegenwärtigkeit ueber den Modus der Vorhandenheit oder der Zuhandenheit." Ebd, S. 64: "Diese Strategie zeitigt zweifelhafte Wirkungen, daran besteht kein Zweifel: sie oeffnet einer archaisierenden Rueckwendung hin zum ländlichen Handwerk Tür und Tor und denunziert das Gewerbe beziehungsweise das Kapital - und womit diese Bezeichnungen damals assoziiert wurden, ist ja wohl bekannt. Des weiteren wird zusammen mit der Arbeitsteilung auf diese Weise implizit dies, was man intellektuelle Arbeit nennt, in Mißkredit gebracht." Ebd., S. 78: Es wird "ersichtlich, wie um die Hand und das Wort herum und mit einer stark ausgeprägten Kohärenz all jene Züge organisiert werden, auf deren unaufhörliche Wiederkehr ich an anderer Stelle unter dem Namen des Logozentrismus und des Phonozentrismus aufmerksam gemacht habe. Welche lateralen und marginalen Motive es auch immer sein mögen, die gleichzeitig darin arbeiten und wirken, so wird doch ein bestimmter, strikt durchgehaltener Diskurs Heideggers von Logozentrismus und Phonozentrismus beherrscht - und dies seit der Wiederholung der Frage nach dem Sinn von Sein, der Destruktion der klassischen Ontologie, der existenzialen Analytik und ihrer Neuverteilung der (existenzialen und kategorialen) Bezüge zwischen Dasein, Vorhandensein und Zuhandensein." - Zurück zum Text.
15. Heidegger, "Brief über den Humanismus", in: Wegmarken, S. 321. - Zurück zum Text.
16. Ebd., S. 330. - Zurück zum Text.
17. Ebd., S. 323. - Zurück zum Text.
18. Ebd., S. 323. - Zurück zum Text.
19. Derrida, "Fines hominis", in: Randgänge der Philosophie, S. 131-133. - Zurück zum Text.
20. Ebd., S. 134/135. - Zurück zum Text.
21. Vgl. Avital Ronell, The Telephone Book: Technology, Schizophrenia, Electric Speech (Lincoln: University of Nebraska Press, 1989). - Zurück zum Text.
22. Heidegger, "Brief über den Humanismus", in: Wegmarken, S. 333. - Zurück zum Text.
23. Vgl. Derrida, "Fines hominis", in: Randgänge der Philosophie, S. 134. - Zurück zum Text.
24. Ebd., 138. - Zurück zum Text.



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