Einmal ist Keinmal:

Das Wiederholbare und das Singuläre

Samuel Weber

I. Ich möchte meinen Vortrag durch zwei Zitate einführen, die, unter sich sehr verschieden, zusammengenommen den Raum abstecken dürften, worin und wodurch ich mich bewegen werde. Das erste besteht eigentlich aus zwei Stellen, dem Anfang und dem Ende jenes "vaterländischen Gesangs" Hölderlins, dessen Titel schon in die Richtung meines heutigen Themas deutet. "Der Einzige" hat Hölderlin zwei Jahre lang beschäftigt, von 1801 bis 1803. Drei Fassungen blieben davon, doch das Gedicht selbst wurde nie vollendet. Der Anfang aller drei Fassungen hebt aber immer wieder mit derselben Frage an:

Was ist es, das
An die alten seligen Küsten
Mich fesselt, daß ich mehr noch
Sie liebe, als mein Vaterland?
Man würde kaum übertreiben, wenn man behauptete, daß das Gedicht immer wieder auf diese Frage zu antworten versucht, und daß das Unvollendetsein des Gedichts, vielleicht auch des hölderlinschen Dichtwerks insgesamt, etwas über die Schwierigkeit andeutet, diese Frage zu beantworten. Wie dem auch sei, die letzte Verse der dritten Fassung scheinen sich mit der Möglichkeit eines gewissen Scheiterns auseinanderzusetzen:

[...] Immerdar
Bleibt dies, daß immergekettet alltag ganz ist
Die Welt. Oft aber scheint
Ein Großer nicht zusammenzutaugen
Zu Großem. Alle Tage stehn die aber, als an einem Abgrund
Neben dem andern. Jene drei sind aber
Das, daß sie unter der Sonne
Wie Jäger der Jagd sind oder
Ein Ackersmann, der atmend von der Arbeit
Sein Haupt entblößet, oder Bettler. Schön
Und lieblich ist es zu vergleichen. Wohl tut
Die Erde. Zu kühlen. Immer aber...
Vieles wäre dazu sagen... Viel zu viel für diesen Vortrag jedenfalls, der zugleich auch Anderes vorhat. Lassen wir also Hölderlins Frage und seinen zögernden, immer wieder neu ansetzenden Versuch einer Beantwortung einfach stehen wie einen Leuchter im Eingangssaal, und gehen wir zum zweiten Zitat, dessen ironischer Ton zwar unendlich weit von der zerrissenen Stimme Hölderlins zu sein scheint, der aber vielleicht gerade in seiner Verschiedenheit ein Licht auf jene Verse zurückwirft. Hier wie dort jedenfalls geht es um eine Frage oder ein "Problem":
Wie jeder weiß, trat Diogenes als Opponent auf, als die Eleaten die Bewegung leugneten. Er trat wirklich auf, denn er sagte nicht ein Wort, sondern ging nur ein paarmal hin und her, wodurch er jene ausreichend widerlegt zu haben glaubte. Als ich mich, zumindest gelegentlich, längere Zeit mit dem Problem beschäftigt hatte, ob eine Wiederholung möglich sei und welche Bedeutung diese habe, ob etwas durch Wiederholung gewinne oder verliere, fiel es mir plötzlich ein: Du kannst ja nach Berlin reisen, da bist du früher schon einmal gewesen, und nun überzeuge dich, ob eine Wiederholung möglich ist und was sie zu bedeuten hat. Bei mir zu Hause war ich mit diesem Problem nahezu ins Stocken geraten. Man sage darüber, was man will, es wird eine sehr wichtige Rolle in der neueren Philosophie spielen; denn Wiederholung ist der entscheidende Ausdruck für das, was bei den Griechen "Erinnerung" war. So wie diese damals lehrten, daß alles Erkennen ein Erinnern ist, so will die neue Philosophie lehren, daß das ganze Leben eine Wiederholung ist. Der einzige neuere Philosoph, der hiervon eine Ahnung hatte, ist Leibniz. Wiederholung und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnert. Deshalb macht die Wiederholung, wenn sie möglich ist, einen Menschen glücklich, während die Erinnerung ihn unglücklich macht, allerdings unter der Voraussetzung, daß er sich Zeit läßt zu leben und nicht sofort in seiner Geburtsstunde einen Vorwand sucht, sich wieder aus dem Leben herauszuschleichen, z.B. daß er etwas vergessen hat.1
Fragt der Sprecher in Hölderlins Gedicht nach der Macht und der Bedeutung dessen, was ihn zurück an jene "alten seligen Küsten" zieht und "fesselt", so kehrt Constantin Constantius die nostalgische Erinnerung gleichsam um: er will erproben, ob es möglich ist, Vergangenes als Künftiges zu erleben, nämlich, als Wiederholung. Und er verbindet diese Überlegung mit einer Feststellung, die eher wie eine Voraussage klingt: "So wie [die Griechen] lehrten, daß alles Erkennen ein Erinnern ist, so will die neue Philosophie lehren, daß das ganze Leben eine Wiederholung ist." Doch wenn "die neue Philosophie" dies lehren will, so steht trotzdem fest, daß "der einzige neuere Philosoph, der hiervon eine Ahnung hatte [...] Leibniz" sei. Könnte die neue Philosophie weniger einheitlich in dieser Hinsicht sein, als Kierkegaard zunächst behauptet?

Als eine erste Antwort auf diese Frage möchte ich einen anderen deutschen Philosophen anführen, der, obgleich keinesfalls zum Poststrukturalismus zu rechnen, nicht ohne Beziehung zu diesem Denken steht. Es geht um Karl-Heinz Haag und zwar um einen Text, der 1963 in einer Festschrift zum sechzigsten Geburtstag Theodor W. Adornos veröffentlicht wurde. Der Aufsatz heißt schlicht "Das Unwiederholbare". Auf zehn Seiten versucht er nichts weniger als die gesamte Geschichte des westlichen Denkens als Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine zusammenzufassen. Das Motiv, welches dem Text seinen Titel gibt, taucht erst auf der vorletzten Seite auf:

Die Versuche, den Chorismos von Allgemeinem und Besonderem aufzuheben, unterscheiden sich durch den Stand der Reflexion auf dessen Genesis. Seine Setzung war notwendig, wenn Natur rational faßbar werden sollte. Seit dieser Scheidung gibt es das Unwiederholbare. Es ist das, was dem Chorismos voranging. [...] Das Unwiederholbare stellt sich dar als das eine Besondere, das keinem Allgemeinen subsumierbar ist, oder vielmehr als das, was entschwindet, wenn es unters Allgemeine gefaßt wird. Noch weniger ist die Einzigkeit von Dingen unabhängig von ihrer begrifflichen Fixierung. Sie ist keine an sich seiende Qualität, sondern erscheint erst als Gegenteil des Allgemeinen, das sie nur als Nichtbegriffliches toleriert.2
Versucht man also, Unwiederholbares durch Benennung überhaupt kenntlich zu machen, wie etwa Haag es hier tun muß, so verrät man das Einzigartige an ihm durch die Verallgemeinerung, die an aller Namengebung haftet. Und dennoch weiß Haag als guter Hegelianer, daß solche Einzigartigkeit "keine an sich seiende Qualität" ist, sondern erst durch den Bezug auf Allgemeines bestimmt werden kann. Daher kann das Unwiederholbare nur erscheinen als etwas Entschwindendes. Begrifflich läßt es sich nur als Negation denken: als "Nichtbegriffliches", Nichtidentisches oder eben als Unwiederholbares: d.h. in unzertrennlichem Bezug auf Wiederholung.

Man sieht also, daß für Haag, ebenso wie für Konstantin Konstantius, die Welt durch Wiederholung beherrscht ist. Doch im Unterschied zu Kierkegaard schließt Haag in der Hoffnung auf ein "wahre Überwindung" des Wiederholens:

In seiner wahren Überwindung würden die Menschen erst zu dem, wofür die Ideologie der auf Wiederholung gestellten Welt sie schon ausgibt: zu dem, was je ein Einziges ist. (161)
"Was je ein Einziges ist"-mit diesen Worten schließt dieser Text, der wie kein anderer es fertigbringt, die kritische Theorie Adornos und Horkheimers in zehn Seiten auf ihren Begriff zu bringen. "Auf den Begriff bringen" aber heißt zugleich, verändernd über sich hinaustreiben. Wie dies geschieht, läßt sich aus dem gerade angeführten Schluß Haags ablesen, vorausgesetzt man sieht darin nicht allein eine Behauptung, sondern vor allem den Versuch, auf eine unausgesprochene Frage zu antworten. Diese Frage lautet: Ist je ein Einziges? Läßt sich Einziges, als Unwiederholbares, durch die Seinsweise des ist denken, d.h. als ein Etwas? Oder muß es nicht ganz anders gedacht werden? Schon Karl Heinz Haags eigene Einsicht, daß das Unwiederholbare nur "entschwindet, wenn es unters Allgemeine befaßt wird", läßt seine abschließende "Apotheose des Subjekts gegen die Zeit" als höchst fragwürdig erscheinen. Denn ohne Zeit kein Entschwinden, und ohne Entschwinden kein Unwiederholbares, da dieses keineswegs in Reinkultur sich erfahren läßt, sondern nur durch eine Verallgemeinerung, die es zugleich negiert. Das Unwiederholbare kann also nur als das Entschwinden des Wiederholbaren gedacht und erfahren werden - und dieses Entschwinden, so möchte man sagen, braucht seine Zeit.

II. Was hat dies alles mit mit der "Herausforderung" des Poststrukturalismus "an die Literaturwissenschaft" zu tun? Warum dieser Rückgriff auf einen exemplarischen Text der Frankfurter Schule, die bekanntlich mit dem Poststrukturalismus wenig im Sinne gehabt hat? Weil trotz der sehr wesentlichen Differenzen, die diese Denkrichtungen trennen, beide von einer gemeinsamen Erfahrung ausgehen: nämlich von der Nietzscheschen Auffassung einer konstitutiven Heterogenität des Denkens, die von diesem Denken selbst weitgehend kognitiv und moralisch verleugnet wird. In der gerade zitierten Text von Haag wird diese Verleugnung als die Tendenz der westlichen Philosophie dargestellt, das Besondere unter das Allgemeine zu subsumieren. Was aber der Text von Haag auszeichnet, ist die Tatsache, daß er das Problem der identifizierenden-kognitiven Subsumtion letztlich als eins der Wiederholung darstellt. Gewiß hatte Adorno längst vorher das Benjaminsche Motiv des "Immergleichen" zu einem Grundpfeiler seiner Kritik der Kulturindustrie ausgebaut. Doch während bei Benjamin das Immergleiche nur eine Spielart der Wiederholung darstellt - eine andere, weniger negativ besetzt, war eben die der Reproduzierbarkeit, woraus er seine Medienlehre entwickelte - fügt sich die Wiederholbarkeit bei Adorno ganz der Logik der Identität ein.3 Angesichts der doch recht eindimensionalen Auffassung der Wiederholung bei Adorno und Horkheimer ist es also alles andere als selbstverständlich, daß Haag gerade auf diesen Begriff zurückgreifen sollte - gewiß in negierter Form - um auf das Andere des erkennenden, verallgemeinernden Denkens hinweisen zu können. Das Singuläre als negative Funktion der Wiederholung bestimmt zu haben - darin liegt die vielleicht nicht ganz dialektisierbare Einsicht von Haags Text. Denn nicht erst der "Ideologie" einer "auf Wiederholung gestellten Welt" ist es anzukreiden, daß "die Menschen" noch nicht zu dem geworden sind, "was je ein Einziges ist"; wie Haag selbst schreibt, ist dieses Einzige je nie, weder als "an sich seiende Qualität" noch als in sich seiende Entität. Das Einzige kommt zu sich selbst höchstens als jene von Haag benannte Bewegung des Entschwindens, als das, was ins Allgemeine und Identische nicht aufgeht oder eingeht. Oder, anders gesagt, als das, was übrig bleibt und als unassimilierbarer Rest anderswohin verweist.

Erst durch die unaufhebbare Singularität eines derartigen Restes wird der "Chorismos von Möglichkeit und Wirklichkeit" zwar nicht überwunden, aber doch unterlaufen. Denn die Spuren, welche das Entschwinden des Einzigen zurückläßt, stellen nicht Keime einer zukünftigen Wirklichkeit dar, in der "die Menschen", von jeglicher Ideologie befreit, endlich zu sich kämen. Vielmehr ecken solche Spuren an, behalten etwas Überraschendes, das sich sogar logisch-grammatikalisch in dem äußerst raffinierten Sprung von Haags Schlußsatz spüren läßt, der von jenen "Menschen" handelt, die eines Tages tatsächlich "zu dem" werden sollen, "was je ein Einziges ist". Diese Hoffnung, daß "die Menschen" im Allgemeinen eines Tages zu "je" Einzigen werden könnten, läßt die Frage völlig offen, ob und wie ein Einziges je sein kann.

Der Poststrukturalismus ist in dem Maße zu einer Herausforderung geworden - für die Literaturwissenschaft gewiß, aber darüber hinaus auch für die Wissenschaft schlechthin - als er genau in dieser Frage insistiert. Man könnte diese Insistenz etwa in Derridas Schriften vom Anfang bis zu seinen neusten Veröffentlichungen leicht verfolgen, von der Dekonstruktion der Husserlschen "Idealität der Bedeutung" durch Hinweis auf die Ambivalenz der Wiederholung, über den Quasi-Begriff der "Iterierbarkeit" in der Auseinandersetzung mit Searle, bis zu der Herausarbeitung einer Spektralogie in seinem unlängst auf deutsch erschienenen Marx-Buch. Derridas Auseinandersetzung mit der Wiederholung und der Singularität hat aber ein praktisches Korrelat, welches sein Denken und Schreiben von denen anderer Poststrukturalisten emphatisch unterscheidet. Ich meine die bemerkenswerte Tatsache, daß sich sein Denken selten rein theoretisch oder begrifflich artikuliert, sondern fast immer nur durch die Lektüre einzelner Texte. Durch die Beschäftigung mit je einzelnen Texten wird das Motiv der Singularität nicht allein theoretisch, sondern eben praktisch bestimmend.

In Zusammenhang mit dieser Insistenz auf die Unaufhebbarkeit des Singularen gibt es nun eine Eigenschaft von Derridas Schreiben und Lesen, die bislang nicht genügend gewürdigt worden ist. Ich meine ihre Theatralik als Inszenierung des Anderen. Gewiß ist diese nicht ganz übersehen worden - das wäre ja auch schwierig - aber sie ist, wie ich meine, selten ernst genommen worden. Das heißt, die Theatralik der Dekonstruktion wurde entweder als Beweis ihres Unernstes gewertet oder als bloße Rhetorik abgetan. Dagegen möchte ich behaupten, daß erst eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser Theatralik das Neue und Andere dieses Denkens, Schreibens und Lesens angemessen wird deuten können. Das Neue hier schließt allerdings das Alte keineswegs aus. Denn wie wir sehen werden, führen die Dekonstruktion und der Poststrukturalismus eine Tradition fort, die erst im 19. Jahrhundert als solche hervortritt, die aber gewiß viel weiter zurückreicht. Diese Tradition hängt mit der Umwertung der Wiederholung zusammen, wie sie eben zunächst durch Kierkegaard unternommen wird. An diese Tendenz knüpft natürlich Nietzsche an, wenn er die Geschichte von Kratylus zitiert, der auf den berühmten Satz seines Meisters Heraklit, daß man nicht zweimal im selben Fluß eintauchen könne, gesagt haben soll: Auch nicht einmal. Denn, "einmal ist keinmal", wie Walter Benjamin schon wußte, als er diese Losung zum Titel einer Besinnung über die Beziehung von Erwartung und Erfüllung in der Erotik auswählte.

Einmal ist keinmal, wenn das eine Mal erst durch Wiederholung zu dem wird, was es "eigentlich" sein soll: etwas, das mit sich identisch ist und als solches erkennbar. Die englische Umgangssprache scheint von dieser Situation eine Ahnung zu haben. Denn auf Englisch "erkennt" man nicht, sondern kann nur "wiedererkennen": recognize. Das Wort "cognize" gibt es zwar auch, wird aber der technischen Sprache vorbehalten. Könnte hier der Volksmund gescheiter sein als der fachmännische?

Kehren wir aber für einen Augenblick zu Derrida zurück. Denn in seinen Schriften zeigt sich, daß die Wiederholung nicht allein als theoretisches Motiv auftritt, sondern praktisch wird als Theatralik seines Schreibens. Theatralik hier heißt nicht einfach spektakulär, sondern vor allem unerwartet. Etwas Vertrautes tritt auf, wird aber langsam unheimlich. Als Beispiel wähle ich den Anfang von Spectres de Marx. Das einleitende "Exordium" zeigt, wie etwas scheinbar Harmloses aus der Ordnung geraten kann. Es beginnt mit der Beschreibung eines merkwürdigen Auftritts:

Jemand, Sie oder ich, tritt auf und sagt: Ich möchte endlich lernen, endlich lehren, zu leben. (Quelqu'un, vous ou moi, s'avance et dit: je voudrais apprendre à vivre enfin. Spectres de Marx, Paris 1993, S. 13; dt. Marx' Gespenster, Frankfurt 1995, S. 9).
Es geht also um einen inszenierten Auftritt, die zugleich eine Spannung erstellt. Denn einerseits scheint die Aussage selbst banal, selbstverständlich, beinahe trivial. Andererseits wird es einem schnell deutlich, daß man eigentlich keine Ahnung hat, worum es hier gehen könnte. Denn es fehlen alle Orientierungsstützen: Wer ist es, der so unvermittelt nach dem Leben fragt? Derjenige, der davon erzählt - und man befindet sich hier vor einer Erzählung nicht weniger als einer Beschreibung oder Inszenierung - weiß offenbar nicht mal, ob er diese Frage ausgesprochen hat, oder jemand anders: wir, zum Beispiel ("Sie oder ich..."). Wegen dieser mangelnden Orientierung wird der Inhalt der Frage plötzlich fragwürdig:
Lernen und lehren, zu leben. Eine seltsame Parole (mot d'ordre). Wer sollte lernen? Von wem? Leben lehren, doch wen? Wird man es jemals wissen? Wird man jemals zu leben wissen? Und vor allem, was heißt "leben lehren und lernen"? Und warum "endlich"?
Unter dem Druck solchen wiederholten Fragens wird die vertraute Redewendung langsam unheimlich; sie hört auf, selbstverständlich zu sein, von dem Punkt an, wo sie nicht mehr in einen Kontext gestellt werden kann, der ihre Bedeutung gleichsam verbürgen würde. Auf sich gestellt, außerhalb eines bestimmten Kontextes - doch ein Kontext bleibt immer offen, und daher fehlbar und ungenügend - bildet diese Parole ohne Satz ein fast unverständliches Syntagma.

Das spezifische Theatralische ergibt sich hier aus dem Entzug jeglichen Kontextes; es gibt nichts mehr, das sich um eine Äußerung gleichsam schützend schließt und sie eindeutig bestimmt. Nicht, daß es keine Kontexte gäbe. Es gibt viele Möglichkeiten, zu viele. Denn gerade dadurch wird die jeweilige Vorherrschaft eines einzigen Kontextes, welcher allein die Eindeutigkeit der Aussage garantieren könnte, problematisch. Ihrer Selbstverständlichkeit plötzlich entkleidet, scheint die Frage des Kontextes nur durch Gewalt lösbar. Wie der Sprecher oder Schreibende im Exordium bemerkt: quelque chose de la violence, "etwas von Gewalt" steckt in einer solchen "Parole" darin:

Meisterhafte Wendung immerhin - oder gar deswegen. Denn aus dem Munde eines Meisters würde dieses Fragment einer Parole immer etwas Gewaltsames sagen.
Das französische Wendung, die wir hier als "Parole" übersetzten, heißt nicht umsonst mot d'ordre. Denn wie jegliche Redewendung, die nicht ganz durch ihren Kontext verbürgt werden kann, hat auch diese den Charakter eines Schlagworts, eines verordnenden Wortes, das einschlägt und zugleich zur Ordnung ruft. Hinter dem Wunsch, "endlich leben zu lernen" versteckt sich so etwas wie ein Befehl. Aber das, was befohlen wird, bleibt rätselhaft.

Diese Redewendung, wie alle Sprache, setzt auf eine gewisse Wiederholung, will sie überhaupt wirksam werden. Äußerungen müssen vernommen, übersetzt, gedeutet werden. Sie bestehen nicht nur "einmal". Zugleich bedeutet diese unvermeidliche Wiederholbarkeit, daß die Äußerung zugleich anderswo transportiert wird und damit auch verändert. Sie bedarf der Wiederholung, läuft aber immer das Risiko, sich durch diese Wiederholung zu verlieren. Daher wird die Frage unumgänglich, die Derrida in Bezug auf jene Parole stellt: "Bis zu welchem Punkte übrigens läßt sich ihr Idiomatisches übersetzen?"

Diese Frage läßt sich nicht quantitativ beantworten. Noch weniger mit einem Ja oder Nein. Vielmehr geht es um das wie: Wie lassen sich Äußerungen übersetzen? Was bedeutet es, daß sie erst übersetzt, d.h. wiederholt werden müssen, um "zu sich zu kommen", um selbstidentisch zu sein?


Fortsetzung


1 Sören Kierkegaard, Die Wiederholung, übersetzt von Liselotte Richter, Hamburg: Rowohlt 1966, S. 7. Zurück

2 Karl Heinz Haag, "Das Unwiederholbare", in: Zeugnisse: Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1963, S. 160-161. Zurück

3 Eine Ausnahme bildet hier das Motiv der Mimesis, die als Wiederholung das Angleichen ans Andere beinhaltet. Doch wo die Wiederholung vorkommt, wie etwa in der Dialektik der Aufklärung, wird sie fast immer als mythische Dimension der Identifizierung kritisch dargestellt (vgl. Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S.33). Zurück