29. 02. / 01. 03. 1992

Vom anderen Ende der Welt

Jacques Derrida


Am 16. April 1992 fand am Collège Internationale de Philosophie, Paris, anläßlich des 80. Geburtstages von Edmond Jabés eine von Didier Cahen organisierte Würdigung statt.


Lieber Didien Cahen,

vom anderen Ende der Welt aus, wo ich am 16. April sein werde, will ich mich von ganzem Herzen der Ehrung des großen Edmond Jabés anschließen. Ih wäre dabei gewesen, werde also im Geiste dabei sein und ihc bin glücklich, daß diese Ehrung am Collège stattfindet: Kein anderer Ort scheint mir so geeignet, so stimmig, könnte besser gewählt oder mehr dazu aufgerufen, dazu bestimmt sein. Von Anfang anwollten wir, daß dieser Ort offen und fruchtbar sein sollte für das poetische Denken, in dessen Zeichen Sie diese Gedenkfeier stellen.

Nun, da Edmond Jabés, da er unter diesem Namen achtzig Jahre alt würde (und ich erinnere mich, wie er mir eines Tages anvertraute, daß bezüglich seines Geburtsdatums und der Eintragung in das Geburtsregister gewisse Unklarheiten bestünden, als ob ein oder zwei Tage Unterschied die Geburt ebenso unfaßbar, undenkbar machen wie der Tod selbst), denke ich voll tiefer Freude, aber auch mit Melancholie an unsere erste Begegnung vor dreiß Jahren zurück. Ich hatte gerade wie zufällig bei einem Zeitungshändler in irgendeinem Vorort Das Buch der Fragen entdeckt und ich spürte, daß darin von unvordenklichen, und daher so selten erkundeten, so unfaßbaren Orten aus eine Stimme erklang, von der ich irgendwie ahnte, daß sie uns nicht mehr verlassen würde, auch wenn er selbst, Edmond Jabés, den ich damals noch nicht kannte, von dem ich noch nichts wußte, nicht einmal, ob er am Lebem war oder wo er lebte, eines Tages verstummen müßte und uns mit seinen Büchern allein ließe. Ich habe schon damals, bei dieser ersten Begegnung mit seinen Büchern, die Erfahrung einer Art Fülle des Schweigens gespürt, die Abwesenheit, die Wüste, Wege, die sich abseits er Straßen auftun, das deportierte Gedächtnis, Sie wissen ja, die Trauer, all die unmögliche Trauer.

Die Freundschaft hatte sich also zunächst wie in einem Spiegel zu erkennen gegeben: in der Trauer, im Auge des Gedichts, vor der Freundschaft selbst. Ich meine vor der Freundschaft, die uns später verband und die uns als Nachbarn mal in der Rue de'l Epée de Bois, mal in der Rue d'Ulm mit Celan oder mit Gabriel Bounoure (auch er eine große Freundschaft, die ich Edmond Jabés verdanke) zusammenführte.

Wenn die Freundschaft vor der Freundschaft beginnt, dann rührt sie an den Tod, wie könnte es anders sein; sie erwächste aus der Trauer, aber sie ist auch doppelt bejaht, doppelt besiegelt; es ist ein Wiedererkennen, das dem Kennenlernen vorausgeht und, wie ich glaube, bestimmt ist, zu überdauern. - Es ist von Anfang an da: in allen Büchern der Fragen, da sind die, die ihren Namen tragen und die, die ihren Namen verschweigen, über die Bücher und deren Titel hinaus - über die blinden Worte hinaus. Edmond Jabés wußte, daß die Bücher keinem mehr gehören, ebensowenig wie die Fragen, ganz zu schweigen von den Antworten.

Wenn ich mir wünsche dabeizusein, ja wenn es mir so leicht fällt, mich Ihnen an diesem 16. April von der Pazifikküste aus nahe zu fühlen, so nicht nur, weil die Leser, Bewunderer und Freunde von Edmond Jabés an diesem Ort, der mir teur ist und bleibt, zusammenkommen, sondern auch weil ich mir keine wahreren Zeugen für dieses unsichtbare Einverständnis, für diese Begegnung von Denken und Gedicht vorstellen kann als die Freunde, die anderen Freunde (ich denke etwa an Michel Deguy) und all die, an die ich mich mit diesem Brief wenden darf...


Und Jabés. Hommage. Stuttgart: Verlag Jutta Legueil 1994, 153-155

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