Q: Ein Jahr nach Spectres de Marx publizieren Sie
gleichzeitig mit Politiques de l'amitié einen noch viel
politischeren Text: Force de loi (dt.: Gesetzeskraft, 1991).
Heißt das, Sie wollen dem Gerücht ein Ende bereiten, wonach die
Dekonstruktion vor Fragen der Ethik, des Sozialen und der Politik gleichsam
nihilistisch abdankt?
A: Nein, primäre Absicht ist nicht die Erwiderung oder das Plädoyer.
Seit Beginn vor fast 30 Jahren hat sich meine Arbeit unter dem Zeichen,
sagen wir, einer ethisch-politischen Bejahung entwickelt. Sie beschäftigte
sich zunächst mit der Frage des Politischen, des Moralischen, des Gerechten
und des Rechts. Einer der Leitfäden wird das Problem des Nationalismus
gewesen sein. Die diesem Thema gewidmteten Seminare haben Politiques de
l'amitié vorbereitet, besonders die zum Thema des Autchtonen, der
Geburt und der Brüderlichkeit. Das ist nur ein Beispiel. Tatsächlich
geht es um die Verantwortung im allgemeinen - seit Jahren das Thema meiner
Unterrichtsveranstaltungen. Eine neue Erfahrung zu machen mit der ethisch-politischen
Verantwortung, zu der wir aufgerufen sind, das heißt, sich der Sicherheiten
und Begrifflichkeiten zu entäußern, die eine alte und zähe
Geschichte haben: das ist eine schmerzvolle Erfahrung, also etwa Gefährliches
und Unabschließbares. Die Erschütterungen unserer heutigen Zeit
machen diese ungestörten Sicherheiten viel schneller heimatlos als
alle dekonstruktiven Diskurse. Der Zugang zu diesen Ansprüchen nach
Verantwortung verläuft über kritische Wege, über eine offenkundig
zerstörerische, destruktive Negativität, die wie ein Schatten
auch noch die allerverantwortungsbewußteste Affirmation begleitet,
die unabschließbare Affirmation der Gerechtigkeit/des Rechts. Man
darf niemal aufhören, den dominierenden Begriff der Demokratie in Unruhe
zu versetzen: die sympathische, republikanische und universelle Brüderlichkeit
kann jederzeit das Symbolische des Blutes wiederkehren lassen, die Nation,
die Ethnie oder den sublimierten Anthrozentrismus. Andererseits wird man
auf diese Notwendigkeiten nicht angemessen reagieren, wenn man nicht in
anderer Weise denkt und schreibt, also nicht ohne irgendwelche Gewalt gegenüber
leichtfertigen Lektüren und ausgetretenen Pfaden der Legitimierung
auszuüben. Besonders auf dem Gebiet der Politik, wo man glaubt, den
abschüssigen Bahnen folgen, die vereinfachende und nach ­p;bereinstimmung
suchende Rhetorik rechtfertigen, dem Leser oder dem Wähler nicht allzuviel
Mühe abverlangen zu dürfen.
Q: Man zögert heute nicht, das Ideal der Emanzipation und der Befreiung
für veraltet zu erklären. Sie unterstützen eine solche Erklärung
nicht. Warum nicht? Und muß man, um solche Ideale neu zu beleben,
die Möglihkeiten der Gerechtigkeit, des Rechts neu denken, auf die
Gefahr hin, zeigen zu müssen, daß die Gerechtigkeit/das Recht
von Anfang an nach Gewalt verlangt?
A: Sie wissen sehr gut, daß ich niemals, selbst als es gängige
Mode war, etwas gegen das Ideal der Emanzipation und der Befreiung (sexuell,
kulturell, sprachlich, sozial, ökonomisch, politisch) gesagt oder auch
nur so dahergeredet habe. Ich bleibe auf meine Art progressistisch. Laßt
uns doch beständig fortfahren, das klassische Erbe der Aufklärung,
die Metaphysiken des Bewußtseins, des Subjekts, der Freiheit, des
Eigentums oder der Wiederaneignung der kulturellen Tradition neu zu befragen.
Aber ohne auf andere Aufklärungen zu verzichten. Und indem wir, mehr
als zuvor, von verschiedenen Warten aus für die Emazipation oder die
Befreiung streiten, selbst da, wo eine gewisse Heteronomie unvermeidbar
sein kann - und sein darf! Statt diese Parolen auf den Müll zu werfen:
warum ihnen nicht einen neuen Gebrauchswert geben, eingedenk der Macht ihrer
Glaubwürdigkeit? Das mag unmöglich erscheinen, doch ohne diese
andere Sprache wird es keine Politik geben, die der Mühe lohnt. Vor
allem auch keine Gerechtigkeit. Nicht das Recht selbst ist es, so könnte
man sagen, das die Gewalt fordert (das Recht muß entwaffnet bleiben
und einen regelfreien und begriffsfreien Respekt erheischen, einen unendlichen
Respekt für die Singularität), sondern die Pflicht, die Gerechtigkeit
soviel wie möglich in die kalkulierbare Allgemeinheit eines Gesetzes
einzuschreiben. Diese Pflicht ist schwer zu denken und ins Werk zu setzen:
die Gerechtigkeit wird niemals außerhalb der Gestalt eines Gesetzes
wirksam, außerhalb einer Gesetzeskraft, die sie aber dennoch überschreitet.
Das nennt man die Politik oder die Geschichte.
In Politiken der Freundschaft räumen Sie Carl Schmitt viel Platz ein,
der die Politik über die Unterscheidung von Freund und Feind definiert.
Indes fügen Sie hier eine lange Anmerkung an, um wenigstens eine unvermeidbare
Zweideutigkeit in Grenzen zu halten. Fürchteten Sie, daß man
Sie - wie schon zuvor einige Theoretiker der extremen Linken - für
die Rehabilitierung dieses Denkers verantwortlich machen würde, an
dessen antisemitischen Affekt, der ein extremes Ausmaß angenommen
hatte, Sie erinnern, und von dem Sie sagen, er sei wahrscheinlich auch nach
jener Zeit, als er sich offen dazu erklärt hat, Nazi geblieben?
Auf keinen Fall rehabilitieren! Das Wort und die Geste erschrecken mich.
Ich habe unzweideutig auf den Nazismus und den Antisemitismus Schmitts hingewiesen.
Die ihm gewidmeten Kapitel sind eine von mir bewußt gewollte minutiöse
Infragestellung seines Unterfangens, seiner Vorannahmen, seiner diskursiven
Strategie, seiner Verankerung im europäischen Recht, seiner oppositionellen
Logik, seines dezisionistischen Denkens, der Souveränität und
des Ausnahmezustands. Kurz gesagt, ich glaube, man muß Schmitt, wie
Heidegger, neu lesen - und auch das, was sich zwischen ihnen abspielt. Wenn
man die Wachsamkeit und den Wagemut dieses entschieden reaktionären
Denkers ernst nimmt, gerade da, wo es auf Restauration aus ist, kann man
seinen Einfluß auf die Linke ermessen, aber auch zugleich die verstörenden
Affinitäten - zu Leo Strauss, Benjamin und einigen anderen, die das
selbst nicht ahnen. Das Gesetz aus diesen Paradoxien heraus zu verstehen
und zu formalisieren - ist das nicht eine gute Einführung in die politischen
Aufgaben von morgen? Als schlafloser Wächter oder als Späher bei
der Belagerung hat Schmitt mir seinem Furchtesmut kommen sehen, was die
europäische Ordnung, ihre politische Theologie, ihr internationales
Recht, ihre Staats-, Kriegs- und Technikbegriffe, ihren Begriff der parlamentarische
Demokratie und der Medien bedroht. Es ist nicht leicht, den schmittianischen
Diskurs zu demontieren, wenn man das ehrlich tun will, und selbst das ist
noch nicht einmal ausreichend; aber ich frage mich, ob ies nicht eine der
nützlichen Übungen ist, um ein neues politisches Denken, ein neues
Denken der Politik zu schärfen.
Q: Der Aristoteles zugesprochene Satz - O meine Freunde, es gibt keinen
Freund - ist der rote Faden ihrer Lektüre. An einem Punkt setzen Sie
dazu an, das, was er über die Freundschaft oder den Freund aussagt,
in Begriffe der Liebe zu übersetzen, doch Sie lassen die Auflösung
in der Schwebe. Was sagt er denn über die Liebe?
A: Ich glaube, das Buch handelt vor allem von der Liebe. Stillschweigend,
im Gleichnis oder insgeheim vielleicht - aber bei jedem Satz erinnert ein
verhaltener Gesang an die magische Übertragung, von der Sie eben behauptet
haben, sie bliebe in der Schwebe. Es gibt übrigens einen Punkt, wo
alles in diesem Buch in diesem gefährlichen vielleicht verharrt, das
Nietzsche dem kommenden Denken zurechnet und dem ich, wie Sie wissen, viel
Aufmerksamkeit geschenkt habe. Eine Abhandlung über die Liebe muß
ein Liebesakt sein, ja ein Akt: eine Erklärung und eine Bürgschaft,
die Antwort gibt im rechten Namen der Liebe, um ein anderes Wort Nietzsches
hier zu verwenden. Diese Triftigkeit schließt weder das Trugbild noch
die Verrücktheit aus. Im Grunde habe ich nie zwischen der Liebe und
der Freundschaft unterscheiden können, noch wollen. Aber um einem Freund
oder einer Freundin -ich liebe Dich- sagen zu können und für amour
fou muß man bis in den eigenen Körper so viele historische
Gatter durchschreiten, einen immensen Wald von Untersagungen und Unterscheidungen,
Codes, Scenarien, Positionen. Vielleicht um die Stimme einer magnetisierenden
Liebe neu zu beleben, die vor aller Unterscheidung zwischen lieben und geliebt
werden, Liebe und Freundschaft, Eros und Philia, Eros und Agape, Barmherzigkeit,
Brüderlichkeit und Nächstenliebe ertönt. Dieser Gesang lockt
uns auf den Boden einer labyrinthischen und undechiffrierbaren, verführerischen
und verzweifelten Geschichte. Ich riskiere dort gerne einen Schritt, ich
mag mich dort auch verlieren, mir die Zeit nehmen, mich dort zu verlieren.
Aber diese Chnace kann uns auch, kraft eines Wortes, eines Moments, eines
eifersüchtigen Blicks oder einer Liebkosung zuteil werden. Das kommt
vielleicht vor, aber ohne den einen oder den anderen, das einen oder den
anderen zu verraten, kann man davon nicht Rechenschaft ablegen.
Q: Um Ihre Analysen zu aktualisieren, haben Sie bewußt auf Illustrationen
verzichtet, die Sie der politischen oder Medien-"Aktualität"
entnehmen hätten können und die der Reflexion eine Leinwand geboten
hätten. Das ist enttäuschend. Man hätte z. B. gerne gesehen,
was aus der Definition dessen geworden wäre, was Kant sagt, nicht nur
im Hinblick auf den Philanthropen, sondern auch im Hinblick auf den Menschenfreund,
auf das Humanitäre oder bezüglich des Prozesses der brüderlichen
Humanisierung, den Sie analysieren.
A: Ich hoffe doch, daß diese "aktuellen" Bezüge einem
selbst dort in den Sinn kommen, wo ich meine Anspielungen nicht entfalten
kann, noch das auch tun muß. Die Frage des Humanitären ist ein
Beispiel unter tausend anderen. Durch so viele geo-politische Tragödien
hindurch neigen die Interventionen im Namen des Humanitären dazu, sich
zu vervielfältigen, sie verlangen heute, so vermute ich, nach einem
neuen Recht, einem angemesseneren Namen, einem anderen Begriff vom Menschen
- und vom Lebendigen überhaupt. Diese Interventionen markieren zunächst,
so scheint es mir, die alltäglich bestätigte Grenze der Staaten
und der internationalen Institutionen. Weder ihre Macht noch ihr Recht,
weder ihre politischen Diskurse noch die Deutung des Menschen oder der Menschenrechte,
die sie begründen, sind auf der Höhe dessen, was wir, wenn man
so sagen darf, von uns erwarten, angesichts der neuen weltweiten Katastrophen,
der Hungersnöte, der Außenhandelsverschuldung, der Völkermorde,
der Mafia, der Ungleichheit vor dem Tode und vor der Wissenschaft, der namenlosen
Kriege, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, neben all den Kriegsverbrechen
und den politischen Verbrechen. Selbst dort, wo Kant deutlicher den Menschenfreund
vom Philanthropen unterscheidet, kann dieses wir nicht mehr der Mensch der
Philsophie oder des Humanismus sein, noch auch das Kantische Subjekt, von
dem ich zu zeigen versuche, daß es noch allzu sehr brüderlich,
verklärt männlich, familial, ethnisch oder national usw. bleibt.
Aber ich versuche, anderen Möglichkeiten des kantischen Diskurses gerecht
zu werden, die er weiterführt oder verschiebt. Erlauben Sie mir, zumindest
einmal deutlich darauf hinzuweisen, daß es in diesem Punkt wie auch
an den vielen anderen schwierig ist, ausgewogen darüber zu sprechen.
Q: Sie heben bei allen kanonischen Diskursen über die Freundschaft
auf den Ausschluß der Freundschaft zwischen Frauen und dem der Freundschaft
zwischen einem Mann und einer Frau ab. Liegt darin das Hauptmerkmal der
Geschichte der Freundschaft? Und was waren dabei die Einflüsse auf
die Konstituierung politischer Modelle wie z.B. der Demokratie?
A: Es handelt sich wohlgemerkt nicht darum, zu leugnen, daß eine Freundschaft
zwischen Frauen oder zwischen Mann und Frau nicht möglich sei, ganz
im Gegenteil. Es geht gewissermaßen und allererst in Europa darum,
die Geschichte zu durchleuchten, durch die hindurch die phallozentrische
Gestalt der Freundschaft - des Freundespaares und ihres testamentischen
Bundes - beherrschend, kanonisch geworden ist und allein einen Rechtsanspruch
auf politische, philosophische und literarische Archivierung behalten hat.
Die Interpretation dieses Archivs ist nicht leicht, vielmehr eine endlose
Angelegenheit, doch sie öffnet sich zur realen Geschichte (sei sie
nun diskursiv oder nicht), de diesem Modell zur politischen Vorherrschaft
verholfen hat. Ich habe begonnen, diesem so reichhaltigen und so verzwickten
Motiv der Brüderlichkeit nachzugehen: durch griechische und christliche
Darstellungen hindurch, im Verlauf und nach der Französischen Revolution
- die sich so schwer tat mit dem Wirbel um dieses in vieler Augen so christliche
Wort. Und trotz der intensiven Anstrengung der Vergeistigung, der Sanktionierung,
der Universalisierung bleibt die ideale Bedeutung der Brüderlichkeit
- und selbst die der gelobten und geschworenen Brüderlichkeit - verwurzelt
in der Familie oder in der Geburt (und damit in seiner nationalen Natur:
Blut, Boden, Autochtonie) und in der Männlichkeit, in der Tugend der
Söhne, der Helden und der Soldaten. So erscheint das Thema in seiner
Klassizität: die Tugend, insbesondere die politische Tugend, die Tugend
der Liebe und die Notwendigkeit, diese Tugend ihrem eigentümlich vorväterlihen
Androzentrismus zu entreißen. Die zivile, staatsbürgerliche Gleichheit
zwischen den Männern und den Frauen, die in ihrer Art, besonders bei
uns, erst neueren Datums ist, bleibt, um hier nur diesen Aspekt anzureißen,
noch eine Angelegenheit ferner Zukunft. Die Brüerlichkeit war der Demokratisierung
dienlich und hat ihr sogar ihre Reichweite geben können, aber dieser
Horizont markiert auch eine Grenze. Kein geschichtlicher Bruch wird mit
diesem Fraternalismus fertig geworden sein, über dessen Bedeutung wir
heute nachzudenken haben, besonders hinsichtlich einer zukünftigen
Demokratie: weder die Umwälzung von der griechischen zur christlichen
Welt (deren gängige Interpretation ich in diesem Punkt bestreite),
noch die post-revolutionäre Republik (schauen Sie sich die aufwühlenden
Schriften von Michelet oder von Hugo an - durch die hindurch ich ein wenig
verbissen eine französische Epoche dieser Fraternisierung verfolge),
noch die Revolution der Psychoanalyse, noch auch die heutige Zeit, und gerade
das ist der am meisten zu schätzende, auch der am meisten beunruhigende
Abschnitt dieses Buches: die Schriften derer, für die die Autorität
dieses greco-christlichen Paradigmas nicht mehr selbstverständlich
ist: Nietzsche und noch viel überfeinerter, leiser, Maurice Blanchot
oder Jean-Luc Nancy. Die Brüderlichkeit, so sage ich mir manchmal,
beunruhigt sie vielleicht nicht allzu sehr.
Q: Jacques Derrida, wer sind Ihre Freunde? Nicht: wessen Freund sind Sie,
sondern wen lieben Sie, da nun mal das erste herrausragende Moment Ihrer
Geschichte der Freundschaft bei Platon oder Aristoteles aufzeigt, daß
man es vorziehen sollte, selbst zu lieben, statt Freund zu sein?
A: Meine Freunde und meine Freundinnen! Selbst wenn uns Zeit und Raum dazu
gelassen wäre, würde ich hier schweigen. Die öffentliche
Antwort auf diese Frage würde in meinem Buch stehen, manchmal zwischen
den Zeilen, manchmal (gegen Ende) in bestimmten Eigennamen. Die benennen
nicht lle, doch sie sagen genug darüber aus, daß alle - männlich
und weiblich - nur im Singular genannt werden könnten, im unersetzbaren
Vokativ. Wie Sie sehen, hängt alles an der Frge der Singularität
und der Zahl: kann man mehr als einen Freund, mehr als eine Freundin haben?
Wieviele? Und wohin mit der Gleichheit, der Andersheit und der Gerechtigkeit
in dieser Beziehung? Mit diesem "mehr als einer" und "mehr
als eine" beginnt vielleicht die Politik. Die Sensibilität und
die Ausdauer, die man für die Erkundung dieses Ortes der Aporien aufwendet,
macht vielleicht bereit und empfänglich für die Freundschaft,
so wie ich sie liebe. Sie gibt ihr mehr Gelegenheit, aber all das ist niemals
eine Bedingung. Die Freundschaft stellt keine Bedingungen, sie erwartet
keine Rückerstattung: Gleichheit ohne Reziprozität oder Symmetrie.
Und überall, wo auch nur ein freundschaftlicher Gedanke sanft die Bruder-Autorität,
und sei es die des idealisierten Bruders, befragen, verschieben, beunruhigen
kann, ähnelt dieser freundschaftliche Gedanke, wenn er sich niederschreibt,
vielleicht dem Gedanken einer Freundin; aber warum nicht, wenn die Schwester
nicht mehr ein Sonderfall des Bruders ist?
Q: Die schönsten Seiten der Politiques de l'amitié sind meiner
Ansicht nach die, die Sie Maurice Blanchot widmen. Aber doch scheint sein
Begriff der Freundschaft - unteilbare und unumkehrbare Freundschaft, für
die man, ohne Spuren zu hinterlassen, eine durchlässig-passive Antwort
für die Nichtpräsenz des Unbekannten zuläßt, oder:
Appell ans Sterben, zusammenfallend mit der Trennung - unmöglich, unhaltbar.
Kann dieser Begriff Eingang in eine Politik der Freundschaft finden?
A: Nein, und da liegt das ganze Problem. Nein, wenn man die Politik - oder
die Demokratie - auf ihre heute identifizierbaren oder unangezweifelten
Formen begrenzt. Ich träume von einer Politik, die eine wirksame Politik
bleibt, ohne der Möglichkeit dieser Freundschaft, so unwahrscheinlich
sie auch immer sein mag, Gewalt anzutun, jenseits der wechselseitigen Genossenschaft,
der nachbarlichen Nähe, der Identifizierung. Kurz, eine Politik, die
dieser Freundschaft gegenüber nicht unrecht tut. Ist das bloß
ein Traum? Vielleicht. Noch müßte man ihm einen Tag vorgeben:
was unmöglich scheint, ist schon versprochen worden und bleibt also
denkbar. Wir behalten es in denkender Erinnerung jedes mal, wenn wir lieben,
wenn wir die Worte Liebe oder Freundschaft übertragen und weitergeben.
Jedes Mal wenn wir sie machen, die Liebe und die Freundschaft. Am Ursprung
der Politik hat vielleicht diese Bürgschaft gestanden, selbst wenn
an diesem Punkt - inkommensurabel mit dem Geheimnis - eine Politik inadequat
bleibt und bleiben muß.
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