Marx' Verfügungen

Und jetzt die Gespenster von Marx. (Aber jetzt ohne Verbindung. Ein getrenntes oder aus den Fugen geratenes Jetzt, "out of joint", ein abgekoppeltes Jetzt, das immer Gefahr läuft, nichts mehr in der gesicherten Bindung eines Kontexts zusammenzuhalten, dessen Ränder noch bestimmbar wären.)

Die Gespenster von Marx. Warum dieser Plural? Sollte es mehr als eins davon geben ? Mehr als eins, das kann eine Menge bedeuten, wenn nicht gar Massen, die Horde oder die Gesellschaft, oder eine Population von Gespenstern mit oder ohne Volk, diese oder jene Gemeinschaft mit oder ohne Oberhaupt - aber auch das weniger als eins der reinen und einfachen Zerstreuung. Ohne jede Möglichkeit der Wiederversammlung. Wenn das Gespenst im übrigen immer von einem Geist beseelt wird, fragt man sich, wer es wagen würde, von einem Geist des Karl Marx zu sprechen, schwerwiegender noch von einem Geist des Marxismus. Nicht nur, um ihnen heute eine Zukunft vorauszusagen, sondern um sogar an ihre Vielfalt zu appellieren oder, schwerwiegender noch, an ihre Heterogenität.

Vor mehr als einem Jahr habe ich beschlossen, vom Titel dieses Eröffnungsvortrags an die "Gespenster" beim Namen zu nennen. "Marx' Gespenster", der Gattungsname und der Eigenname waren also gedruckt, standen schon auf dem Plakat, als ich kürzlich das Manifest der kommunistischen Partei wiederlas. Schamvoll gestehe ich ein: Ich hatte das seit Jahrzehnten nicht mehr getan - und das verrät wohl einiges. Ich wußte wohl, daß dort ein Gespenst auf mich wartete, und das von der Ouvertüre an, sobald der Vorhang aufgeht. Dann entdeckte ich natürlich, oder erinnerte mich vielmehr daran, was offenbar in meinem Gedachtnis herumgespukt hatte: Das erste Substantiv des kommunistischen Manifests, und diesmal im Singular, ist "Gespenst": "Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus."

Inschrift oder incipit: Dieses erste Substantiv eröffnet also die erste Szene des ersten Akts: "Ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst des Kommunismus." Wie bei Hamlet, dem Prinzen eines verfaulten Staates, beginnt alles mit dem Erscheinen des Geistes. Genauer: mit dem Warten auf dieses Erscheinen. Die Antizipation ist gleichzeitig ungeduldig, angstvoll und fasziniert: Es, das Ding (this thing) wird schließlich auftauchen. Der Wiedergänger wird kommen. Er kann nicht ausbleiben. Wie er auf sich warten läßt! Noch genauer beginnt alles mit dem Herannahen einer erneuten Erscheinung, mit dem erneuten Erscheinen des Geistes, aber als seinem ersten Erscheinen innerhalb des Stücks. Der Geist des Vaters wird wiederkommen und Hamlet bald sagen "I am thy Fathers Spirit" (Akt I, Szene v), aber hier, zu Beginn des Stücks, kommt er zum erstenmal wieder, wenn ich so sagen darf. Es ist eine Premiere, das erste Mal auf der Bühne.

(Erste Vermutung: Die Heimsuchung ist historisch, gewiß, aber sie hat kein Datum, sie schreibt sich nie fügsam in die Kette der Gegenwarten ein, von Tag zu Tag, gemäß der institutionalisierten Ordnung eines Kalenders. Als unzeitige stößt sie Europa nicht eines Tages zu, widerfährt ihm nicht, als wenn es zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Geschichte plötzlich begonnen hätte, unter einem Übel zu leiden, sich in seinem Innern von einem fremden Gast bewohnen, das heißt, heimsuchen zu lassen. Auch wird der Gast nicht darum weniger fremd, daß er das Gesinde des europäischen Hauses seit jeher heimgesucht hat. Aber es gab kein Innen, vor ihm gab es im Innern nichts. Das Gespenstische sollte sich verschieben wie die Bewegung dieser Geschichte. Die Heimsuchung sollte die Existenz Europas selbst bezeichnen. Sie sollte den Raum und das Selbstverhältnis dessen eröffnen, was sich spätestens seit dem Mittelalter Europa nennt. Die Erfahrung des Spuks (du spectre), so wird auch Marx, zusammen mit Engels, eine bestimmte Dramaturgie des modernen Europa gedacht, beschrieben und diagnostiziert haben, insbesondere die seiner großen Vereinigungsprojekte. Man kann sogar sagen, daß er sie dargestellt oder inszeniert hat. Im Schatten eines kindlichen Gedächtnisses wird Shakespeare diese Marxsche Theatralisierung oft inspiriert haben. Später und uns näher, aber derselben Genealogie entstammend, im nächtlichen Rasseln ihrer Verkettung, im Geräusch von Gespenstern, die an Gespenster gekettet sind, sollte Valery ein weiterer Nachfahre sein. Shakespeare, der Marx zeugt, der Valery zeugt (und einige andere). Was aber geht zwischen den Generationen vor? Eine Auslassung, ein seltsamer Lapsus. Erst da, dann fort, exit Marx. ...)
Jacques Derrida: Marx' Gespenster, trans. Susanne Lüdemann, Fischer Verlag 1995, S. 17-19

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