Gespenster-Tafel
In der ganzen Deutschen Ideologie könnte man, was wir hier
nicht tun werden, die unermüdliche Auslegung dieser Gespenster-Tafel
entziffern. Denn so kann man sie nehmen: wie eine Tafel, wie eine Gesetzes-Tafel
in zehn Takten, das Gespenst eines Dekalogs und der Dekalog der Gespenster.
Die neue Tafel praesentiert sich wiederum wie eine Tabelle, die ironische
Tabellarisierung, die fiktive Taxonomie oder die Statistik der Wiedergänger.
Eine Kategorientafel des Gegenstandes oder des Seienden als Gespenst im
allgemeinen. Und dennoch, trotz der Statik, die dem Aufstellen einer Tabelle
zukäme, fehlt dieser hier jede Ruhe, jede Stabilität. Diese Tabelle
der Geister bewegt sich nach dem Vorbild eines rückenden Tischs. Sie
beginnt vor unseren Augen zu tanzen wie ein gewisser "Tisch" aus
dem Kapital , den wir spater noch rücken sehen werden, wenn
sein Ware-Werden (devenir-marchandise) die Dimension des Geheimnisses,
der Mystik und des Fetischismus eröffnet. Denn auf dieser Liste der
Wiedergänger, auf dieser neuen Tafel, deren kapitale Kategorien als
Klageartikel auftreten, unterscheiden die Begriffe sich nicht voneinander.
Sie fügen sich nicht einer dem anderen hinzu; da jeder einen Zug des
anderen darstellt, supplementieren sie einander, um Zug um Zug einer in
den anderen überzugehen. Wir können hier nicht die ganze Deutsche
Ideologie lesen, die im Grunde nichts als die fortschreitende Exposition
dieser Tafel ist. Ohne die spöttischen Ausrufe zu zitieren, mit denen
Marx jede der zehn Erscheinungen begleitet - sie seien dem neugierigen Leser
ans Herz gelegt -, beschränken wir uns hier auf ein paar Bemerkungen
zu dem einen oder anderen hervorstechenden Zug. Während Marx in der
"reinen Geistergeschichte" "zehn Thesen" gezählt
hatte, stellt er jetzt in der "unreinen Geistergeschichte", einige
Seiten später, eine Tafel über zehn Wiedergänger auf:
"Gespenst Nr. 1: das höchste Wesen, Gott. [...] Über diesen
unglaublichen Glauben brauchen wir kein Wort mehr zu verlieren", notiert
Marx. Weder Stirner noch Marx halten sich im übrigen beim Wesen des
Glaubens auf, hier des Glaubens par excellence, der niemals an etwas anderes
glauben kann als an das Unglaubliche und der ohne das nicht wäre, was
er ist, jenseits jedes möglichen "Beweises vom Dasein Gottes".
"Gespenst Nr. 2: das Wesen." (Offenkundig steigen wir abwärts:
vom "höchsten Wesen" hinab zum weniger hohen zum Wesen tout
court. Ein altes Problem, zumindest seit Aristoteles. Absteigende Hierarchie,
von der Theologie zur Ontologie. Sollte es so einfach sein? "Wesen"
bleibt, wir werden es sehen, der gemeinsame Begriff und der Leitfaden dieser
Klassifikation, die somit wesenhaft ontologisch bleibt, in Wahrheit sogar
onto-theologisch.)
"Gespenst Nr. 3: die Eitelkeit der Welt. Hierüber ist Nichts zu
sagen", notiert Marx, als daß daraus 'leicht' Gespenst Nr. 4
hervorgeht. Und was gibt es "Leichteres", in der Tat, und "Eitleres",
justament, Inexistenteres (kein "Wesen" mehr in dem Fall) als
den Schatten und die Eitelkeit eines Phantoms? Die Eitelkeit der Welt also,
nur, damit daraus "leicht"
Gespenst Nr. 4: die "guten und bösen Wesen" werden. Das Wesen
ist wieder da, aber, notiert Marx, Max sagt darüber nichts, auch wenn
hier durchaus etwas zu sagen wäre Es ist nur da, um zum nächsten
überzuleiten, das ist
"Gespenst Nr. 5: das Wesen und sein Reich." Das ist die erste
Bestimmung des Wesens. Es besitzt ein Reich, und daher schreibt sich seine
Verwandlung in eine Vielheit von Wesen. Hier haben wir die erste Geburt
des Plurals, die Geburt selbst, den Ursprung der Zahl und der Nachkommenschaft.
Natürlich transponiert das Wort "Reich" die Tafel der Gebote
oder die Tafel der Kategorien bereits auf christlichen Boden.
"Gespenst Nr. 6: die Wesen." Wir sind zum Plural übergegangen,
zur Vermehrung der Nachkommenschaft, vom Gespenst Nr. 5 zum Gespenst Nr.
6, durch Metamorphose und spontane Zeugung: Vom Gespenst Nr. 5 wird ausgesagt,
"daß es "das Wesen" ist, worauf es sich flugs in Gespenst
Nr. 6: "die Wesen" verwandelt".
"Gespenst Nr. 7: der Gottmensch." Im Grunde haben wir hier in
dieser absteigenden Hierarchie das Moment der Konversion oder der Reversibilität
(Abstieg und Aufstieg, Ausgießung und Himmelfahrt). Für die Synthese
des spekulativen Idealismus ist es auch die Kategorie des Dritten, der Mitte
oder der Vermittlung, das Scharnier dieser Onto-Theologie als Anthropo-Theologie
des Phantoms. Spielt der Gottmensch nicht dieselbe Rolle in der Phänomenologie
des Geistes? Diese gelenkartige Verfugung situiert auch den Ort der Fleischwerdung,
das privilegierte Moment der Inkarnation oder der gespenstigen Verleiblichung.
Es ist nicht verwunderlich, daß Marx, im Gefolge von Max, diesem Moment
den längsten, gespanntesten und, justament, verbissensten (acharné)
Kommentar widmet. Das christologische Moment (le moment christique)
, und in ihm der eucharistische Augenblick, ist das nicht die Hyperbel
der "Einfleischung" (acharnement) selbst? Wenn jedes Gespenst
sich, wie wir gesehen haben, durch eine Verleiblichung, durch die phänomenale
Form einer Quasi-lnkarnation vom Geist unterscheidet, dann ist Christus
das gespenstigste aller Gespenster. Er sagt uns etwas über die absolute
Gespenstigkeit. Stirner selbst wäre bereit, ihm die Einzigartigkeit
dieses transzendentalen Privilegs zuzugestehen. Hätte der Begriff der
Inkarnation ohne diese Inkarnation auch nur den geringsten Sinn, die geringste
historische Chance? Jesus ist das gleichzeitig größte und "unbegreiflichste
Gespenst"; Marx besteht darauf:
Von ihm weiß Stirner zu sagen, daß
er "beleibt" gewesen ist. Wenn Sankt Max nicht an Christus glaubt,
so glaubt er wenigstens an seinen "wirklichen Leib". Christus
hat nach Stirner eine große Misere in die Geschichte gebracht, und
der sentimentale Heilige erzählt mit Tränen in den Augen, "wie
sich die kräftigsten Christenmenschen abgemartert haben, um ihn zu
begreifen" - ja - "seelenmarternder war noch nie ein Gespenst,
und kein Schamane, der bis zu rasender Wut und nervenzerreißenden
Krämpfen sich aufstachelt, kann solche Qual erdulden, wie Christen
sie von jenem unbegreiflichsten Gespenst erlitten.
Es ist also leicht, von ihm zum "grauenhaften Wesen" überzugehen:
"Gespenst Nr. 8: dem Menschen." Hier sind wir uns selbst, aber
auch dem Erschreckendsten, so nah wie nur möglich. Es gehört zum
Wesen des Gespensts im allgemeinen, daß es angst macht. Das gilt vor
allem für den Menschen, das "unheimlichste" aller Gespenster,
ein Wort ("unheimlich"), das Stirner benutzt und das im höchsten
Grade wichtig für uns ist, das aber die französischen Übersetzungen
zumeist übergehen. Es ist das Wort der irreduziblen Heimsuchung. Das
Vertrauteste wird zum Beunruhigendsten. Das ökonomische oder ökologische
Beisichsein, das Zuhause (chez-soi) des oikos , das Nahe,
das Vertraute, das Häusliche und Familiäre, will sagen: das Nationale
(das Heimliche) macht sich selbst angst. Es fühlt sich im eigenen Geheimnis
seines Inneren besetzt durch das Fremdeste, das Entfernte, das Bedrohliche.
Wir kommen zum Abschluß darauf zurück. Wenn Christus, dieser
absolute Spuk, Angst und Leiden verbreitet, dann verbreitet der Mensch,
zu dem dieser Gottmensch wird (und der Mensch begegnet sich selbst hier
nur in diesem Werden), noch mehr Angst in dem Maß, in dem er sich
uns nähert. Er ist noch gespenstiger als das Gespenstige. Der Mensch
macht sich (zur) Angst. Er wird zu der Angst, die er einflößt.
Daher die Widersprüche, die den Humanismus unhaltbar machen. Wir sehen
hier die Logik dieser Angst vor und um sich (peur de soi) aufscheinen,
die unser Vorhaben orientiert. Die Selbstheit des Selbst (ipséité
du soi) konstituiert sich darin. Niemand wird ihr entkommen sein, weder
Marx noch die Marxisten, noch ihre Todfeinde selbstverständlich, all
jene, die die Eigentümlichkeit und die Integrität ihres "chez-soi"
verteidigen wollen: den Eigenkörper, den Eigennamen, die Nation, das
Blut, das Territorium und die "Rechte", die sich darauf gründen.
Marx stellt das Fatale daran heraus, aber beim anderen, eben bei Sankt Max:
Er stellt es aus sich heraus sich gegenüber. Es rührt von der
phänomenologischen Faltung her, scheint Marx zu suggerieren, von jener
gleichzeitig entscheidenden und inkonsistenten Differenz, die das Wesen
von der Erscheinung trennt. Das Erscheinen des Wesens als solchen, als Phänomenalität
seines Phänomens, das ist und ist nicht das Wesen, das erscheint -
die Faltung des Unheimlichen:
Gespenst Nr. 8: der Mensch. Hier 'graut' es unsrem
wackeren Schriftsteller in Eins fort - "er erschrickt vor sich selbst",
er sieht in jedem Menschen einen "grausigen Spuk", einen "unheimlichen
Spuk" in dem es "umgeht". (Dasselbe Wort wie im Manifest,
J.D.) Er fühlt sich höchst unbehaglich. Der Zwiespalt zwischen
Erscheinung und Wesen läßt ihn nicht ruhen. Er ist wie Nabal,
der Gemahl der Abigail, von dem geschrieben steht daß sein Wesen ebenfalls
von seiner Erscheinung getrennt war: [...]
Alles geschieht immer in nächster Nähe des Kopfes und des Hauptes.
Diese Angst um und vor sich hätte den Schreiber in den Selbstmord treiben
können. Der Schreiber, der schreibende Mensch, hätte Jagd auf
sich selbst machen können: Sankt Max ist nahe daran, "sich eine
Kugel durch den Kopf (zu) jag(en)" (schon wieder das Lexikon der Jagd),
da die ganze Verfolgung innerlich stattfindet und der andere ihm Kopfweh
verursacht. Was den Menschen vor dem Menschen rettet, ist schließlich
noch ein an deres Gespenst. Er erinnert sich der Alten, die "so etwas
nicht in ihren Sklaven beachteten". Er denkt also an den Volksgeist
überall da, wo er sich inkarniert. Dies bringt ihn auf das folgende
Gespenst:
"Gespenst Nr. 9: der Volksgeist." Zu dieser Ableitung gäbe
es heute sehr viel zu sagen - nicht nur über die Wiederkehr der National-Populismen,
sondern auch über das, wodurch diese in der Gründungsgeschichte,
die sie erzählen, immer an Erscheinungen und Wiedergänger gebunden
bleiben. Der Begründer eines Volksgeistes, das könnte man zeigen,
hat immer die Gestalt eines Wiedergängers, eines Überlebenden.
Er gehorcht immer der Zeitlichkeit seiner Wiederkehr. Seine Wiederkehr wird
erwartet, aber zugleich auch auf undurchsichtige Weise befürchtet.
Marx spricht an anderen Stellen mit großer Hellsichtigkeit über
den Nationalismus, aber hier bleibt er sehr lakonisch. Er verzeichnet nur
den notwendigen Übergang zur endgültigen Verwandlung:
"Gespenst Nr. 10: 'Alles'." Sankt Max habe es geschafft, "'Alles'
in einen Spuk zu verwandeln". Da nun hört alles Zählen auf.
Und auch alles Erzählen. Ob Märchen, Fabel oder Schauerroman.
Und der numerologische Okkultismus, der sich das Ansehen von Aufklärung
gibt. Man muß zugeben, daß auf der Stelle (seance tenante) jedes
Zählen ein Ende hat, sobald alles von allem heimgesucht wird, sobald
"Alles" in allem ist, das heißt "in der Klasse Gespenster".
Man könnte hier alles zusammenwerfen, und Stirner versagt es sich nicht:
den Heiligen Geist, die Wahrheit, das Recht und "die gute Sache"
in allen ihren Formen (die gute Sache, die Stirner "noch immer nicht
vergessen kann", wie Marx als der immer hellsichtige Analytiker der
modernen Zeit ihm vorwirft, als wenn auch er, schon er, aus dem guten Gewissen
ein Metier und aus dem guten Recht eine Technik persönlicher Begünstigung
machte).
Der exemplarische Fehler Stirners - und dafür, für das Exempel,
soll er verurteilt werden - wäre das Laster der modernen Spekulation.
Die Spekulation spekuliert immer über ein spectrum (sur du spectre)
, will sagen über ein gespenstiges Gesehenes, sie spekuliert im
Spiegel dessen, was sie produziert, über das Spektakel oder die Vorstellung,
die sie sich gibt und sich zu sehen gibt. Sie glaubt an das, was sie zu
sehen glaubt: an Vorstellungen (représentations) : "Die
sämtlichen 'Gespenster', die wir Revue passieren ließen, waren
Vorstellungen." In diesem Sinn ist die Spekulation immer theoretisch
und theologisch.
Jacques Derrida: Marx' Gespenster, trans.
Susanne Lüdemann, Fischer Verlag 1995, S. 223-231
Compare
the English text.